«Rorschach» zieht in den Krieg

RORSCHACH. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden auch in Rorschachs Industrien tätige Arbeiter von ihren Regierungen in die Armeen aufgeboten. Vom Hafen reisten Ausländer in überfüllten Schiffen in ihre kriegführenden Länder zurück.

Otmar Elsener
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Das Schiff Hohentwiel, voll beladen mit Arbeitern aus der Rorschacher Industrie. Die Männer wurden von ihren kriegführenden Ländern heimbefohlen. (Bilder: Rorschacher Neujahrsblatt)

Das Schiff Hohentwiel, voll beladen mit Arbeitern aus der Rorschacher Industrie. Die Männer wurden von ihren kriegführenden Ländern heimbefohlen. (Bilder: Rorschacher Neujahrsblatt)

Trommler zogen vor 100 Jahren am 31. Juli 1914 durch die Stadt und verkündeten die Kriegserklärung von Österreich/Ungarn an Serbien und die Mobilisation von Schweizer Landsturmtruppen. Die Soldaten wurden aufgeboten, den Grenzverkehr zu kontrollieren und das Gebiet vom Bodensee bis ins Bündnerland zu überwachen. In Rorschach rückten sie bei brütender Sommerhitze mit Tornister und Gewehr vor dem Bedaschulhaus ein und schworen dort feierlich einen Treueid auf das Vaterland. Unverzüglich marschierten sie ab, und «bewachten mit scharfem Auge, geladener Waffe und geschliffenem Bajonett den Hafen, die Bahnhöfe und Geleise, das Kornhaus und die Banken, die Brücken und alles, was irgendwie von staatlicher oder militärischer Bedeutung sein mochte», schrieb ein Zeitgenosse.

Ansturm auf Schiffe

Obwohl wie immer am 1. August am Abend im ganzen Land die Kirchenglocken läuteten, war es kein üblicher Nationalfeiertag: Der Bundesrat beschloss nach dem Aufgebot der Landsturmtruppen an diesem Tag nun auch die allgemeine Mobilmachung der gesamten Armee. Anstelle von Bundesfeiern rüsteten sich in den Häusern der Stadt die wehrfähigen Männer für das Einrücken zu ihren Kompanien und Regimentern. In Eisenbahnzügen aus der ganzen Schweiz trafen in Rorschach bereits deutsche und österreichische Männer ein, die auf Befehl des deutschen Kaisers für den Kriegsdienst aufgeboten waren und die sich im Hafen für die Fahrt zu Sammelplätzen in Lindau und Friedrichshafen einschifften. Allein aus Rorschach waren 500 Deutsche mit eingeschriebenem Brief zum Einrücken gezwungen worden.

Am 3. August stand eine dichtgedrängte Volksmenge am Hafen. Die ausreisenden Rorschacher wurden herzlich verabschiedet, viele waren hier aufgewachsen, wohnten und arbeiteten mit ihren Familien schon lange hier, waren integriert, aber deutsche Bürger geblieben. Die Ostschweizer ihrerseits bewunderten damals die deutsche Armee und waren deutschlandfreundlich eingestellt. Wenige Jahre zuvor hatte der deutsche Kaiser Manöver der Schweizer Armee im Toggenburg besichtigt. Hurrarufe auf den deutschen Kaiser ertönten. Auf den überladenen Schiffen wurde siegeszuversichtlich «Die Wacht am Rhein» und «Deutschland über alles» gesungen und mit Tüchern und Hüten gewinkt. Tausende zogen über die Grenze, allein aus Zürich sollen es 20 000 Deutsche gewesen sein.

Die Armee aufgeboten

Am 4. August begann dann das Einrücken des Schweizer Heers: 220 000 Mann und 45 000 Pferde waren aufgeboten worden. Fast kein Haus, in dem sich nicht ein Soldat verabschiedete und zum Bahnhof eilte. Hier herrschte reger Zugsbetrieb, es gab ja noch keinen Individualverkehr. Aus dem Rheintal trafen Militärzüge ein, die Jungen des «Auszugs» singend am Wagenfenster, die Älteren der «Landwehr» eher ruhig besonnen, sich des Ernstes der Lage bewusst, in Sorge um ihre Familien. Die Landwirte der Umgebung brachten ihre Pferde für den Dienst im Militär zur Musterung auf den Auffüllplatz. So wurde damals das Gebiet des heutigen Seeparks bezeichnet, der später 1918 als Notstandsarbeit erstellt wurde.

Touristen und Italiener

Die Stadt erlebte in diesen ersten Augusttagen eine eigentliche Völkerwanderung. Am Hafen trafen deutsche Schiffe mit Russen, Franzosen und Serben ein, die alle in Rorschach und Umgebung untergebracht werden mussten. Gleichzeitig wollten viele Fremde, die als Touristen in den Schweizer Kurorten in den Ferien weilten, in ihre Heimat zurück. Bei den Rorschacher Bahnhöfen türmten sich Koffer und Kisten. Die Hotels und Gasthäuser waren überfüllt, viele suchten Unterkunft bei Privaten. Das italienische Konsulat – Italien hatte sich neutral erklärt – organisierte den Heimtransport von arbeitslosen und mittellosen Italienerfamilien. Am 13. August landeten drei württembergische Dampfer in Rorschach mit über 1900 Personen italienischer Herkunft. Nach tagelangen, mühseligen Reisen aus allen Teilen Deutschlands warteten die Familien mit ihren in Bündeln, Säcken und Koffern mitgebrachten Habseligkeiten auf dem Kabisplatz auf den Bahntransport nach Italien. Die Rorschacher Bevölkerung versorgte die Flüchtlinge mit Brot, Milch und Wasser. Diese Heimtransporte von Arbeitslosen aus den kriegführenden Ländern wiederholten sich, Ende August reisten beispielsweise arbeitslose Griechen und Griechinnen aus deutschen Zigarettenfabriken via Rorschacher Hafen heim.

Betriebe mussten schliessen

Schon in den ersten Augusttagen gab es einen Ansturm auf Lebensmittelläden und Sparkassen, alle wollten Bargeld abheben. Die Hausfrauen schleppten nach Hause, was an Zucker, Kaffee und Getreide zu ergattern war. Der Gemeinderat besprach Massnahmen, um eine Teuerung und private Hortung von Vorräten zu verhindern.

Die plötzlich fehlenden Arbeitskräfte zwangen die Rorschacher Stickereien und Maschinenfabriken ab 15. August zur zeitweiligen Schliessung ihrer Betriebe. Die Zeitungen erschienen wegen Personalmangel nur noch eineinhalb oder zweiseitig. Das städtische Arbeitsamt vermittelte den arbeitslosen Industriearbeitern Tätigkeiten in der Landwirtschaft. Am 5. August wurde das Tragen von Waffen nur mehr gegen Ausweis gestattet und die Polizeistunde auf 23 Uhr verkürzt. Zur Verstärkung der Polizei bildete man am 7. August eine Bürgerwehr von 100 Mann, die nachts mit Gewehr und scharfer Munition ausgerüstet durch die laternenlosen Gassen patrouillierte.

Todesanzeigen

Die Nachricht von der heldenhaft kämpfenden Armee des von den Deutschen überfallenen Belgien verstärkt in der Schweiz den Willen zum Schutz der Grenzen. Am 27. August hört man vom deutschen Ufer «Donnerhall». Mit Kanonenschüssen wurden Siege in Belgien gefeiert, und deutsche Schiffe fuhren beflaggt in den Hafen. Man hört den Jubel und sieht die Freude, doch das Leid folgt. Von den Schlachtfeldern kommen die ersten Soldatenbriefe, die ersten Ehrenmeldungen, aber auch die ersten Todesanzeigen von in den Augusttagen ausgezogenen Rorschachern. «Es wird ein langer Zug der Toten und des Elends werden», schrieb ein Chronist Ende 1914.

Soldaten der Landsturmkompanie 73/IV zum Abmarsch bereit vor dem Beda-Schulhaus in Rorschach. Das Bild unten zeigt die Pferdestellung auf dem Auffüllplatz; dem späteren Seepark.

Soldaten der Landsturmkompanie 73/IV zum Abmarsch bereit vor dem Beda-Schulhaus in Rorschach. Das Bild unten zeigt die Pferdestellung auf dem Auffüllplatz; dem späteren Seepark.

Bild: OTMAR ELSENER

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