ST.GALLEN: Für gesellschaftsfähige Erstgixe

Heute ist Schulanfang. Die Unterstufenlehrerin Sarah Noger unterrichtet seit 20 Jahren. In dieser Zeit hat sie viel erlebt und einigen Wandel mitbekommen. Die 43-Jährige über das enge Schulkorsett, Druck von den Eltern, der Freude an ihrer Arbeit und Schreckensmomenten.

Kathrin Reimann
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Sarah Noger im Klassenzimmer, das auch ihr Jungbrunnen ist. (Bild: Benjamin Manser)

Sarah Noger im Klassenzimmer, das auch ihr Jungbrunnen ist. (Bild: Benjamin Manser)

Frau Noger, welche Erinnerungen haben Sie an Ihren ersten Schultag?

Sarah Noger: Ich erinnere mich an das Gewusel, die vielen Kinder und daran, stolz gewesen zu sein. Weil meine älteren Geschwister auch den Boppartshof besuchten, wusste ich bereits, was etwa auf mich zukommt.

Welche Gefühle überwiegen heutzutage am ersten Schultag?

Noger: Die meisten Erstgixe freuen sich und sind stolz. Wenige Ängstliche gibt es auch. Da Kinder aus verschiedenen Kindergärten zusammenkommen, sehen die Schüler neue Gesichter. Deshalb findet ein Treffen vor Schulbeginn statt. Ausserdem hat jeder Schüler einen Götti aus der sechsten Klasse.

Und wie lange halten sich Freude und Stolz bei den Schülern?

Noger: Sie sind in der Regel sehr wissbegierig und lernfreudig. Natürlich stellt sich auch Ernüchterung ein. Schliesslich muss man lernen, dass man nicht nur das machen kann, was man will. Man hat Pflichten. Wenn die Hausaufgaben nicht gemacht werden, heisst es dann oft: «Aber s'Mami hät nöd…». Dann muss ich dem Kind beibringen, dass es seine eigene Aufgabe ist. Ein berühmter Satz von Maria Montessori dazu lautet: «Hilf mir, es selbst zu tun.»

Sie unterrichten seit 20 Jahren. Wie hat sich Ihr Beruf verändert?

Noger: Die strukturellen Rahmenbedingungen sind völlig anders. Früher unterrichtete ich am Samstag und der Unterricht findet heute in der Form von Blockzeiten statt. Früher war ich nebst einer Handarbeitslehrerin allein. Der Tagesablauf ist komplexer geworden, da heute viel mehr Personen involviert sind.

Wie wirkt sich das auf den Unterricht aus?

Noger: Die Unterrichtsstrukturen geben ein enges Korsett vor. Man hat als Lehrer wenig Freiheit. Früher konnten wir spontan Drachen steigen lassen, wenn es windete. Heute ist das nicht mehr möglich, so etwas müsste man im vornherein planen und alle betroffenen Lehrer informieren. Der Unterricht ist komplizierter geworden, weil das System schwerfälliger ist.

Und was für Konsequenzen hat dies für die Schüler?

Noger: Damit sie ihre Leistungen bringen können, muss der Unterricht gut rhythmisiert und auch mal unterbrochen werden. Die Blockzeiten führen dazu, dass die Schüler schneller ermüden und ihre Aufmerksamkeit schwindet.

Spüren Sie, dass die Anforderungen heute höher sind als früher?

Noger: Ich stelle fest, dass Kinder vermehrt Stresssymptome aufgrund des Leistungsdrucks zeigen. Dahinter steckt die Angst, durchzufallen und den Anforderungen nicht zu genügen.

Kommt der Druck von den Eltern?

Noger: Für viele Eltern ist es ein brennendes Thema, ob ihr Kind das macht, was es soll und ob es den Anforderungen entspricht. Wir motivieren die Eltern dazu, jederzeit den Unterricht zu besuchen. Leider sind viele beruflich eingebunden und machen von dem Angebot – ich betrachte es als Wertschätzung gegenüber dem Kind – nicht Gebrauch.

Wie gehen Sie mit Eltern um, die zu viel von den Kindern verlangen?

Noger: Ich suche das Gespräch. Aber es sind manchmal auch kulturelle Hintergründe. In manchen Kulturen gehört Drill dazu. Die Eltern wurden in ihrer Schulzeit auch gepusht. Drill kann zwar zu einem hohen Schulniveau führen, die persönliche Reife hinkt aber meist hinterher. Deshalb will ich den Eltern nahelegen, das Kind im rechten Mass zu fördern, ihm aber Raum und Zeit zu lassen. Die Schulzeit dauert immerhin neun Jahre.

Wie unterscheidet sich ein heutiger Erstklässler von einem vor 20 Jahren?

Noger: Man spürt, dass manche Kinder reizüberflutet sind, weil sie am Morgen bereits ferngesehen oder auf dem Smartphone gespielt haben. Manche haben Mühe, sich zurückzunehmen und auf andere einzugehen. Ich vermittle ihnen, dass wir eine Schicksalsgemeinschaft sind und damit klarkommen müssen, dass andere auch mal was machen, was ich nicht lässig finde. Die Kinder sollen gesellschaftsfähige Menschen werden.

Welche Schwerpunkte setzen Sie ansonsten in Ihrem Unterricht?

Noger: Ich unterrichte nach dem Motto «Back to the Roots» und will, dass sie einen guten Boden für ihre schulische Karriere erhalten und nicht zig Dinge ein wenig lernen. Es ist nicht förderlich, wenn Schüler vieles, aber das zu wenig fundiert lernen.

Welche Momente machen Ihren Job zum Traumjob?

Noger: Die Arbeit mit Kindern generell. Sie hält jung und ihre Freude überträgt sich auf mich. Ausserdem kann ich meinen Unterricht jedes Jahr neu erfinden, kann mich weiterbilden, den Unterricht den Gesellschaftsentwicklungen anpassen und geniesse viel kreative Freiheit.

Und in welchen Augenblicken sträuben sich Ihre Haare?

Noger: Belastend ist, wenn man mit schwierigen Schülern alles probiert und nicht weiter kommt. Sei es bei schulischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten. Schlimm ist auch, wenn ein Kind nicht auftaucht. Ich kann dann nicht unterrichten. Wenn ich die Eltern nicht erreiche, muss ich den Quartierpolizisten informieren. Glücklicherweise ist bis jetzt jedes Kind wieder aufgetaucht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der St. Galler Schulen?

Noger: Ich hoffe, dass es in der Schweiz weiterhin gute öffentliche und durchmischte Schulen gibt. Es soll nicht passieren, dass alle reichen Eltern ihre Kinder auf private Schulen schicken.