Siegesruhm nur angeeignet?

Die Interpretationen zu den sogenannten Appenzeller Kriegen, die Stefan Sonderegger vorlegt, könnten noch zu reden geben. Für den Historiker haben die St. Galler den Appenzellern bei der Schlacht am Stoss den Sieg erleichtert oder vielleicht gar erst ermöglicht.

Hanspeter Strebel
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Uli Rotach im Kampf mit zwölf Feinden. Ölgemälde von Ludwig Vogel, Kantonsbibliothek Appenzell A.Rh. Trogen (Bild: pd)

Uli Rotach im Kampf mit zwölf Feinden. Ölgemälde von Ludwig Vogel, Kantonsbibliothek Appenzell A.Rh. Trogen (Bild: pd)

Die appenzellische Historiographie ist für Stefan Sonderegger ein gutes Beispiel, wie mit Jahrzeitenbüchern (in denen Namen von Verstorbenen mit Todesdatum eingetragen waren) gezielt Erinnerungskultur gefördert und gefordert wird. Ein Kernstück appenzellischer Geschichte basiert nämlich auf Notizen in einem Jahrzeitenbuch aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Die (seit dem 19. Jahrhundert) geläufigen Vorstellungen über die Appenzeller Kriege bezeichnet der Historiker aus Heiden als «lokalpatriotische Überzeichnung». Die Kriege würden nämlich von den Appenzellern als Eigenleistung ausgelegt, als Befreiung eines freiheitsliebenden, alpinen «Volksschlages» aus der Untertanenschaft des Klosters St. Gallen. Die Ereignisse am Hauptlinsberg und bei Kappel vor den Toren St. Gallens am gleichen Tag wie die Schlacht am Stoss, die den dortigen Sieg vielleicht erst ermöglichten, würden nämlich auf appenzellischer Seite ausgeblendet, stellt Sonderegger fest. Auch wenn am Hauptlinsberg eher ein kleines Scharmützel, denn eine offene Schlacht stattfand, so liege die Vermutung nahe, dass die St. Galler auf Zeit spielten und die österreichische Abteilung mit sporadischen Angriffen beschäftigten und so gegnerische Kräfte vor der Stadt banden. Die St. Galler erleichterten so den Appenzellern und ihren Mitstreitern am Stoss den Sieg; «vielleicht machten sie ihn sogar erst möglich», schreibt Stefan Sonderegger.

Enge Kontakte um 1400

Diese Sicht sei eine naheliegende Interpretation, die sich aus den engen Kontakten zwischen den St. Gallern und den Appenzellern im Vorfeld des Kriegs von 1405 ergaben. Die seit 1402 erhaltenen St. Galler Seckelamtsrechnungen belegen nämlich eine rege Kommunikation zwischen den St. Gallern und den Appenzellern zu jener Zeit und deuteten auf gegenseitige Absprachen und eine gemeinsame Strategie hin. Hinzu kommen Angaben aus dem Bereich der Kriegsvorbereitung und des Gefechtsverlaufs. Im Kriegsjahr 1405 werden solche Einträge häufiger, und Anfang April gibt es Belege, wonach der städtische Büchsenmeister seine Dienste den Appenzellern zur Verfügung stellte. Viele Einträge im Seckelamtsbuch legen den Schluss nahe, dass sich die St. Galler seit Beginn des Jahres 1405 auf einen österreichischen Angriff vorbereiteten. So wurden Steinkugeln für die Geschütze hergestellt und solche Büchsen an strategisch wichtigen Stellen plaziert. Im Frühsommer wurden auch Letzinen als mauerartige Sperren aus Erdwerk und Holz im Gelände errichtet (im Jubiläumsjahr 600 Jahre Schlacht am Stoss wurde eine solche vor dem Museum in Stein als Blickfang aufgestellt).

Aber der 1. Junihälfte spitzte sich die Lage zu. Ausgeschickte Kundschafter meldeten, dass man jederzeit mit einem Angriff zu rechnen hätte.

Koordinierte Vorbereitungen

Die dokumentierten Informationen belegen, dass man von Anfang an einen Ansturm auf die Stadt St. Gallen erwartete und die Verteidigungsvorbereitungen mit den Appenzellern koordiniert wurden. Das heisst für Stefan Sonderegger, dass die sogenannten Appenzeller Freiheitskriege aufgrund der Fakten wenn schon als «Appenzeller und St. Galler Freiheitskriege» bezeichnet werden müssten. Dass dem nicht so ist, weise auf eine «bewusst appenzellische Formung der Erinnerungskultur hin, die in einem späteren appenzellischen Pendant zum frühen St. Galler Jahrzeitenbuch zum Ausdruck kommt».

Glaubensfrage Uli Rotach

Feste Bestandteile des appenzellischen und besonders innerrhodischen Schlachtgedenkens sind der Kriegsheld Uli Rotach und die alljährliche Stosswallfahrt vom 14. Mai. Bei Ulrich Rotach verhält es sich ähnlich wie bei Wilhelm Tell: Ob sie je existierten, bleibt Ends aller Enden eine Glaubensfrage, erklärt Stefan Sonderegger. Das blieb letztlich auch im Jubiläumsjahr 2005 unbestritten, wo man derlei Fragen in verschiedenen Veranstaltungen und Publikationen nachging. Erst 161 Jahre nach der Schlacht am Stoss wurde die Figur Uli Rotach erstmals mit dem Zusatz erwähnt, er habe allein mit dem Rücken zu einer Hütte, die von den Feinden angezündet worden sei, gegen ein Dutzend Gegner gekämpft. Der Eintrag findet sich in einem Jahrzeitenbuch im Anschluss an die Namen von rund 60 Appenzellern, die 1515 bei Marignano gefallen waren. Es handelt sich also um eine kollektive Jahrzeit zum Gedenken an mehrere wichtige Schlachten am Ende des Spätmittelalters.

Um 1570 liess die Appenzeller Regierung die Schlacht mit der vermutlich erst kurz vorher entstandenen Rotach-Episode durch den St. Galler Künstler Caspar Hagenbuch den jüngeren in einem für das neue Rathaus angefertigten Gemälde bildlich darstellen. Auch das 1585 angelegte Appenzeller Landbuch enthält eine Schlachtdarstellung mit der Rotach-Szene. «Die Episode wurde somit von offizieller Seite binnen weniger Jahre gleich dreifach medienwirksam umgesetzt und damit zum festen Bestandteil eines obrigkeitlich sanktionierten Geschichtsbildes», schreibt Rainer Hugener in einer ganz neuen Publikation unter dem Titel «Gefallene Helden».

Wirtschaftlicher Bruch

Für Stefan Sonderegger weist diese «Aneignung» der Schlacht am Stoss durch die Appenzeller und die Schaffung eines eigenen Helden auf ein Auseinanderleben oder gar einen Bruch in der Beziehung der St. Galler und Appenzeller hin. Die grössten Differenzen gab es im wirtschaftlichen Bereich. St. Gallen war zur wichtigsten Leinenproduktions- und Handelsstadt im Bodenseegebiet aufgestiegen, im Appenzellerland wurden ebenfalls Leinentücher hergestellt und meist nach St. Gallen auf den Markt gebracht. 1535 und 1537 versuchten die Appenzeller einen ständigen Leinwandplatz im Hauptort einzurichten, um sich aus der städtischen Abhängigkeit zu lösen. Daraus entstand ein Konkurrenzkampf zwischen der Stadt und dem voralpinen Land, den die Stadt aufgrund ihrer Stärke für sich entschied. Nach mehreren heftigen Auseinandersetzungen über Jahrzehnte – Streite um Banner und Kalender dienten jeweils als Funken im Pulverfass – konnte St. Gallen sein Schau- und Handelsmonopol behaupten.

Ersatz für Niederlage

Für Stefan Sonderegger bedeutet das Zusammenfügen der Informationen aus Quellen jener Zeit, dass offensichtlich aus den einstigen Kampfgefährten von 1405 Konkurrenten geworden waren. Ersatz für die wirtschaftliche Niederlage gegen die St. Galler bot den Appenzellern die Aneignung des Siegesruhms aus vergangenen, partnerschaftlichen Zeiten. So sei es wohl auch kein Zufall, dass die Heldenfigur Uli Rotach Mitte des 16. Jahrhunderts geschaffen worden sei und schliesslich fest ins Gedächtnis und Geschichtsbild der Appenzeller eingeprägt wurde. Uli Rotach sei wohl viel eher ein Vermittler appenzellischer Identität in wirtschaftlich schwierigen Zeiten des 16. Jahrhundert, als realer Held von 1405, folgert Sonderegger in seinen interessanten Überlegungen. Offensichtlich instrumentalisieren nicht erst heute Politiker die Geschichte.

Stefan Sonderegger, «Weit weg und doch nah dran». 148. Neujahrsblatt, 2008, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen. ISBN: 978 – 3- 90728-68-4.