Wann dürfen wir wieder normal leben? Wann haben die Kontaktsperren ein Ende? Vor dieser Frage steht derzeit die Politik. Ihre Entscheidungsgrundlage: Daten. Daten vom Robert-Koch-Institut, von Forschern, aus anderen Ländern. Viele Zahlen, gute Entscheidungen? Nicht wirklich. Ein Blick auf die Details zeigt, wie wenig wir über Corona tatsächlich wissen.

Problem 1: Wie groß ist die Corona-Dunkelziffer?

Knapp 1,3 Millionen Corona-Erkrankte gibt es derzeit auf der Welt, Stand 6. April, davon rund 100.000 in Deutschland – so die offiziellen Zahlen. Keiner bestreitet, dass diese Werte unterschätzt sind, hier ist sich auch die Wissenschaft einig. Nur: Um wie viel? Da sind sich Forscher dann gar nicht mehr einig. Die optimistischsten Schätzungen stammen hier aus Deutschland, wo sich offizielle Stellen wegen einer hohen Testdichte sicher sind, nur eine geringe Dunkelziffer zu übersehen.

Eine Studie des Imperial College in London kam dagegen zu dem Ergebnis, dass am 28. März bereits 0,72 Prozent der Deutschen an Corona erkrankt gewesen sein könnten – was knapp 600.000 Menschen entspräche, während das RKI an diesem Tag nur knapp 60.000 Fälle auswies. Die Schwankungsbreite der Studie ist aber groß, mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten es laut den Forschern auch nur 230.000 Menschen oder gar 1,5 Millionen Menschen sein können.

Covid-19-Patienzen in einem provisorischen Krankenlager in Madrid. Waren sie nur einige von in Wahrheit Millionen Spaniern, die erkrankt ...
Covid-19-Patienzen in einem provisorischen Krankenlager in Madrid. Waren sie nur einige von in Wahrheit Millionen Spaniern, die erkrankt sind? | Bild: Manu Fernandez/dpa

In anderen Ländern sind die Ergebnisse noch dramatischer, für Spanien kommt die Studie zum Ergebnis, das am 28. März bereits 41 Prozent aller Einwohner Corona gehabt haben könnten – oder auch nur 3,7 Prozent. Für am wahrscheinlichsten hielten die Forscher 15 Prozent – das wären 7 Millionen Menschen, bei damals 73.200 gemeldeten Fällen laut Johns Hopkins Universität. Eine Studie des Epidemologen Carlo La Vecchia aus Italien hält für das eigene Land derweil 5 bis 10 Millionen Fälle für realistisch, sogar 20 Millionen scheinen vorstellbar. Eine ähnliche Spanne legt auch die Imperial-College-Studie an.

Für die weitere Coronabekämpfung ist die Dunkelziffer entscheidend. Mit mehr Abstrichtests allein wird sie nicht aufzuklären sein, weil diese Erkrankungen übersehen können und überstandene Infektionen ohnehin nicht anzeigen. Deswegen sind die derzeit anlaufenden Antikörper-Tests so wichtig. Denn, wenn die Dunkelziffer tatsächlich hoch wäre, wären Länder wie Italien und Spanien tatsächlich schon auf dem Weg zu einer Herdenimmunität. Für Deutschland darf man sich hier allerdings keine Hoffnung machen: Dazu müsste die Inifiziertenzahl sechshundertfach unterschätzt sein – das ist in keinem Modell denkbar.

Problem 2: Die Todeszahlen

Man neigt dazu, zumindest den Daten zu den Corona-Toten mehr Glauben zu schenken, scheinen die Dinge hier doch eindeutiger zu liegen. Tote sind nicht zu übersehen. Doch gibt es auch hier zwei Probleme, die auch noch in entgegengesetzte Richtung wirken.

Zum einen wird die Zahl überschätzt: Fast alle Länder führen als Covid-19-Tote jene Menschen auf, in deren Leichnam das Virus nachgewiesen wurde. Das bedeutet aber nicht, das die Infektion auch tatsächlich die Todesursache ist. Trotzdem wird bei Corona meist so gerechnet, obwohl viele Tote eine oder mehrere potenziell tödliche Vorerkrankungen haben. Anders macht es beispielsweise Hamburg, das Covid-19-Tote genauer auf mögliche andere Todesursachen untersucht. So wurden bereits mehrere Menschen nicht als Corona-Tote gezählt, obwohl das Virus nachgewiesen wurde.

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Dagegen stehen wiederum Fälle, die tatsächlich an Corona gestorben sind, aber nicht darauf untersucht worden sind. So sterben ohnehin jedes Jahr mehrere zehntausend Menschen in Deutschland an Lungenentzündungen – nicht immer wird dabei untersucht, ob nicht Corona dahintersteckt. RKI-Präsident Lothar Wieler geht deswegen davon aus, dass die Zahl in Deutschland unterschätzt wird. Studien vermuten auch für Italien eine deutlich zu kleine offizielle Zahl.

Dass hier viel Unklarheit herrscht, führt in Verbindung mit Problem 1 zu einer weiteren großen Schwierigkeit.

Problem 3: Wie tödlich ist Corona?

Entscheidend zur Risikobewertung und damit für die Vertretbarkeit schwerster rechtlicher und finanzieller Eingriffe in die Gesellschaft ist die Tödlichkeit des Virus. Diese Letalität errechnet sich aus der Anzahl der Gestorbenen geteilt durch die Anzahl der Erkrankten. Wie gesehen: Beide Zahlen sind hoch umstritten und derzeit kaum zu definieren. In der Wissenschaftswelt schwanken die Einschätzungen zur Tödlichkeit deswegen extrem.

Der Priester Marcello Crotti segnet die aufgereihten Särge in Seriate (Italien, Provinz Bergamo). Bilder wie diese erschütterten ...
Der Priester Marcello Crotti segnet die aufgereihten Särge in Seriate (Italien, Provinz Bergamo). Bilder wie diese erschütterten Deutschland, sie machten auf die hohe Mortalität durch Corona aufmerksam. | Bild: Antonio Calanni, dpa

John Ioannidis, Epidemiologe an der US-amerikanischen Stanford Medical School, hält sehr niedrige 0,05 Prozent für möglich, andere Schätzungen reichen bis zu 4 Prozent Tödlichkeit. Geht man davon aus, dass sich in Deutschland 60 Prozent der Menschen infizieren müssten, um Herdenimmunität zu erreichen, würde das einen Unterschied von 25.000 Toten zu 2 Millionen Toten ergeben. Wo die Wahrheit liegt, ist derzeit kaum zu bestimmen. RKI-Chef Wieler ging Ende Februar von einem Wert mindestens über 0,2 Prozent aus. Eine Studie aus China ergab, dass dort 1,4 Prozent der Menschen starben, die Symptome entwickelten – wobei hier in der Gesamtzahl die beschwerdelosen Fälle fehlen, dazu später mehr. Eine andere Studie setzte für China 0,5 Prozent an.

Nicht vergessen darf man dabei: Die Letalität ist ein gemittelter Wert über alle Altersgruppen. Unbestritten ist, dass sich ab einem gewissen Alter und mit Vorerkrankungen das Sterberisiko deutlich erhöht.

Problem 4: Wie infektiös ist Corona?

Um den Fortgang einer Epidemie vorherzusagen ist es entscheidend zu wissen, wie viele Menschen ein Kranker ansteckt – das ist die sogenannte Basisreproduktionszahl. Je höher sie liegt, desto schneller verbreitet sich Corona. Nur: Auch um sie zu kennen, müsste man die Dunkelziffer wissen. Das RKI geht von 2,4 bis 3,3 aus, vermutet also, dass ein Kranker im Schnitt mehr als zwei andere ansteckt. Ein Studie aus Österreich von Mitte März nannte 1,62 als Zahl, wobei die Studienlage insgesamt eher in Richtung 2 bis 3 deutet. Ziel ist es immer, die Reproduktionszahl unter 1 zu halten – dann werden mit fortschreitender Zeit immer weniger Menschen krank sein. Dazu sind bei einem Basiswert von 3 durchaus rigide Maßnahmen nötig.

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Unklar ist hier noch etwas: Wie wirkt sich der Sommer auf die Ansteckungsgefahr aus? Erst hatten Forscher wie Christian Drosten große Hoffnungen auf einen bremsenden Effekt, dann wieder weniger, im Moment pendelt sich die Expertenmeinung in der Mitte ein. Wahrscheinlich wird sich Corona im Sommer langsamer verbreiten, zum Stillstand kommt die Epidemie deswegen voraussichtlich aber nicht.

Problem 5: Wie viele Erkrankte haben gar keine Symptome?

Eine Gefahr bei der Corona-Bekämpfung geht von jenen Menschen aus, die keinerlei Symptome haben, aber dennoch Träger und Verbreiter des Virus sind. Doch wie viele der Erkrankten wissen gar nichts davon? Auch das ist noch recht unklar. Viele Schätzungen gehen derzeit davon aus, dass 25 bis 50 Prozent der Erkrankten nichts davon mitkriegen.

Problem 6: Wie viele Genesene gibt es?

Um den Status der Pandemie festlegen zu können, ist es entscheidend, die Zahl der bereits Genesenen zu kennen. Nur: In Deutschland besteht keine Meldepflicht für Genesungen. Deswegen sind alle Zahlen Schätzungen. Zudem hantieren Bundesländer mit unterschiedlichen Definitionen, besonders was Erkrankte angeht, die nur in häuslicher Quarantäne waren. Mancherorts werden sie nach 14 Tagen automatisch für gesund erklärt, anderswo wird abgefragt, ob sie tatsächlich seit 48 Stunden beschwerdefrei sind. Bei Krankenhausentlassungen ist das strikter: Hier müssen neben der Symptomfreiheit auch zwei negative Tests vorliegen.

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Insgesamt ist die Datenlagen so nicht verlässlich. Gleichzeitig wäre es falsch, auf die Ausweisung von Genesenenzahlen ganz zu verzichten – auch dann wäre die Realität verkannt, weil überwundene Erkrankungen weiterhin als aktive Infektionsherde gezählt werden würden.

Problem 7: Wie wird Corona übertragen?

Wo sich Erkrankte das Virus einfangen, ist ebenfalls teilweise ungeklärt. Bekannt ist, dass die Tröpfcheninfektion über Husten, Niesen, Reden eine große Rolle spielt – hier ist nur der Schutzfaktor von Masken weiterhin strittig. Doch stellt der Bonner Virologe Hendrik Streeck einen anderen Übertragungsweg in Frage: Den über Oberflächen. In der ZDF-Talkshow „Markus Lanz„ sagte er, selbst in einem Haushalt voller hochinfektiöser Menschen hätten sich auf Oberflächen keine aktiven Viren gefunden.

Finden hier überhaupt Übertragungen statt? Wie viele Infektionen sich in Supermärkten ereignen, ist umstritten.
Finden hier überhaupt Übertragungen statt? Wie viele Infektionen sich in Supermärkten ereignen, ist umstritten. | Bild: Roland Schlager/AFP

Auch – und das ist für die Lockdown-Frage hoch relevant – für Übertragungen bei Frisören, in Restaurants oder in Supermärkten fehlen laut Streeck derzeit Nachweise. Streeck bezieht sich bei seinen Erkenntnissen auf den Kreis Heinsberg, wo er den dortigen Ausbruch untersuchte und nun vertieft erforscht.

Fazit

Handeln wir derzeit viel zu streng oder gerade richtig? Die Zahlen lassen viel Interpretationsspielraum. Die Bilder aus Bergamo, Madrid und New York jedoch nicht – es sterben derzeit massenhaft Menschen mit und an Covid-19, das ist in der Wissenschaft unbestritten. Die Gefahr für ältere und kranke Menschen ist nicht wegzudiskutieren. Corona kann Gesundheitsysteme zum Zusammenbruch bringen. Doch unklar ist, wie viele harmlose Fälle dahinter stehen, wie nahe wir stellenweise bereits an einer Herdenimmunität sind und wie sich das Virus verbreitet.

So kann man zwar nicht leugnen, dass politische Eingriffe in das gesellschaftliche Leben zur Bekämpfung nötig sind – wohl bleibt aber Raum für berechtigte Diskussionen über die Schärfe dieser Einschnitte.