Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Eine Stadt wird geöffnet

Techniker in Spezialanzügen arbeiten in Schichany an der Entleerung einer mit Kampfstoff gefüllten Fliegerbombe. Foto: UIG, Getty Images

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Es muss ein gespenstischer Anblick gewesen sein an jenem Oktobertag im Jahr 1987 im kleinen Ort Schichany an der Wolga. Mit Gasmasken über den Gesichtern sahen Abrüstungsexperten und Journalisten aus 45 Staaten dabei zu, wie ein weisses Kaninchen einen Tropfen des Nervengifts Sarin aus einer 250-Kilo-Bombe verabreicht bekam und zuckend verendete.

Michail Gorbatschow hatte die Besucher in das hoch geheime Chemiewaffenzentrum eingeladen, um der Welt zu demonstrieren, dass es der sowjetischen Führung ernst war mit Offenheit und Abrüstung. Im Anschluss an den Kaninchentrick wurde der Rest der giftigen Bombe vor den Augen der Gäste in einem Spezialofen vernichtet.

Als fünf Jahre später die Teilnehmer der Genfer Abrüstungskonferenz die Ächtung von Chemiewaffen beschlossen, konnte die Menschheit aufatmen. Für die Menschen in Schichany aber war das Abkommen eine Katastrophe. Der Ort, gut 700 Kilometer südöstlich von Moskau an der Wolga gelegen, war eine jener Inseln im sozialistischen Raum, in der eine Elite in bescheidenem Wohlstand und ohne Mangel leben konnte. Forscher und Assistenten wurden von den besten Hochschulen des Landes angeworben, sie bekamen Wohnung und Lebensmittel, die es andernorts nur an Feiertagen gab. Aus dem 140 Kilometer flussabwärts gelegenen Saratow kamen die Menschen, um in Schichany Würste zu kaufen.

Seit dem Fall Skripal wieder im Fokus

Doch mit der Abrüstung begann der Niedergang. Und vielleicht hätte die Welt den Ort bald endgültig vergessen, wären nicht der ehemalige Doppelagent Sergei Skripal und seine Tochter Julia am 4. März dieses Jahres bewusstlos auf einer Bank im englischen Salisbury gefunden worden – vergiftet mit einer Variante von Nowitschok, von der die Briten sagen, sie stamme aus einem Labor in Schichany.

----------

----------

Ehemalige Mitarbeiter haben bestätigt, dort in einer Aussenstelle des Staatlichen Forschungsinstituts für organische Chemie und Technologie an dem binären Kampfstoff geforscht zu haben. Die russische Regierung bestreitet, dass es je ein Nowitschok-Programm gab. Diese Woche schliesslich beschied Präsident Wladimir Putin per Erlass, den Sonderstatus des Ortes auf den 1. Januar 2019 aufzuheben.

Eine Erklärung für diese Entscheidung gab der Kreml nicht. 40 solcher geschlossener Orte gibt es bis heute in Russland. Der Status soll die Rüstungsindustrie vor Spionage schützen. Zufahrtsstrassen werden bewacht. Wer hinein will, braucht einen Passierschein. Gleichzeitig gibt der Status den Bewohnern das Gefühl, privilegiert zu sein. Umgerechnet je 500'000 Franken hat Putin der Verwaltung in seinem Dekret für die nächsten zwei Jahre zugeteilt, um die Härten des Wandels abzufedern.

Karte vergrössern

Nach der Verabschiedung der Chemiewaffenkonvention hatten die Bewohner zunächst darauf gehofft, etwas von den Mitteln abzubekommen, die für die Vernichtung der Kampfstoffe zugeteilt wurden. Aber von dem Geld kam an der Wolga nur ein Teil an und dazu noch mit Verspätung. Die Zahl der Mitarbeiter im Staatlichen Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie sank von 3500 auf 500.

Bald berichteten russische Medien, dass die Angestellten sich ihre Löhne einklagen mussten. Wissenschafter und Angestellte, die ihr Leben lang mit hoch gefährlichen Stoffen hantiert hatten, bekam nur Minimalrenten, weil das Institut ihre Beiträge zur Pensionskasse unterschlagen hatte.

Ein Albtraum für Sicherheitsexperten

Dutzende Experten für chemische Kampfstoffe mit Zugang zu geheimen Laboren, die nicht wissen, wovon sie leben sollen und sich von ihrem Staat im Stich gelassen fühlen, sind ein Albtraum für Sicherheitsexperten. Mitte der 90er- Jahre erwarb der deutsche Nachrichtendienst eine Probe des Kampfstoffs Nowitschok, der bisher nur aus Berichten ehemaliger Mitarbeiter bekannt war.

In den 2000er-Jahren, als andere Regionen Russlands dank des steigenden Ölpreises endlich einen Aufschwung erlebten, protestierten die Bewohner von Schichany immer wieder, weil Löhne nicht ausgezahlt wurden. Spezialisten arbeiteten als Krankenpfleger oder Nachtwächter, um über die Runden zu kommen.

----------

Eine Chronologie der zwei Nowitschok-Fälle in Bildern

1 / 9
Der Ex-Spion Sergei Skripal wurde kurz vor dem Anschlag von einer Überwachungskamera gefilmt.
Chronologie: In Grossbritannien ist es bislang in zwei Fällen zu Vergiftungen mit dem Nervengift Nowitschok gekommen. Eine Übersicht der wichtigsten Ereignisse.
19. Juli 2018: Die britische Press Association meldete mit Verweis auf Ermittlerkreise, es seien die «mutmasslichen Täter des Nowitschok-Anschlags per Videoüberwachung identifiziert» worden. Die Ermittler seien «sicher», dass es sich um Russen handle.

----------

In den Laboren werden jetzt Industriechemikalien hergestellt, aber die Produkte können sich auf dem privaten Markt nicht durchsetzen. Gerade einmal ein Fünftel ihres Haushalts kann die Verwaltung heute aus eigenen Mitteln aufbringen, der Rest sind Subventionen.

Ob die von Putin angeordnete Aufhebung des Sonderstatus der Geschichte vom Giftgas in Schichany ein Ende setzten wird, ist unklar. Bekannt ist aber ihr Anfang. Es war die Deutsche Reichswehr, die hier 1927 einen Übungsplatz für chemische Waffen eingerichtet hatte. Neben der Fliegerschule in Lipezk und der Panzerschule in Kasan war es eines von drei geheimen Projekten, die als «private Initiativen» getarnt wurden. Der Vertrag von Versailles verbat dem Deutschen Reich solche Kampfeinheiten. Die Sowjetunion war am deutschen Know-how interessiert.