Kantone bei Prämienverbilligung zu knauserig: SP will bis zu 300'000 Haushalte entlasten

Hunderttausende Schweizer Familien erhalten zu Unrecht keine Prämienverbilligung: Zu diesem Schluss kommt die SP nach einem Urteil des Bundesgerichts. Jetzt setzen die Genossen die Kantone unter Druck.

Kari Kälin
Drucken
Die SP-Vertreter Barbara Gysi, Nadine Masshardt und David Roth (v. r.) anlässlich der gestrigen Medienorientierung. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone)

Die SP-Vertreter Barbara Gysi, Nadine Masshardt und David Roth (v. r.) anlässlich der gestrigen Medienorientierung. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone)

Da ist die Frau, die ihr Instrument verkauft hat. Oder die Familie, die beim Essen spart. Der Vater, der sich bescheidene Ferien nicht mehr leisten kann. Dies alles ist im Kanton Luzern passiert, weil die Regierung die Ausgaben zur Verbilligung der Krankenkassenprämie kürzte. So stellte es David Roth, Präsident der Luzerner SP, am Montag einer Medienkonferenz in Bern dar.

Solche Entbehrungen sollen jetzt der Vergangenheit angehören. Das Bundesgericht hat den Sparentscheid des Luzerner Regierungsrats gekippt, nachdem Personen aus dem Umfeld der SP geklagt hatten. Es war nicht rechtens, ab 2017 nur noch Familien mit einem Nettoeinkommen bis 54000 Franken Prämienverbilligung für Kinder und junge Erwachsene zu gewähren. Vorher betrug die Schwelle 75000 Franken. Roth geht davon aus, dass Luzern jetzt 8000 Familien 15 Millionen Franken vorenthaltene Gelder überweisen muss.

Das Bundesgericht hielt fest, von der Prämienverbilligung sollten nicht nur die einkommensschwächsten, sondern auch Haushalte mit mittleren Einkommen profitieren. Auch der untere Mittelstand hat also Anrecht auf finanzielle Entlastung. Das Medianeinkommen liegt im Kanton Luzern bei 87'000 Franken. Der Median bedeutet, dass die eine Hälfte der Luzerner Haushalte mehr verdient als 87'000 Franken und die andere weniger. Auf eine konkrete Zahl zur Einkommensschwelle hat sich das Bundesgericht nicht festgelegt. Klar ist aber: Der Kanton Luzern war zu knausrig.

Neun Kantone entlasten Mittelstand nicht

Die SP Schweiz nutzt das Verdikt aus Lausanne für eine schweizweite Offensive für mehr Prämienverbilligung. Sie fordert alle Kantone auf, die Einkommensgrenze der Rechtssprechung des Bundesgerichts anzupassen. «Die SP Schweiz wird zusammen mit den Kantonalparteien den Versicherten zu ihrem Recht verhelfen», sagte SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi am Montag vor den Medien. Die SP zielt mit ihrem Angriff vor allem auf jene neun Kantone (BE, LU, VS, GL, AR, AI, AG, VS, NE), die gemäss einem Bericht des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) dem Mittelstand gar keine Prämienverbilligung entrichten – egal, ob es sich um alleinstehende Personen oder Familien handelt. Als Mittelstand gelten Haushalte mit einem Einkommen von mindestens 70 Prozent des Medians. Einzig der Kanton Graubünden überschreitet in allen Haushaltskonstellationen diese Schwelle. Wenn die Kantone innerhalb eines Monats nichts unternehmen, um mehr Prämienverbilligung entsprechend dem Entscheid des Bundesgerichts anzupassen, wird die SP diese verklagen. Die kurze Frist hält Roth für angemessen. Schliesslich habe der Kanton Luzern seine Sparmassnahme auch schnell zu Lasten der Bezugsberechtigten umgesetzt. Die SP geht davon aus, dass wegen des Bundesgerichtsurteils bis zu 300000 Haushalte neu Anrecht auf Prämienverbilligung haben. Wenn die Kantone die Forderung der SP umsetzen, müssten sie Hunderte zusätzliche Millionen an die Versicherten entrichten. Muss dies der Mittelstand, der von den Verbilligungen profitieren soll, auf der anderen Seite mit Steuererhöhungen berappen? Roth will das verhindern: «Dazu bieten wir nicht Hand.»

Ausgaben haben sich verdreifacht

Seit das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) 1996 in Kraft getreten ist, haben sich die Ausgaben für die Prämienverbilligung auf rund 4,5 Milliarden Franken verdreifacht (siehe Grafik). Die Kantone steuerten dazu in den letzten Jahren tendenziell immer weniger Geld bei. Gemäss einem aktuellen Monitoring-Bericht des BAG haben in den letzten Jahren fünf Kantone, darunter Luzern und Solothurn, ihren Beitrag gesenkt. Nur die Kantone Waadt und Jura stockten auf. Der Beitrag des Bundes ist fix. Er beträgt 7,5 Prozent der Bruttokosten der obligatorischen Krankenversicherung.

Gemäss dem KVG kommen Personen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen in den Genuss staatlicher Zuwendungen. Bei der Berechnung derselben haben die Kantone Spielraum. In traditionell föderalistischer Manier manifestieren sich erhebliche Unterschiede. Im Kanton Luzern etwa erhielten 2017 nur 19,2 Prozent der Bevölkerung Prämienverbilligung, am höchsten fiel diese Zahl im Kanton Schaffhausen (34,5 Prozent) aus. Die durchschnittlichen Beträge pro Haushalt variieren von 2020 Franken im Kanton Bern bis 5572 Franken im Kanton Baselstadt. Barbara Gysi nennt das einen «föderalistischen Flickenteppich». Die St. Galler Nationalrätin propagierte die SP-Initiative als Lösung, wonach alle Haushalte maximal 10 Prozent ihres Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben sollen.

Die Aufwendungen für das Gesundheitswesen steigen derweil ungebremst. Im Abstimmungsbüchlein versprach der Bundesrat vom KVG eine kostendämpfende Wirkung. Gut 20 Jahre später haben sich die Ausgaben auf mehr als 80 Milliarden Franken pro Jahr verdoppelt.