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Anatomie eines Gefühls Faszination Ekel – über die bittersüße Lust am Widerlichen

Gruppe junger Menschen zeigen vor dem Fernseher angeekelte Gesichter
Manchmal sind Videos, Filme oder Bilder so abartig, dass man eigentlich nicht hinschauen möchte, sich der Faszination aber gleichzeitig nicht entziehen kann
© piola666 / Getty Images
Wenn im Dschungelcamp das Würgen beginnt, weil mal wieder Kotzfrucht oder Schweinehirn aufgetischt werden, schaut Fernsehdeutschland gebannt zu. Warum gucken wir uns freiwillig etwas an, wovon uns schlecht wird? Und wieso ekeln wir uns überhaupt? Eine Spurensuche.  

Als die Mitarbeiterin die tote Ratte zerschnitt, verließen manche das Kino. Noch Jahre später sprachen mich Menschen auf diese Szene an. Die Frau war Besitzerin eines Reptilienzoos und fütterte mit der Ratte ihre Schlangen. Sie war eine Protagonistin in meinem Film "Ekel", der die Grenze des Zeigbaren auslotete, noch bevor Ekel im Reality-TV zum Phänomen wurde. Der Film war für mich grundlegend. All meine Filme danach beschäftigten sich mit inneren oder äußeren Grenzüberschreitungen, also mit dem, was auch das Gefühl des Ekels so abstoßend und gleichzeitig faszinierend macht: Wenn wir uns ekeln, übertreten wir eine Grenze. Wir werden aus unserer Komfortzone gerissen.

Christa Pfafferott
Christa Pfafferott arbeitet als Autorin und Regisseurin. Ihr Film "Ekel" gewann Kurzfilmpreise, ihr Film "Andere Welt" (80 Min.) über Pflegerinnen und Patientinnen in einer Forensischen Psychiatrie ist aktuell auf Netflix zu sehen. 
© privat

Ekel ist auch ein Schutzmechanismus

Die Frage ist jedoch: Warum schauen wir anderen Menschen zu, die ihrem Ekel ausgesetzt sind und betrachten Ekliges in Film, TV, Büchern, im Internet? Wenn der Ekel solch ein Unbehagen in uns auslöst, was macht ihn auch lustvoll? Warum sehen wir gleichzeitig weg und doch wieder hin? 

Ekel ist eine mächtige menschliche Grundemotion, die über alle Sinne ausgelöst wird. Ein universales Empfinden, das vermutlich im sogenannten Mandelkern im Gehirn entsteht, wo Gefühle und Triebe verarbeitet werden. Menschen, die sich ekeln, sehen dabei überall auf der Welt gleich aus. Wir rümpfen die Nase, kneifen den Mund zusammen oder strecken die Zunge heraus, alles wehrt sich. Der Ekel erfüllt den Körper unmittelbar und sinnlich, wir können ihn nicht verbergen. Er provoziert eine direkte Reaktion, von Schaudern, Würgen, Herzrasen, Gänsehaut, Übelkeit bis hin zu Erbrechen: Iiih. Bäh. Igitt.

Normalerweise beabsichtigen wir den Ekel nicht. Er "geschieht" uns. Ekel ist ein wichtiger Schutz, um Krankheiten vorzubeugen. So ist als eine Art Basisekel fast allen Menschen gemeinsam, dass wir uns vor verdorbenen Speisen ekeln, vor Exkrementen und vor Leichen. Meist wird auch die Konsistenz von etwas Schwammigem, Schmierigem, Klebrigem, Verschimmeltem als eklig empfunden. Doch Ekel ist vor allem anerzogen. Babys und Kleinkinder ekeln sich nicht, fassen noch spielerisch Kot an. Wir ekeln uns erst ab einem bestimmten Alter, im Zuge der Sauberkeitserziehung.

Vor uns selbst ekeln wir uns nicht

Ekel ist kulturell geprägt. Sind in manchen Ländern Frösche, Hunde oder Insekten eine Delikatesse, werden sie in anderen als ekelhaft verpönt. Dass Menschen in Europa etwa ihren Rotz in ein Papiertuch schnäuzen, ist für andere Kulturen eklig, die stattdessen die Nase geräuschvoll hochziehen. Ekel ist Teil unserer kulturellen Identität. Vor uns selbst, dem eigenen Popel, Geruch oder unseren Ausscheidungen ekeln wir uns in der Regel nicht. Es ist das Andere, was uns ekeln lässt.

"Das elementare Muster des Ekels ist die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird", schreibt der Wissenschaftler Winfried Mennighaus in seiner Untersuchung zum Ekel. Der Ekel zieht eine Grenze zwischen uns und dem Anderen. Es ist eine wichtige Grenze.

Unser Maß an Nähe und Distanz zu wahren, ist essenziell – es kann Traumatisches auslösen, sie zu überschreiten. Deshalb ist es bedeutsam, die Grenzen des Ekels zu kennen und zu achten. Sie zu überwinden, bedeutet, Nähe zuzulassen. Solange wir uns ekeln, gehen wir konkret auf Distanz, springen etwa vor Ratten und Spinnen auf Stühle, wenden uns ab. 

Vor dem Bildschirm sind wir in einer machtvollen Situation

Das Besondere am Ekel ist, dass er diese konkrete Abwehrreaktion auslöst. Er richtet sich vor allem auf ein bestimmtes Objekt und ist damit weniger diffus als das Gefühl von Angst. Nach dem in Ungarn geborenen Philosophen Aurel Kolnai, der 1929 eine der ersten grundlegenden Schriften zum Ekel schrieb, unterscheidet sich Ekel von Angst, er verweist jedoch auf Angst. Ekel ist spezifischer, körperlich bezogen, eine unmittelbare Reaktion auf das, was uns stört. Von der Angst versuchen wir loszukommen. Der Ekel fokussiert uns hingegen, so Kolnai, ganz besonders auf das Objekt. Wir werden "durch den Gegenstand unmittelbar herausgefordert", provoziert: "Das Ekelhafte grinst, starrt, stinkt uns ,an'", schreibt er. Es ekelt uns ,an'. Es graut einem davor. Dabei ist nicht unbedingt das Objekt selbst ekelhaft, sondern das, was wir darauf projizieren.

Doch der Ekel kann auch eine Lust auslösen, wenn wir andere Menschen durch die Distanz des Bildschirms dabei betrachten können, wie sie ihre Ekel-Grenze übertreten. Vor dem Bildschirm sind wir in der machtvollen Situation, entscheiden zu können, wie weit wir uns ‚an‘-ekeln lassen. Wir fragen uns, ob wir das Eklige selbst tun und aushalten könnten.

Ekel zu überwinden, kann vielleicht zu neuer Freiheit führen

In vielen Erzählungen entwickeln sich Heldinnen und Helden, wenn sie die Grenzen ihre Abscheu und Angst übertreten. Sie gehen oft als reifere Menschen aus dem Erlebten hervor. 

Die Lust am Ekel der anderen bestätigt jedoch eher unseren Ekel, als dass sie uns von ihm entwöhnt. Ein anderer Grund für die Lust an der Grenzüberschreitung ist der soziale Tabubruch: Unsere kulturelle Prägung bewirkt eine gewisse Norm des Ekels. In der westlichen Kultur haben wir klassische Objekte, die uns widerwärtig erscheinen. Etwa Ungeziefer, Spinnen, Ratten, Schlangen. Etwas Ekliges anzufassen oder sich gar einzuverleiben, überschreitet auch soziale Grenzen und Verhaltensnormen, und der Ekel wird auf die Handlung übertragen. Das kann dazu führen, dass Menschen wegen ihrer Handlungen als ekelhaft stigmatisiert werden. Doch mit dem Tabubruch, den manche Menschen beschreiten, weiten sie die normativen Grenzen des Ekligen auch aus. Das fasziniert viele. 

"Man muss sich nicht ekeln", sagte die Reptilienzoobesitzerin in meinem Film. Nach ihrer These ekelten wir uns oft, weil wir von der Natur entfremdet seien. Während ich sie damals filmte, verspürte ich keinen Ekel. Die Schutzfunktion des Ekels fiel bei mir dabei womöglich weg, weil die Frau das, was sie tat, als etwas Natürliches zeigte. Der Ekel bei mir kam erst später auf, als ich im Schnitt die Bilder betrachtete. Ich spürte jedoch: Sich dem Ekel zu stellen, bedeutet auch, sich neu kennenzulernen. Ihn zu überwinden, kann vielleicht den Effekt haben, eine neue Freiheit zu gewinnen.

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