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Deutsch-türkischer Streit Darum gelingt es Erdoğan, unsere verschwisterten Nationen zu spalten

Handshake zwischen Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan - links die türkische Flagge
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Februar 2017 in Ankara: Gegenwärtig ist nicht die Zeit für Handshakes.
© Lefteris Pitarakis/AP
Deutschland und die Türkei sind seit Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter in den 1960er-Jahren besonders verbunden. Derzeit spaltet das Erdoğan-Regime die verschwisterten Nationen. Der Streit macht jahrzehntelange Versäumnisse deutlich.
Ein Gastbeitrag von Gül Keskinler

Niemals wird die Türkei für mich irgendein beliebiger Staat auf der europäischen Landkarte sein, wie beispielsweise Italien oder die Niederlande, obwohl ich in diesen Ländern gerne Zeit verbringe. Und selbst wenn ich meistens deutsch denke und träume – in gewissen Momenten spreche ich aus dem Bauch heraus automatisch türkisch. Ich mag das blumig herzliche Moment an meiner Muttersprache: Das kann eine Liebeserklärung sein, ein Scherz oder ein Schimpfwort. Doch genau in dem Augenblick, in dem ich so spontan reagiere, spricht immer mein Herz.

Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Fragen

In der aktuellen Türkei-Debatte werde ich ständig gefragt, warum sich die Nachfolgegenerationen der türkischen Gastarbeiter so wenig mit Deutschland identifizieren. Warum interessiert sich die zweite und dritte Generation bisweilen mehr für die Vorgänge in der Türkei als für das Geschehen in Deutschland. Es ist ein Fragenkomplex, der auch um die Tatsache kreist, dass so viele Menschen, die unsere Nachbarn, Kollegen und Freunde sind, stoisch auf ihrer türkischen Identität beharren, obwohl sie Jahrzehnte in Deutschland oder Holland leben und die türkische Sprache oft schlecht sprechen. Umgekehrt stehen viele Deutsche sprachlos vor einem für sie aufdringlich wirkenden Flaggen-Patriotismus, den türkischstämmige Migranten umso beherzter zur Schau tragen, je mehr sich die Türkei selbst ins politische Abseits manövriert, während sich nicht wenige Deutsche über "Erdowahn" und seine Anhänger in abfälliger Häme ergehen. Das Regime Erdoğan, das ein totalitäres Präsidialsystem einzuführen gedenkt, spaltet unsere verschwisterten Nationen und sorgt in der Gemengelage mit weltpolitischen Ereignissen wie der Flüchtlingsproblematik dafür, dass die Türkei zu einem festen Bestandteil nicht nur der deutschen Innenpolitik geworden ist.

Die Frage nach dem Warum beantworte ich mit meiner Geschichte

1970 bin ich als Neunjährige mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder aus Istanbul zu meinem Vater nach Bergisch-Gladbach gekommen. In einer für uns völlig fremden Welt mit unbekannten Sitten und Gebräuchen mussten wir uns zurechtfinden. Und das in einer Zeit, als es für Gastarbeiter und deren Kinder noch keinerlei Aufmerksamkeit gab. Wir waren dem deutschen Staat genauso egal wie Integration für unsere Eltern kein Thema war. Sie haben nicht im Traum daran gedacht, für immer in Deutschland zu bleiben. Immer ging es darum, für eine bessere Zukunft in der Heimat Geld zu verdienen.

Nachdem wir nach einigen Jahren finanziell Fuß gefasst hatten, ging es mit dem Auto in die Ferien in die Türkei. Da waren wir herzlich willkommen, wurden nicht nur von der Verwandtschaft hofiert und von den dortigen Banken, auch die Geschäftsleute warteten gierig auf die hart verdiente Währung aus Deutschland. So waren wir mit unseren Devisen jederzeit willkommen und wurden bedauert, dass wir in der Diaspora leben würden, das süße Leben in der Heimat nicht genießen könnten. Das schlechte Wetter in Deutschland, Obst und Gemüse ohne Geschmack – es gab viel Mitleid für uns, und wir fühlten uns verstanden und wohl. Doch als der Urlaub vorbei war, wurden wir traurig. Die Fremdheit lag plötzlich nicht mehr nur in diesem fernen Land, in dem wir nun lebten und so einige Diskriminierungserfahrungen aushalten mussten. Sie lag nun auch zunehmend in der Türkei.

Nirgendwo dazu zu gehören

Aus diesem Gefühl heraus, nirgendwo wirklich hinzugehören, nicht da und nicht dort, sind bei vielen Gastarbeitern psychosomatische Erkrankungen entstanden. Es war und ist diese Zerrissenheit, gepaart mit diffusen Fremdheitsgefühlen und der Sehnsucht nach einer idealisierten Urheimat, die nach den Worten der großen türkischen Poesie duftet und eine große Wehmut erzeugt. Denn die anatolische Seele ist lang, die vergisst nicht so schnell. Diese Erinnerungsfragmente tragen auch die heute heranwachsenden Migrantenkinder der dritten und bald vierten Generation in ihrem Herzen. Sie kennen die Türkei aus den Ferien und oft aus Erzählungen oder aus dem Fernsehen. Das wahre/wirkliche Leben ist ihnen unbekannt.

Deshalb fehlt ihnen, sofern ein integrationsrelevanter sozialer Aufstieg in bürgerliche Strukturen ausgeblieben ist, ein Abgleich mit der Realität.

TV-Sender aus der Türkei zeigen den ganzen Tag über oftmals ganz schlicht gestrickte Programme, die alle Altersgruppen erreichen. Visuell attraktive Daily-Soaps gaukeln ihnen eine islamisch-konservative Musterwelt vor, die weit weg ist von den alltäglichen Rassismuserfahrungen in Deutschland, von islamfeindlichen Äußerungen und dem Gefühl, nur geduldet zu sein.

Erdoğan hat sich um Türken in Herne gekümmert

Doch die Wählerschaft der AKP setzt sich nicht nur aus sozial abgehängten Frustrierten zusammen. Auch viele gut integrierte und gebildete Deutsch-Türken, die die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der alten Heimat beobachten, sich über ein Mehr an politischer Konstanz und Selbstbewußtsein am Bosporus gefreut haben und einen EU-Beitritt lange befürwortet haben, gehören dazu. Die schleichende Islamisierung und das Schritt für Schritt immer mehr aufscheinende regionale Großmachtgehabe der Türkei wurden in Kauf genommen oder als eine relativ unerhebliche Begleiterscheinung abgetan. Man war und ist ja nicht im Lande, betrachtet die Geschehnisse von außen, und hat sich gefreut, dass sich die Erdoğan-Regierung "endlich" auch des kleinen Mannes in Herne oder Gaggenau angenommen hat. In all den Jahrzehnten hat sich keine türkische Regierung, kein Politiker, so intensiv um diese Gruppe gekümmert, wie es Recep Tayyip Erdoğan heute tut, der auch dafür viel Zuspruch erhält.

Gül Keskinler
© Picture Alliance

Gül Keskinler

Die 57-Jährige ist Leiterin und Inhaberin von EKIP - Agentur für Interkulturelle Kompetenz e.K. Sie kam 1970 mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach der Fachhochschulreife ließ sie sich zur Industriekauffrau ausbilden, schloss dann ein berufsbegleitendes Studium der Betriebswirtschaftslehre ab und arbeitet seit 2001 selbständig in der Personal- und Organisationsentwicklung. Seit 1998 ist sie deutsche Staatsbürgerin. Von 2006 bis 2016 war sie ehrenamtliche Integrationsbeauftragte beim Deutschen Fußball-Bund (DFB).

Alle türkischen Parteien machen Wahlkampf in Deutschland, nicht nur die Regierungspartei. So beginnt eine jede türkische Wahlkampfrede auf deutschem Boden mit den immer gleichen Worten: Ich überbringe Ihnen die besten Grüße aus der Heimat. Da werden alte Gefühlswelten geweckt, die bis in die 1960er- und 70er-Jahre zurückreichen. Es sind Familienerinnerungen an eine düstere Zeit, in der türkische Gastarbeiter als "Kanaken" oder "Kümmeltürken" beleidigt wurden und woanders als in der Steinkohleförderung, am Fließband oder bei der Müllabfuhr beruflich kaum Fuß fassen konnten. Wenn die Muslime fasteten, dann wurde auch gerne schon mal ein lockerer Witz gerissen: Allah sieht dich hier nicht – kannst also ruhig was essen, haha!

Türkische Parallelwelten

Es entstanden türkische Parallelwelten – in Berlin, in Köln und in anderen deutschen Großstädten. Und bei allem Unternehmertum, das bald weit über Dönerbuden hinausreichte, wissen doch die meisten Deutschtürken um das Gefühl der Ausgrenzung. Da kommt es der tief drinnen noch immer gebeutelten türkischen Seele gelegen, wenn Erdoğans Propaganda-Maschinerie ebenfalls mit Beleidigungen aufwartet – die hiesige Regierung wird genauso beschimpft wie einzelne Politiker und die EU, die während der vergangenen 60 Jahre ihre Versprechungen gegenüber der Türkei nicht eingehalten haben. Oft beenden die Schlachtgesänge der alten osmanischen Zeit diese Kundgebungen.

Haben sich die Deutschen die Situation selbst eingebrockt?

Zu einem gewissen Teil sicherlich. Und dies nicht nur, weil sich die deutsche Bevölkerung verhielt, wie sie sich nun einmal verhielt – der deutsche Staat hat auch zu wenig getan. In der fälschlichen Annahme, die Gastarbeiter würden nach Hause zurückkehren oder die Integration würde sich von selbst einpendeln, wurde lange nichts für die Eingliederung getan. Die "mitgebrachte" Kultur der Gastarbeiter wurde einfach ignoriert – dies in fast allen Lebensbereichen, auch in der Pädagogik, wo das Thema Interkulturalität erst während der vergangenen Jahre in die Lehrerausbildung mit einfließt. Oder denken wir an unser Gesundheitssystem: Deutsche Kliniken haben zunehmend Bedarf an interkultureller Kompetenz. Doch solche Öffnungsprozesse in Organisationen, Verbänden und öffentlichen Ämtern sind immer noch und wider besseren Wissens ein Randthema.

Besonnene Brückenbauer zwischen den Kulturen

Mein Wunsch ist es, dass die dritte und vierte Generation der damaligen Gastarbeiter endlich die Kraft aufbringt, sich für mehr Verständnis zwischen den Kulturen einzusetzen, anstatt zu polarisieren. Diejenigen, die von ihren interkulturellen Identitäten nicht mehr zerrissen sind, die Halbmond und Adler gleichwertig in sich tragen und Deutschland genauso lieben wie die Türkei – das sind genau die Menschen, die wir brauchen, um eine Rückwärtsentwicklung zu verhindern. Im selben Atemzug muss auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft bis zu einem gewissen Punkt mehr Verständnis und Aufmerksamkeit für interkulturelle Belange aufbringen.

Wir Deutschen mit türkischen Vorfahren, die wir oft schon vor Jahrzehnten die Staatsangehörigkeit gewechselt haben, möchten nicht mehr ständig mit diesem zynischen Unterton gefragt werden: "Na, was macht denn Ihr Herr Erdoğan?"

Der Kern des abendländischen Wertedenkens ist vielmehr die kritische Selbstprüfung und das gemeinsame Ringen um den richtigen Weg – genau darum geht es!

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