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Wahlprogramme Wie die Parteien die Jobmaschine anschmeißen wollen

Kurz vor der Bundestagswahl steigt die Zahl der Arbeitslosen - doch Politiker versprechen Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle. SPIEGEL ONLINE zeigt, wie die Parteien die Probleme auf dem Arbeitsmarkt angehen wollen - und wie realistisch die Lösungen sind.
Mann vor Jobagentur: Noch verhindert die Kurzarbeit das Schlimmste

Mann vor Jobagentur: Noch verhindert die Kurzarbeit das Schlimmste

Foto: ddp

Hamburg - Der Herbst in Deutschland verspricht Spannung: Durch die Bundestagswahlen kommt eine neue Regierung an die Macht - in einer Zeit, in der die Finanzkrise voll auf den Arbeitsmarkt durchzuschlagen droht. Zwar ist die Zahl der Erwerbslosen im August nur leicht um 9000 auf nun rund 3,5 Millionen gestiegen. Doch vieles spricht dafür, dass nur die Kurzarbeit Schlimmeres verhindert hat.

Wie geht es auf dem Arbeitsmarkt weiter? Halten die Firmen ihre Kurzarbeiter aus Angst vor einem langfristigen Fachkräftemangel - oder gibt es im Winter den großen Knall? Steigt die Zahl der Menschen ohne Job tatsächlich auf mehr als vier Millionen? Und im kommenden Jahr auf mehr als fünf Millionen, wie von vielen Ökonomen prognostiziert? Oder greift die Erholung der Weltwirtschaft früh genug, um dramatische Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern?

Nichts wird die kommende Regierung so sehr beschäftigen wie die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Die Ausgangslage ist recht gut. Denn im vergangenen Aufschwung wurden einige Weichen gestellt: Mit den Regelungen zu Hartz IV wurde die Arbeitsmarktpolitik neu ausgerichtet und das Prinzip des Forderns und Förderns eingeführt. Die Leiharbeit wurde gelockert, der Niedriglohnsektor ausgeweitet. Und nicht zuletzt hat sich die Bundesagentur für Arbeit (BA) ein dickes Finanzpolster angelegt, mit dem sie die gegenwärtig mehr als eine Million Kurzarbeiter finanzieren kann.

Dennoch bleibt für die kommende Regierung eine Menge zu tun. Immer noch sind auf dem Arbeitsmarkt eine Reihe von Problemen zu bewältigen. Dazu zählt etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Erwerbslosigkeit unter Migranten. Und obwohl die Arbeitslosigkeit steigt, gehen den Betrieben zunehmend die Fachkräfte aus. Will die kommende Regierung dem entgehen, indem sie mehr Zuwanderer ins Land lässt? Oder sollen Ältere noch länger arbeiten als bis zum 67. Lebensjahr?

Und dann ist da noch der stark gewachsene Niedriglohnsektor - auch gefördert durch die Ausweitung der Leiharbeit. Lässt man es zu, dass Hunderttausende von Arbeitnehmern für nur wenige Euro pro Stunde arbeiten müssen und zusätzlich auf Geld vom Staat angewiesen sind?

Direkt nach der Bundestagswahl wird die nächste Regierung außerdem ein strukturelles Problem lösen müssen: Weil die Union im Bundestag im Frühjahr eine Neuordnung der Jobcenter blockiert hat, steht die Reform der Behörden noch aus. Das sieht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor. Entweder werden die Mischverwaltungen von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit, die für die Betreuung von Hartz-IV-Empfängern zuständig sind, aufgelöst - oder die Verfassung muss geändert werden.

Bleibt also die Frage, wie die Parteien auf die vielen Probleme reagieren. SPIEGEL ONLINE analysiert die Wahlprogramme der großen politischen Gruppen - und zeigt, wie realistisch sie sind.

Union: Mindesteinkommen statt Mindestlohn

Arbeitslose: Das Vermögen, das ein Hartz-IV-Empfänger trotz staatlicher Leistungen behalten darf, soll steigen (Schonvermögen). "Bedingung dabei ist, dass das Altersvorsorgevermögen erst mit Eintritt in den Ruhestand verfügbar ist", heißt es im Wahlprogramm. Zudem sollen Arbeitslose mehr Möglichkeiten haben, Geld hinzuzuverdienen.

Jobcenter: In diesem Punkt bleibt die Union vage, steht doch noch die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neuordnung der Jobcenter aus. Die Betreuung von Langzeitarbeitslosen soll "in enger Kooperation zwischen den Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit" erfolgen, schreibt die Union. Die Schwesterparteien bekennen sich aber auch zum Modell der Optionskommunen, die ohne Bundesagentur für Arbeit Hartz-IV-Empfänger bei der Vermittlung und Leistungszahlung betreuen.

Demografischer Wandel/Zuwanderung: Die Union will, dass mehr Frauen und Ältere arbeiten. Dies soll mit Hilfe von mehr "Bildungs- und Weiterbildungsanstrengungen" gewährleistet werden. Angesichts der alternden Gesellschaft sieht die Union viele Zukunftschancen im Dienstleistungsbereich, insbesondere im Gesundheitwesen. Gerade hier gelte: "Qualifizierung geht vor Zuwanderung", steht in dem Programm.

Leiharbeit: Dem Thema Leiharbeit widmet sich die Union nicht in ihrem Wahlprogramm.

Löhne: Die Union betont ihr Bekenntnis zur Tarifautonomie. Die Lohnfindung soll nach ihrem Willen nicht verstaatlicht werden, sondern Aufgabe der Tarifpartner bleiben. Nur wo keine Tarifbindung vorhanden ist, will die Union mit dem Mindestarbeitsbedingungsgesetz eingreifen. Das Verbot sittenwidriger Löhne soll gesetzlich klargestellt werden. Einen Mindestlohn lehnt die Union ab. Stattdessen plädiert sie für ein Mindesteinkommen. Wenn also der Lohn bei Einigen nicht zum Leben reicht, schießt der Staat ergänzende Leistungen hinzu. Zusätzlich wollen CDU und CSU die Lohnzusatzkosten, etwa die Arbeitslosenversicherung, niedrig halten. Mini-Jobs sollen erhalten bleiben.

SPD: 40 Prozent Frauen in Aufsichtsgremien

Arbeitslose: Das klar formulierte Ziel der SPD lautet Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenversicherung soll zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickelt werden, die Erwerbslosigkeit nicht nur schnell beendet, sondern dabei hilft, sie zu vermeiden. Unter anderem heißt das mehr Weiterbildung für Arbeitslose. Die Höhe der Arbeitslosengeldleistungen soll bedarfsgerecht angepasst werden. Das für die private Altersvorsorge bestimmte Schonvermögen der Hartz-IV-Empfänger soll zudem keine Maximalhöhe mehr haben.

Jobcenter: "Wir wollen, dass Deutschland die weltweit beste Arbeitsvermittlung hat", steht im Programm der SPD. Dafür soll insbesondere die Zahl der Vermittler in den Agenturen erhöht werden. Mit Blick auf die anstehende Jobcenter-Reform macht die SPD keine klaren Vorgaben. Allerdings erklärt sie, dass sich die Zusammenarbeit "von Vermittlungssachverstand und örtlichem Wissen bewährt hat", also von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen. Ziel sei es, schnellstmöglich eine verfassungskonforme Nachfolgeregelung für die Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen zu schaffen.

Demografischer Wandel/Zuwanderung: Die SPD strebt - auch angesichts des demografischen Wandels - eine Berufsausbildung für alle an. Das Recht für alle, den Schulabschluss jederzeit gefördert nachholen zu können, soll durchgesetzt werden. Auch der Ausbildungspakt soll weiterentwickelt werden. "Wir streben an, die Ausbildungsplatz-Verpflichtungen der Wirtschaft zu erhöhen", heißt es. Zugleich soll der Arbeitsmarkt für ausländische Akademiker und Absolventen deutscher Auslandschulen weiter offengehalten werden. Die Qualifikation von Migranten soll verbessert werden. Für Aufsichtsräte soll eine Frauenquote von 40 Prozent kommen.

Leiharbeit: Die SPD will die Rechte von Leiharbeitnehmern stärken. Zum einen soll eine Lohnuntergrenze für die zeitlich befristet Beschäftigten eingeführt werden. Zum anderen soll nach einer "angemessenen" Einarbeitungszeit für die Arbeit in demselben Unternehmen der Grundsatz "Gleicher Lohn für die gleiche Arbeit" uneingeschränkt gelten. Die konzerninterne Verleihung soll begrenzt werden.

Löhne: Die SPD will einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Eine Kommission soll ihn durchsetzen. Als Orientierungsmarke gelten 7,50 Euro pro Stunde. Es soll einen Steuergutschein geben, der vor allem Beziehern niedriger Einkommen zugutekommt.

Bündnis 90/Die Grünen: Eine Million neue Jobs

Arbeitslose: Mit massiven Investitionen in ökologische Technologien, in das Bildungswesen und in das Sozialwesen sollen eine Million neuer Jobs entstehen. Der Hartz-IV-Regelsatz soll auf 420 Euro steigen.

Jobcenter: Die Grünen wollen die Jobcenter in ihrer jetzigen Form belassen. Die Zusammenarbeit von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen kann nach Ansicht der Grünen fortgeführt werden, vorausgesetzt die Arbeitsform wird verfassungsrechtlich abgesichert.

Demografischer Wandel/Zuwanderung: Die Gesundheitswirtschaft inklusive des Pflegesektors soll angesichts des demografischen Wandels gefördert werden. Die Grünen wollen, dass die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU sofort beendet wird.

Leiharbeit: Die Grünen wollen die Bedingungen für Zeitarbeitnehmer verbessern. Sie sollen vom ersten Tag an wie die Stammbelegschaft bezahlt werden. Die gesetzliche Ausnahmeregelung, per Tarifvertrag von den Arbeits- und Lohnbedingungen des Entleihbetriebs abzuweichen, soll gestrichen werden.

Löhne: Die Grünen fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Mini- und Midi-Jobs sollen wegfallen. Für alle Einkommen bis 2000 Euro sollen die Beitragssätze zur Sozialversicherung erst langsam und stufenlos steigen - und Geringverdiener damit entlastet werden.

FDP: Bundesagentur für Arbeit abschaffen

Arbeitslose: Ein höheres Schonvermögen für Arbeitslose soll anerkannt werden, um eine private Altersvorsorge auch bei sozial Schwachen zu gewährleisten.

Jobcenter: Die Liberalen wollen die Bundesagentur für Arbeit auflösen, um ihre Aufgaben in einem Drei-Säulen-Modell neu zu ordnen: in einer Versicherungsagentur, einer kleinen Arbeitsmarktagentur für überregionale Aufgaben und in viele kommunale Jobcenter. Diese sollen dann auch die Betreuung der Langzeitarbeitslosen übernehmen.

Demografischer Wandel/Zuwanderung: Die Zuverdienstgrenzen neben dem Rentenbezug sollen abgeschafft werden, damit mehr Ältere in Arbeit bleiben. Die Zuwanderung soll mit Hilfe eines Punktesystems verstärkt werden.

Leiharbeit: Dem Thema Leiharbeit widmet sich die FDP nicht in ihrem Wahlprogramm.

Löhne: Die FDP ist gegen die Einführung von Mindestlöhnen. Reicht der Verdienst für den Lebensunterhalt nicht, soll ein Bürgergeld das Mindesteinkommen sichern. Daran gekoppelt sind Sanktionen für Arbeitslose, die Jobs verweigern.

Linke: Hartz IV, Ein-Euro-Jobs und Rente mit 67 abschaffen

Arbeitslose: Mit Hilfe eines Investitionsprogramms sollen eine Million Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst geschaffen werden, dazu sollen durch öffentlich geförderte Beschäftigung zusätzlich Hunderttausende neue Jobs entstehen. Der Hartz-IV-Regelsatz soll zunächst auf 500 Euro steigen und langfristig abgeschafft werden.

Jobcenter: Auf die Reform der Jobcenter gehen die Linken in ihrem Wahlprogramm nicht ein.

Demografischer Wandel/Zuwanderung: Die Rente ab 67 soll abgeschafft werden.

Leiharbeit: Leiharbeit soll strikt begrenzt und zurückgedrängt werden. Die Ausleihdauer darf sechs Monate nicht überschreiten.

Löhne: Die Linke fordert einen Mindestlohn nach französischem Vorbild, der in der kommenden Wahlperiode auf zehn Euro erhöht wird und Jahr für Jahr zumindest in dem Maße wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen. Ein-Euro-Jobs sollen in tariflich bezahlte Stellen umgewandelt werden.