Uli Hagemeier, Tobias Schuhwerk und Max Kramer

Als er die Nachrichten vom Amoklauf in Hamburg las, beschlich Heinrich O. (Name von der Redaktion geändert) ein ungutes Gefühl. „Ich hatte sofort die Befürchtung, dass er es ist“, sagt O. gegenüber unserer Redaktion.

Er ist mit jenem Mann verwandt, der am Donnerstagabend in einem Gemeinderaum der Zeugen Jehovas mutmaßlich sieben Personen und dann sich selbst getötet hat. Amokläufer Philipp F. (35) stammte aus dem Allgäu: Er wuchs in Kempten auf und soll in dieser Zeit Mitglied der Zeugen Jehovas gewesen sein.

In Hamburg soll Philipp F. „in kompletten Wahn verfallen“ sein

Er habe gewusst, dass F. psychisch „sehr angeschlagen“ gewesen sei, vieles habe auf eine Psychose hingedeutet, sagt O. Er selbst, aber auch seine Familie hätten ihn immer wieder vergeblich darum gebeten, dass er sich Hilfe suchen solle.

Philipp F. wuchs laut dem Verwandten in einer Familie auf, die zur Gemeinde der Zeugen Jehovas in Kempten gehöre. Er habe F. als „sehr sensibles Kind“ in Erinnerung.

Seit mehreren Jahren lebte F. in Hamburg. Dort soll er laut dem Verwandten 2020 erneut mit Zeugen Jehovas in Kontakt gekommen sein – und ließ sich offenbar überzeugen, sich der dortigen Gemeinde anzuschließen.

Nancy Faeser (links), Bundesinnenministerin, und Hamburgs Innen- und Sportsenator Andy Grote (beide SPD) legen Blumenkränze am Tatort ...
Nancy Faeser (links), Bundesinnenministerin, und Hamburgs Innen- und Sportsenator Andy Grote (beide SPD) legen Blumenkränze am Tatort nieder. | Bild: Georg Wendt/dpa

Nach eineinhalb Jahren sei er wieder ausgetreten – „und dann in kompletten Wahn verfallen“. Ermittler in Hamburg berichteten am Freitag, es habe einen anonymen Hinweis darauf gegeben, dass F. „eine besondere Wut auf religiöse Anhänger und einen ehemaligen Arbeitgeber“ geäußert habe und möglicherweise psychisch krank sei.

Banklehre in Kempten

Darauf deutete in früheren Jahren zunächst offenbar nichts hin. Ab 2006 machte er eine Banklehre in Kempten. Ein ehemaliger Mitschüler sagt, der mutmaßliche Täter sei auf der Berufsschule „ein richtig guter Typ gewesen“, beliebt in der Klasse und angesehen. F. sei ehrgeizig gewesen: „Der hat sich reingehängt und wollte alles gut machen.“

Philipp F. hat sich auch für Sport interessiert, unter anderem ein Jahr lang beim SV Cambodunum Kempten Fußball gespielt.

„Er war absolut unauffällig und hat sich gut in unser harmonisches Team integriert“, erinnert sich Vereinsvorsitzender Thomas Wilhelm.

Todesschütze von Hamburg war im Fußball-Fanclub aktiv

F. war ab 2007 auch etwa zwei Jahre lang im FC-Liverpool-Fanclub in Kempten aktiv. „Er war ein introvertierter Typ. Aber wenn er sich sicher fühlte in einer Gruppe, taute er richtig auf, machte Party und ließ sich mitreißen. Er war ein Typ, den man leicht manipulieren konnte“, erinnert sich ein Weggefährte.

Der Fanclub, der sich damals in einem Pub traf, sei für F. eine zweite Heimat geworden. Hier hatte er Anschluss an eine Clique von Altersgenossen.

Bestatter bringen eine abgedeckte Bahre aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas zu ihrem Fahrzeug.
Bestatter bringen eine abgedeckte Bahre aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas zu ihrem Fahrzeug. | Bild: Markus Scholz/dpa

Ein Foto von damals zeigt ihn lachend nach einem Stadion-Besuch in Liverpool mit seinen Kumpels. Doch mit einem Schlag habe er sich aus dem vertrauten Umfeld gelöst: „Er blieb auf einmal weg, hat sich selbst bei seinem besten Freund nicht mehr gemeldet.“

Zu dieser Zeit begann F., an der Hochschule Kempten Betriebswirtschaft zu studieren. Einen Abschluss machte er laut Rektor Professor Wolfgang Hauke jedoch nicht.

„Vermutlich hat er bei mir Mathematik- oder Statistik-Vorlesungen besucht. Wenn etwas Auffälliges gewesen wäre, würde mir das einfallen“, sagt er auf Anfrage unserer Redaktion.

Zeugen Jehovas zeigen sich schockiert

Laut Hauke wurde Philipp F. zum 30. September 2012 aus der Studenten-Liste gestrichen. Laut den Angaben auf seiner Homepage studierte er später in München.

Philipp F. soll nach Informationen unserer Redaktion auch Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas gewesen sein. „Wir sind schockiert, wollen uns aber momentan nicht weiter äußern“, sagt eine Sprecherin der Zeugen Jehovas.

Grablichter und Blumen vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Hier starben am Donnerstag acht Menschen.
Grablichter und Blumen vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Hier starben am Donnerstag acht Menschen. | Bild: Christian Charisius, dpa

Ab April 2014 sind im Lebenslauf von Philipp F. verschiedene berufliche Stationen in Hamburg aufgeführt, zum Beispiel als Controller, Berater und Projektmanager. Auch ein Sabbatical über eineinhalb Jahre führt F. auf, das letzte Angestelltenverhältnis dauerte demnach drei Monate. Seit Juni 2022 war F. laut Lebenslauf selbstständig in Hamburg.

Auf seiner Homepage stellt der Kemptener sich als erfolgreichen Berater in Bereichen von Controlling bis Theologie dar. Sein Mindesthonorar liege bei 250.000 Euro plus Mehrwertsteuer – diese außergewöhnlich hohe Summe begründet er damit, dass seine Tätigkeit „mindestens 2,5 Millionen Euro“ für Kunden generiere.

Wenige Stunden vor dem Amoklauf in Hamburg lobte F. sich auf der Internet-Plattform LinkedIn selbst: Sein zwei Monate zuvor veröffentlichter Text „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und den Satan“ habe „eine Zufriedenheitsrate von 100 Prozent“.

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