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Zum Tod eines Supermodels Für die 90er war sie zu üppig, zu groß, zu schlicht – und dann machte ein Bild Tatjana Patitz zur Ikone

Tatjana Patitz im Juli 1990 in einer NDR Talk-Show
Tatjana Patitz im Juli 1990 in einer NDR Talk-Show
© teutopress / Imago Images
Eigentlich passte die Hamburgerin Tatjana Patitz nicht in die Modelbranche. Zumindest für den Geschmack der 1980er Jahre. Doch einer wusste: "Diese Frau hat was."

Ihren letzten großen Auftritt in Deutschland hatte Tatjana Patitz Anfang Dezember 2017, keine sechs Jahre ist das her. Da lief sie für eine Chanel-Kollektion von Karl Lagerfeld in ihrer Heimatstadt Hamburg quer durch die Elbphilharmonie, zwei Runden lang auf diesem unterkühlten hanseatischen Laufsteg. Ihre letzte Produktion mit dem stern hatte sie im Jahr zuvor gehabt, eine Modeproduktion mit Peter Lindbergh in Downtown Los Angeles.

Punkt neun Uhr an einem Sonntagmorgen im Juni 2016 war sie mit Helena Christensen, Amber Valetta und Mila Jovovich auf einem Hoteldach eingetroffen. Ihren Sohn Jonah hatte sie aus Santa Barbara mitgebracht. Der 12-jährige war entsetzt darüber, dass kein anderer Junge seines Alters mit dabei war, nur kleinere Kinder, lauter Mädchen noch dazu. Den Arm über seine Schulter gelegt führte Patitz ihn über das weitläufige Dach und erzählte davon, dass fast zwanzig Jahre zuvor hier ein berühmter Film von einem deutschen Regisseur gedreht worden war: "The Million-Dollar-Hotel", eine Geschichte des deutschen Regisseurs Wim Wenders über die Kraft der bedingungslosen Liebe.

"Studiere lieber, würde ich meiner Tochter sagen"

Patitz wirkte an diesem Tag ein wenig verloren. Mit ihren Kolleginnen sprach sie kaum, es gab da wohl keine glorreichen Anekdoten. Sie erzählte davon, dass sie durchaus Heimweh nach Deutschland verspüre: "Es gibt dort viel Wald, aber die Winter sind so lang. Und wir sind in Kalifornien verwurzelt."

Sie war gerade umgezogen und hatte ihre Ranch in der Nähe von Malibu verkauft. Die sei "zwar wunderschön", aber "seeeeehr abgelegen" gewesen, gut für "Pferde und Hunde", aber nicht, um dort mit ihrem Sohn allein zu leben. Außerdem sei Malibu selbst "Schickimicki" geworden, sei "nur noch Ferrari und Celebrity-Bullshit, das ist wie Rodeo Drive am Meer". Sie wollte nicht, dass "Jonah unter Kindern groß wird, die mit Zwölf schon ihre schwarzen Kreditkarten zücken und über ihre Privatjets sprechen."

Ihre neue Heimat war Santa Barbara. Ihr Sohn, den sie alleine großzog, stammte aus der Ehe mit dem amerikanischen Geschäftsmann Jason Johnson, von dem sie sich 2009 nach sechs Jahren hatte scheiden lassen. "Wie hören nichts von ihm. Das tut ihm natürlich weh", sagte sie. Und war durchaus froh darüber, einen Sohn zu haben: "Als junges Mädchen würde ich nie wieder im Model-Business anfangen. Studiere lieber, würde ich meiner Tochter sagen. Die Mode ist ein brutales Metier geworden." 

Supermodel Tatjana Patitz stirbt mit nur 56 Jahren

Die Geburtsstunde des Supermodels

Während Peter Lindbergh in der Mittagspause auf dem Hoteldach in seinem hingeschluderten Englisch von seinen sieben Apple-Computern erzählte, und davon, dass er in drei Monaten 18 Kilo abgenommen hatte ("Kein Rührei und kein Obst am Abend, da baut der Körper den Zucker nicht mehr ab."). Ja, und auch davon, dass er seinen Sohn unlängst in einem Puff in das Männerleben eingeführt hatte, hörte Tatjana Patitz weg und lächelte trotzdem.

Sie hatte, wie die anderen Frauen hier auch, ihren Zenit als Model überschritten und war nun, mit fünfzig Jahren, angewiesen auf die Gnade berühmter Fotografen. Lindbergh wusste genau, wer und was gerade angesagt war: Patitz hatte gerade ein Comeback erlebt, sie war auf den Covern der französischen "Marie Claire" und der italienischen "Vogue" zu sehen.

Patitz war Peter Brodbeck, wie Lindbergh mit bürgerlichem Namen hieß, durchaus zu Dank verpflichtet: 1988 hatte er eine Handvoll eher unbekannter Mädchen in weißen T-Shirts am Strand fotografiert, ohne Make-up. Das Gruppenbild mit Naomi Campbell, Linda Evangelista, Cindy Crawford, Christy Turlington und Patitz wurde von der "Vogue" zum Bild der Neunzigerjahre gekürt, es gilt bis heute als Geburtsstunde der Supermodels.

Patitz, die damals in Paris lebte und sich mit einer Handvoll schlecht bezahlter Jobs über Wasser hielt, hatte schon ans Aufhören gedacht. Die Hamburgerin war für den damaligen Geschmack zu üppig, zu groß und schlicht nicht katalog-schön. Lindbergh aber sah sie an und wusste: "Die Frau hat was." Ein Jahr später verdiente sie ihre erste Million Dollar. Von einem Tag zum anderen stürzten sich Designer und Kosmetikhäuser auf diese Frauen und stattete sie mit Exklusivverträgen aus. "Ihre Individualität wurde ihnen weggekauft", sollte Lindbergh später im Rückblick sagen.

Tatjana Patitz, die Romantische

Während des Mode-Shootings in Los Angeles warf sich keines der legendären Models in Pose. Sie alle agierten mit sparsamen Bewegungen, sie alle wussten, was Lindbergh von ihnen wollte, so wie ein alter Ehemann, dessen Wünsche man nach Jahrzehnten kennt. Als der stern Lindbergh einmal fragte, mit welchem seiner Models er gerne Sex gehabt hätte, antwortete er: "Vielleicht Tatjana Patitz, weil sie die Romantischste ist." Daraus wurde nichts.

Ja, romantisch sah sie immer aus, sie hatte ein Gesicht wie aus einem traurigen Märchen. Mit den Jahren aber wurde es immer melancholischer. Auch an diesem Tag auf dem Hoteldach sah sie nicht glücklich aus, nicht unbeschwert. Der Weg zur Arbeit war nicht weit gewesen. Sie lebte in Malibu, fern von jener Welt, auf die man an diesem frühen Sonntagmorgen herabblickte: auf Straßen, in denen nicht nur Hunderte von Obdachlosen übernachtet hatten und jetzt ihre Schlafsäcke zusammenrollten oder Kartons verstauten.

Um die Mittagszeit drang plötzlich Lärm bis aufs Dach herauf: Der Linksdemokrat Bernie Sanders beackerte das Wahlvolk an diesem Tag bis hin zum fernen Santa Monica Pier. Natürlich war auch Patitz auf seiner Seite, doch die Rufe seiner Anhänger – "That’s our next president!” – sollten sich nicht erfüllen. Donald Trump war in diesen Tagen noch ein dummer, chancenloser Clown gewesen.

Patitz war die erste, die sich mit ihrem Sohn auf den Weg nach Hause machte. Anderthalb Jahre später kehrte sie für Lagerfelds Chanel-Show nach Deutschland zurück.

cl

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