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Polarforschung Rekordschmelze beim Grönlandeis, dünnes Meereis am Nordpol: "Es muss dringend etwas passieren"

Der Jakobshavn Isbræ Gletscher im Westen von Grönland
Blick auf den Jakobshavn Isbræ Gletscher nahe der Ortschaft Ilulissat an der Westküste Grönlands. Laut einer Studie ist das Grönlandeis 2019 in bisher nicht gekanntem Ausmaß abgeschmolzen.
© Ingo Sasgen / Alfred-Wegener-Institut
Es steht nicht gut um das Eis in der Arktis-Region. Nachdem das Forschungsschiff "Polarstern" am Nordpol extrem dünnes Eis feststellen musste, belegt nun eine Fachstudie: Auch das Grönlandeis nimmt in erschreckendem Maße ab. Der Meeresspiegel steigt.

Gefeiert wurde vor zwei Tagen schon. Als der deutsche Forschungseisbrecher "Polarstern" am vergangenen Mittwoch um 12:45 Uhr den Nordpol erreichte, versammelten sich viele Teilnehmer der sogenannten "Mosaic"-Expedition an Deck, um das außergewöhnliche Ereignis zu feiern. Selbst Polarforscher befinden sich eher selten genau am nördlichsten Punkt der Erde.

Aus wissenschaftlicher Sicht gab es allerdings eher nichts zu feiern. Von Eis war auf der Route nördlich von Grönland nämlich oft wenig bis nichts zu sehen. Und wie zur Bestätigung veröffentlichte das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven, das auch die "Polarstern" betreibt, Studienergebnisse, wonach die Masse des Grönlandeises 2019 einen neuen Negativrekord erreicht hat.

Schmelze von Grönlandeis lässt Meeresspiegel steigen

Den Ergebnissen zufolge war der Masseverlust des grönländischen Eisschilds noch größer als im bisherigen Rekordjahr 2012. Das Abschmelzen des Grönlandeises ist - anders als beim ohnehin im Wasser schwimmenden Arktiseis - wesentlich für den Anstieg des Meeresspiegels verantwortlich, da sich unter den Eismassen Festland befindet; das Schmelzwasser also zusätzlich ins Meer fließt. Nach derzeitigen Erkenntnissen hat sich der Meeresspiegel dadurch seit den 1970er-Jahren bereits um 13,7 Millimeter erhöht, die Hälfte davon in den vergangenen acht Jahren.

An der aktuellen Studie waren neben dem AWI auch Wissenschaftler des Potsdamer Geoforschungszentrums (GFZ) und internationale Partner beteiligt. Die Wissenschaftler hatten für ihre Untersuchungen Daten des auch vom GFZ betriebenen Nasa-Satelliten "Grace" sowie Modelldaten ausgewertet. Die Studie erschien am Donnerstag im Fachjournal "Communications Earth & Environment".

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Nach zwei Jahren Atempause stärkster Jahresverlust

2017 und 2018 hatte es nur geringe Massenverluste im Grönlandeis gegeben. Doch: "Nach zwei Jahren 'Atempause' sind 2019 die Massenverluste wieder stark angestiegen und übertreffen alle Jahresverluste seit 1948, wahrscheinlich sogar seit über 100 Jahren", sagte Ingo Sasgen, Glaziologe am AWI in Bremerhaven und Autor der Studie. Als Inlandeis - auch Eisschild genannt - wird eine flächenartige Vergletscherung bezeichnet, die das vorhandene Relief fast vollständig bedeckt. 

Das Inlandeis in der Antarktis und das in Grönland sind die größten Eisschilde der Erde. Die Massenbilanz eines Jahres ergibt sich aus der Differenz zwischen Eiszunahme durch Schneefall und Eisverlusten durch Schmelzen und Eisausstoß am Rand in den Ozean. Die Massenverluste in Grönland fielen den Angaben zufolge 2019 mit 532 Milliarden Tonnen deutlich höher aus als im bisherigen Rekordjahr 2012 (464 Milliarden Tonnen). Dies entspreche einem global gemittelten Meeresspiegelanstieg von 1,5 Millimetern. "Immer häufiger haben wir stabile Hochdruckgebiete über dem Eisschild, die den Einstrom von wärmerer Luft aus den mittleren Breiten und damit das Schmelzen begünstigen", sagte Sasgen. 

Eisverlust nicht zu stoppen - selbst bei Ende der Erderwärmung

Erst Mitte August hatten Forscher von der Ohio State University berichtet, der Eisverlust von Grönland beschleunige sich und sei nicht mehr zu stoppen, selbst wenn die Erderwärmung sofort ende. Der jährliche Schneefall reiche nicht mehr, um ihn aufzuwiegen.

Aus eigener Anschauung erlebt den Eisverlust derzeit die Crew der "Mosaic"-Expedition an Bord der "Polarstern". Gestartet war das Forschungsschiff auf der Nordseite Grönlands. Normalerweise sei das Seegebiet dort so dicht bedeckt mit teilweise mehrjährigem Meereis, dass eine Fahrt dort nicht empfehlenswert sei, so Expeditionsleiter Markus Rex am Mittwoch. Doch nun stellte sich die Situation völlig anders dar. "Wir hatten einen breiten Bereich mit geringer Eiskonzentration und dünnem Eis", so Rex. Es sei ein "unglaublich schneller Ritt" gewesen. 

"Die Arktis kann nicht lange warten"

"Es ist erschreckend zu sehen, wie dünn das Meereis ist und wie schnell es schmilzt. Es muss dringend etwas passieren. Die Arktis kann nicht lange warten", so Rex weiter. Das AWI hatte schon im Juli mitgeteilt, dass die arktische Meereisausdehnung so gering sei, wie es seit Beginn der Satellitenmessungen für den Monat Juli noch nie beobachtet wurde.

Das arktische Eis erreicht gewöhnlich im März seine größte und im September seine geringste Ausdehnung. Im September 2012 war mit 3,4 Millionen Quadratkilometern die bislang kleinste Eisfläche seit 1979 beobachtet worden, im September 2019 die zweitgeringste Ausdehnung. Ob die Negativ-Rekorde in diesem Jahr noch einmal getoppt werden, werde sich im September abschließend zeigen, so Rex. Die Erkenntnisse der Grönlandeis-Studie scheinen bereits in diese Richtung zu deuten.

"Polarstern" seit elf Monaten in der Arktis unterwegs

Die "Polarstern" ist seit elf Monaten in der Arktis unterwegs. Zunächst driftete sie mit einer riesigen Scholle mit, Ende Juli zerbrach diese. Seitdem fährt der Eisbrecher unter Motor wieder Richtung Norden. "Wir werden über den Nordpol hinaus Richtung Sibirien fahren, um uns eine neue Eisscholle zu suchen", sagte Rex. Dort wollen die Wissenschaftler den beginnenden Gefrierprozess beobachten. Es ist das letzte Puzzlestück, das den Forschern in der Beobachtung des Jahreszyklus des Eises in der Arktis fehlt.

Quellen: Alfred-Wegener-Institut (Mosaic); Alfred-Wegener-Institut (Grönlandeis); "Nature" (Originalstudie); Nasa (Grace-Satellit); Technical University of Denmark; Ohio State University; Nachrichtenagentur DPA

dho

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