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Vorwürfe gegen "Science" und "Nature" "Aufgebauscht, bis es falsch wird"

Forscher müssen Studien in renommierten Fachblättern publizieren, wenn sie Karriere machen wollen. Medizin-Nobelpreisträger Schekman hält das für ein Problem - die Magazine schaden der Wissenschaft, sagt er.
Fachmagazine "Lancet", "Science", "Nature"

Fachmagazine "Lancet", "Science", "Nature"

Foto: SPIEGEL ONLINE
Zur Person
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Randy Schekman hat 2013 den Medizin-Nobelpreis bekommen . Der 68-jährige Zellbiologe forscht an der University of California in Berkeley und ist Chefredakteur des 2012 gegründeten Wissenschaftsjournals "eLife" . Darin veröffentlichte Artikel sind frei im Internet zugänglich (Open Access). Schekman ist ein ausgewiesener Kritiker der namhaften Fachblätter "Nature", "Science" und "Cell", die der Wissenschaft seiner Meinung nach schaden.

SPIEGEL ONLINE: Fast jede Woche liest man von Studien aus "Nature" und "Science". Wie kommen Sie darauf, dass diese Fachmagazine der Wissenschaft schaden?

Schekman: Diese Magazine suchen Studien, die möglichst viel Aufmerksamkeit erregen. Das ist logisch, denn sie wollen Hefte verkaufen. Aber es verzerrt die wissenschaftliche Arbeit. Junge Forscher glauben, sie müssten auf Gebieten arbeiten, auf denen sie eine Sensation kreieren können. Zum Teil werden Themen aufgebauscht, bis es falsch wird.

SPIEGEL ONLINE: Haben wir wirklich ein Qualitätsproblem in der Wissenschaft?

Schekman: Ja. Der Druck, in renommierten Magazinen veröffentlichen zu müssen, führt auch dazu, dass Wissenschaftler betrügen. Spektakuläre Ergebnisse erhöhen die Chancen, dass eine Studie zur Veröffentlichung angenommen wird. Dafür gibt es viele Beispiele. Denken sie an die berüchtigten "Nature"-Studien, laut denen Zitronensäure Stammzellen verjüngen soll. Oder die Andrew-Wakefield-Studie, die 1998 in "Lancet" erschienen war und behauptete, eine Impfung könne Autismus auslösen. Das war extrem schädlich.

SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt den Peer Review, die Prüfung von Fachartikeln vor der Veröffentlichung durch Kollegen. Der sollte so etwas doch verhindern, oder?

Schekman: Bei der Wakefield-Studie hat die Begutachtung zwar funktioniert, aber nichts bewirkt. Ich habe von einem damaligen "Lancet"-Mitarbeiter erfahren, dass das Paper von allen Gutachtern kritisiert worden war, die am Peer Review beteiligt waren. Auch die Redakteure von "Lancet" kritisierten Wakefields Arbeit. Aber aus der Chefetage hieß es, das ist eine sensationelle Geschichte, wir sollten sie veröffentlichen. Später stellte sich heraus: Das Ganze war Betrug, Wakefield verlor seine Zulassung. Schauen Sie sich an, welchen Schaden dieses aus Sensationslust veröffentlichte Paper angerichtet hat. Bis heute glauben Leute, Impfungen könnten Autismus auslösen.

SPIEGEL ONLINE: Sind einzelne Fachrichtungen besonders betroffen?

Schekman: Ja, die biomedizinische Forschung. Wir können viele veröffentlichte Studien nicht reproduzieren, also die Ergebnisse in einem neuen Experiment wiederholen. Ich kenne interne Untersuchungen des Pharmakonzerns Amgen. Die Kollegen stellten fest, dass sie einen Großteil der externen Studien, auf denen die Entwicklung ihrer Krebs-Medikamente beruhte, nicht reproduzieren konnten.

SPIEGEL ONLINE: Und was haben die Forscher dann gemacht?

Schekman: Sie haben in einem "Nature"-Kommentar  bessere Standards gefordert. Und sie haben den Autor einer nicht reproduzierbaren Studie auf einem Krebsforscher-Kongress mit dem Problem konfrontiert. Sie sagten: "Wir haben Ihr Experiment 50-mal versucht zu wiederholen, es hat nie funktioniert." Der angesprochene Forscher antwortete: "Wir haben es sechsmal probiert - und es hat einmal geklappt." Dann habe man die Studie publiziert. Das ist Betrug.

SPIEGEL ONLINE: Es gibt ja viele Fachzeitschriften. Regelt das nicht letztlich der Markt? Weil Forscher Magazine meiden, die Fake-Studien publiziert haben?

Nobelpreisträger Schekman im Jahr 2013

Nobelpreisträger Schekman im Jahr 2013

Foto: Josh Edelson/ AFP

Schekman: Ich glaube an den freien Markt. Ich bin Kapitalist. Wenn kommerzielle Verlage tatsächlich das bessere Produkt machen, habe ich nichts dagegen. Aber ich glaube, dass kommerzielle Interessen hier der Wissenschaft schaden. Ich habe in meiner Karriere die Erfahrung gemacht, dass die Magazine am besten waren, die von aktiven Wissenschaftlern geleitet wurden. Statt des Profits für die Shareholder steht dann nämlich der Nutzen für die Wissenschaft im Vordergrund.

SPIEGEL ONLINE: Im Kern geht es ja um die Frage, was gute Wissenschaft ist. Da gibt es auch unter Wissenschaftlern verschiedene Meinungen. Wer kann das dann überhaupt entscheiden?

Schekman: Letztendlich ist es immer eine subjektive Einschätzung. Ich möchte aber, dass meine Arbeit ausschließlich von anderen Forschern bewertet wird. Und nicht von jemandem, der schon seit Jahren kein Labor mehr von innen gesehen hat.

SPIEGEL ONLINE: Braucht die Wissenschaft nicht die Hilfe von Profis, die wissen, wie man ein Thema gut verkauft?

Schekman: Es stört mich nicht, dass "Nature" und "Science" ihre Artikel sehr gut vermarkten. Das ist kein Problem. Aber wenn die PR-Leute auch darüber entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht, hat die Wissenschaft ein Problem.

SPIEGEL ONLINE: Im Leben sind oft die besonders erfolgreich, die etwas lauter sind, die Glamour verbreiten, sich besonders gut präsentieren können. Warum sollte das ausgerechnet in der Wissenschaft anders sein?

Schekman: Es ist da genauso.

SPIEGEL ONLINE: Aber Sie versuchen doch, dagegen anzukämpfen.

Schekman: Klar, es gibt Leute, die in der Selbstdarstellung besonders talentiert sind. Und ich gebe zu: Ich habe auch viel Zeit damit verbracht, meine Arbeit nach außen gut darzustellen. Aber das darf keine unseriöse Arbeit kaschieren. Wissenschaftliche Arbeit muss Substanz haben, andere inspirieren, überprüfbar sein.

SPIEGEL ONLINE: Trotz allem gibt es auch stille Wissenschaftler, die sehr erfolgreich sind...

Schekman: Natürlich, nur ein Beispiel: Im Jahr 2016 ging der Medizin-Nobelpreis an den Japaner Yoshinori Ohsumi. Er ist bescheiden und zurückhaltend. Sein Vortragsstil reißt die Leute nicht vom Hocker. Aber seine Arbeiten sind sehr wichtig. Er hat Abbau- und Recyclingprozesse in Zellen entdeckt. Seine Entdeckung wurde in zwei kleinen Fachblättern veröffentlicht, "Nature" und "Science" hätten die Artikel nicht mal zum Review angenommen, weil das Thema kaum Aufmerksamkeit verspricht. Das erste Paper erschien in "Cell Biology", das zweite in "FEBS Letters", ein kaum bekanntes Magazin.

SPIEGEL ONLINE: Aber Ohsumi hat trotzdem den Nobelpreis bekommen. Spricht das nicht dafür, dass die Wissenschaft trotz allem gut funktioniert?

Mediziner Ohsumi

Mediziner Ohsumi

Foto: AP/ Kyodo

Schekman: Er hat den Nobelpreis bekommen, weil seine Artikel extrem wichtig waren. Es war solide Wissenschaft. Das hat die Jury erkannt. Wenn man sich anschaut, wie oft diese Artikel in den ersten paar Jahren zitiert wurden, kommt man auf niedrige Zahlen. Sie hatten keinen Einfluss auf den sogenannten Impact Factor, den ich ohnehin für untauglich halte, Qualität zu messen.

SPIEGEL ONLINE: Der Impact Factor erfasst, wie häufig Artikel eines Magazins zitiert werden - und die Magazine werben damit. Macht er wissenschaftliche Bedeutung nicht damit messbar?

Schekman: Der Impact Factor ist eine komplett falsche Messmethode. Aus mehreren Gründen. Zuerst: Die Zahl wird über einen Zeitraum von nur zwei Jahren ermittelt. Zwei Jahre - das ist ein in der Wissenschaft lächerlich kurzer Zeitraum. Deshalb wollen die Magazine besonders schillernde Artikel veröffentlichen. Zweitens: Die Zahl ist ein ganz normaler Mittelwert über alle Zitierungen sämtlicher Artikel eines Fachblatts. Sortiert man die Artikel nach der Anzahl der Zitate, erhält man einige wenige mit besonders vielen und sehr viele mit sehr wenigen Zitaten.

SPIEGEL ONLINE: Aber das ist doch bei allen Magazinen so. Wo ist das Problem?

Schekman: Ein Mittelwert wird durch Ausreißer, also wenige Artikel mit sehr vielen Zitierungen, nach oben gedrückt. Und diese Ausreißer sind bei den namhaften Magazinen besonders häufig. Ich habe Thomson Reuters, die den Impact Factor ermittelt, vorgeschlagen, statt des Durchschnitts den Median zu berechnen. Das wäre eine viel genauere Beschreibung.

Der Mittelwert der Zahlen 1, 2, 2, 5, 20 ist (1+2+2+5+20)/5 = 6. Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte steht, sortiert man die Zahlen der Größe nach. In unserem Beispiel ist das die Zahl 2. Ändert sich der größte Wert der fünf Zahlen, erhöht sich der Mittelwert - aber der Median bleibt gleich.

SPIEGEL ONLINE: Und wie war die Reaktion?

Schekman: Thomson Reuters will das nicht ändern. Mir haben sie gesagt, dass sie das mit dem Median ausprobiert hätten. Aber dabei kam heraus, dass alle Journals dann auf einmal ziemlich nahe beieinanderlagen. Ganz anders als beim Mittelwert, wo es deutlich größere Unterschiede zwischen den Magazinen gibt. Die Leute möchten lieber, dass größere Differenzen da sind.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Spitzenreiter bei zurückgezogenen Studien  ist das "New England Journal of Medicine" (NEJM).

Immerhin sehe ich zumindest bei "Nature" ein gewisses Einsehen, der Impact Factor wird nicht mehr so offensiv im Marketing verwendet. Aber Regierungsbeamte, Universitätschefs - sie alle wollen Zahlen, wenn sie die Arbeit von Wissenschaftlern bewerten. Und deshalb zählt ein "Nature"-Paper so viel.

SPIEGEL ONLINE: Der Impact Factor war eine wichtige Inspiration für die Google-Gründer. Der Page-Rank einer Webseite fußt auf der Anzahl der Links, die auf diese Seite zeigen. Zumindest bei Google scheint die Methode ja ganz gut zu funktionieren….

Schekman: Ja, aber der Algorithmus der Suchmaschine ist auch viel ausgefeilter und berücksichtigt auch eine Vielzahl weiterer Faktoren. Würde Google den Impact Factor von Magazinen berechnen, würde ich diesem Ranking viel eher trauen als dem aktuellen von Thomson Reuters.

SPIEGEL ONLINE: Was schlagen Sie als Alternative vor, um die Arbeit von Wissenschaftlern zu bewerten?

Schekman: Über jeden Forscher sollte es einen kurzen, einseitigen Bericht geben. Woran hat er gearbeitet, was hat er entdeckt? Das könnten auch Gutachter schnell erfassen und damit besser einschätzen, was jemand geleistet hat.

SPIEGEL ONLINE: Und wer soll diese Darstellungen schreiben?

Schekman: Ich denke, jeder Forscher kann das selbst tun. Sollte dabei jemand schummeln, wird das irgendwann auffallen. Und natürlich könnten Kollegen prüfen, ob die Angaben stimmen. Ein solches Verfahren wäre auf jeden Fall sinnvoller als aufzulisten, was in "Science", "Lancet" und "Cell" publiziert wurde.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass Wissenschaftler eines Tages aufhören, sensationell klingende Studien zu verfassen und nach Impact Faktoren und renommierten Magazinen zu schielen?

Schekman: Wir müssen den Umgang mit wissenschaftlichen Publikationen ändern. Das erzähle ich auch überall, wenn ich Vorträge halte oder befragt werde. Ich versuche, vor allem die Geldgeber zu überzeugen, die über die Forschungsförderung und Stipendien entscheiden. Wenn sie verstehen, dass sie nach anderen Kriterien entscheiden müssen, dann wird sich viel ändern. Da bin ich ganz optimistisch.