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Tourette-Syndrom: Hirnschrittmacher reduzieren Tics

Foto: AP/ Inserm/ CNRS-INRIA

Tourette-Syndrom Hirnschrittmacher bremsen Tics

Sie schreien, fluchen, schneiden Grimassen und verletzen sich selbst: Das Tourette-Syndrom entreißt Menschen die Selbstkontrolle, völlig unvermittelt und oft Hunderte Male am Tag. Jetzt haben Forscher nachgewiesen, dass Elektroden im Kopf die Symptome lindern können.
Von Cinthia Briseño

Das Tourette-Syndrom kann den Betroffenen das Leben zur Hölle machen - vor allem, wenn Mitmenschen nicht wissen, wie sie mit den krankheitsbedingten Ausbrüchen - den sogenannten Tics - umgehen sollen. Bei schweren Formen motorischer oder vokaler Tics werden die Patienten meist mit Neuroleptika behandelt. Sie haben allerdings oft Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme und Müdigkeit, manchmal sind sie auch wirkungslos.

Seit knapp 15 Jahren setzen Mediziner auch auf Hirnschrittmacher. Ursprünglich waren sie für Parkinson-Patienten gedacht, um das unwillkürliche Zittern zu unterdrücken. Doch Neurologen beobachten immer wieder, dass Hirnschrittmacher auch bei Zwangsstörungen und dem Tourette-Syndrom helfen können. Im Fachmagazin "Neurology"  haben jetzt Forscher um Andrea Cavanna von der University of Birmingham eine Langzeitstudie dazu veröffentlicht. Sie implantierten 18 Tourette-Patienten Hirnschrittmacher und begleiteten 15 davon anschließend über einen Zeitraum von zwei Jahren. Das Ergebnis: Die 15 Versuchsteilnehmer hatten auch zwei Jahre nach dem Einsetzen der Elektrode nur halb so viele Tics wie zuvor und litten deutlich weniger an Depressionen und Angststörungen.

Elektrische Impulse blockieren überaktive Nervenzellen

"Das ist ein sehr gutes Ergebnis", sagt Volker Sturm im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Neurochirurg arbeitet seit rund zehn Jahren mit Gehirnschrittmachern zur Heilung von Zwangsstörungen und Parkinson. Tiefenhirnstimulation heißt die Methode, bei der eine wenige Millimeter große Elektrode im Gehirn ein kleines Areal mit Stromstößen reizt. Dabei blockieren die elektrischen Impulse die überaktiven neuronalen Schaltkreise. Sturm, Chef der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie in Köln, hat in den letzten fünf bis sechs Jahren knapp 15 Tourette-Patienten Hirnschrittmacher implantiert und damit "exzellente Erfolge" erzielt, wie er selbst sagt.

"Es kommt aber stark darauf an, wie schwer das Tourette-Syndrom ausgeprägt ist", sagt Sturm. Und es hänge auch davon ab, in welches Gehirnareal die Elektrode eingepflanzt werde: Den Nucleus accumbens, einen wichtigen Kern des zerebralen Belohnungssystems, stimulieren die Forscher, wenn die Zwangshandlungen der Patienten im Vordergrund stehen. In den Thalamus, einem Bereich des Zwischenhirns, implantieren sie die Elektrode, wenn der Patient vor allem unter motorischen Störungen leidet.

"In den meisten Fällen haben wir mit Hilfe der Tiefenstimulation die Tics sehr gut in den Griff bekommen. Sie sind fast vollständig verschwunden", sagt Sturm. "Vor allem aber können wir die Lebensqualität der Patienten deutlich verbessern, weil sie nicht mehr unter den psychischen Folgen der Krankheit leiden müssen."

"Noch stecken wir in einer experimentellen Phase"

Auch die Wissenschaftler aus Birmingham analysierten die Häufigkeit psychischer Beschwerden wie Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), unter denen Tourette-Patienten oft leiden. Nach der Implantation der Hirnschrittmacher, die bei den 15 Versuchsteilnehmern im Thalamus vorgenommen wurde, verringerte sich die Zahl der Tics durch die Behandlung um 52 Prozent; die psychischen Probleme nahmen um 26 bis 32 Prozent ab. "Das ist sehr ermutigend", sagt Cavanna. Auch der Kölner Neurochirurg Sturm ist optimistisch, dass die Tiefenhirnstimulation noch vielen Menschen helfen wird.

"Allerdings müssen wir ganz klar sagen, dass wir noch in einer experimentellen Phase stecken", sagt Sturm SPIEGEL ONLINE. Zwar seien die Risiken des minimalinvasiven Eingriffs sehr gering, doch handle es sich um ein recht neues Verfahren, das noch nicht vollständig abgesichert sei und vom ethischen Komitee noch geprüft werden müsse. Gefährlich sei die mehrstündige Operation jedoch nicht. Mehr als 1000 Patienten wurde an der Kölner Klinik bisher ein Hirnschrittmacher implantiert. Das Blutungsrisiko, das Sturm als größte Gefahr sieht, liege bei 0,4 Prozent. Bei etwa zwei bis vier Prozent der Operationen seien Infektionen aufgetreten. Dabei sei aber noch nie ein Patient zu Schaden gekommen. Und auch nach langjähriger Stimulation der Hirnareale mit elektrischen Impulsen habe man keinerlei Zellschädigungen der stimulierten Regionen feststellen können.

Bevor einem Tourette-Patienten jedoch ein solcher Hirnschrittmacher implantiert werden kann, müssen mehrere spezialisierte Psychiater den Patienten gründlich untersuchen. Bisher wird keine Elektrode eingesetzt, wenn Medikamente wirken. "Erst wenn alle anderen Methoden ausgeschöpft sind, versuchen wir es mit der Operation", sagt Sturm. Dazu gehörten neben den medikamentösen Therapie-Optimierungsverfahren auch verhaltenstherapeutische Maßnahmen.

Störungen im Dopaminstoffwechsel

Die Ursachen für das Tourette-Syndrom kennen die Wissenschaftler bisher noch nicht genau. Bei einigen Patienten zeigen sich allerdings Auffälligkeiten in bestimmten Gehirnbereichen. Zudem scheinen einige Stoffwechselvorgänge im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Betroffen davon ist vor allem die Produktion von Neurotransmittern, also Botenstoffen, die im Gehirn für die Informationsweiterleitung wichtig sind - etwa Dopamin oder Serotonin.

Während Grundlagenforscher weiterhin versuchen, die Mechanismen im Gehirn aufzuklären, arbeitet die Medizintechnik daran, die Qualität der Hirnschrittmacher zu verbessern. Bisher sind die meisten Implantate batteriebetrieben. Während die Elektrode selbst im Gehirn sitzt, wird dem Patienten der Generator, also der eigentliche Schrittmacher, unter die Haut auf den Brustmuskel implantiert und über Kabel, die ebenfalls unter der Haut verlaufen, mit der Elektrode verbunden.

Gehen die Batterien zu Neige, müssen sie ausgetauscht und der Schrittmacher wieder unter die Brusthaut gesetzt werden. Etwa 20 Minuten dauere der Eingriff, sagt Sturm, bei örtlicher Betäubung. Allerdings müsse man bei Tourette-Patienten die Batterien etwa alle ein bis zwei Jahre austauschen. Denn in diesem Falle seien höhere Spannungen notwendig. Künftig wollen die Mediziner mit Schrittmachern arbeiten, die von außen per Induktion wieder aufgeladen werden können. Das würde den Patienten den Routineeingriff ersparen.