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Übermenschen und Dopingsünder

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Trotzdem übt die Tour immer noch eine grosse Faszination aus: Leader Christopher Froome und Kollegen kämpfen sich 2015 die Alpe-d'Huez hoch. Foto: De Waele (Getty)
Die Anfänge eines Rennens, das zum Phänomen wurde: Die Tour de France 1910.
Ab den 50er-Jahren war das Publikum über das Fernsehen live mit dabei: Der Franzose Jacques Anquetil während eines Zeitfahrens 1957.

Mit seiner Geburt verlor der Radsport zugleich seine Unschuld. 1868 fand das erste verbürgte Radrennen statt. Im Park von Saint-Cloud, im Westen von Paris gelegen, fuhren einige Waghalsige auf den damals gängigen Hochrädern gegeneinander. 1200 Meter betrug die Distanz, zum Parkbrunnen und zurück führte der Kurs, und die feine Gesellschaft schaute staunend zu, wie die Fahrer mit bis zu 25 km/h auf den Velo-Ungetümen um die Wette fuhren.

Ein neues Vergnügen war erfunden. Die Fahrer verdienten dabei sehr gutes Geld. Der Sieger erhielt schon mal eine Prämie, für die ein Arbeiter damals ein halbes Jahr schuften musste. Die Zuschauer im Park hatten zudem ein Rennerlebnis, wie es erst ihre Nachfahren knapp 100 Jahre später wieder haben würden: Sie konnten den ganzen Wettstreit mitverfolgen. Diese Möglichkeit kehrte erst mit dem Fernsehen zurück. In der Zeit dazwischen würden sich die Interessierten auf die Zeitungsberichte stützen müssen.

Die Aufregung um die Rennen im Park schrumpfte jedoch bald. Also mussten die Wettkämpfe spektakulärer gemacht werden. Ein Jahr nach den Rennen in Saint-Cloud starteten am Arc de Triomphe 120 Teilnehmer zu Paris–Rouen, das über 123 Kilometer führte. Der Brite James Moore, er hatte bereits einmal in Saint-Cloud gewonnen, bewältigte die Strecke in 10:40 Stunden. In den 24 Stunden bis zum Zielschluss schafften es weitere 31 Teilnehmer nach Rouen.

Die ersten Rennen: Je länger, desto besser

Die Bewunderung des Publikums war ihnen gewiss. Es war damals aber weniger der Wettstreit an sich, der die Leute am Radsport faszinierte. Sondern die Frage, ob es überhaupt möglich ist, solche Strecken mit diesen Gefährten zurückzulegen. Entsprechend wuchsen mit jedem neuen Rennen die Distanzen. 1891 wurden Bordeaux–Paris (575 km) und Paris–Brest–Paris (1260 km) erstmals ausgetragen. Stets wurde die Grenze des für machbar Gehaltenen weiter hinausgeschoben.

Bordeaux–Paris wurde von der Radsportzeitung «Véloce-Sport» organisiert, um den Umzug der Redaktion von der Westküste in die Hauptstadt zu begehen. Die Zeitung setzte damit einen Trend, der grundlegend war für die Weiterentwicklung des Sports. Den nächsten Meilenstein setzte 1903 die Sportzeitung «L'Auto». Deren Name mag etwas eigentümlich anmuten für ein Sportblatt. Dieses hatte ursprünglich «L'Auto-Vélo» geheissen, das «Vélo» aus konkurrenzrechtlichen Gründen aber aus dem Namen streichen müssen. Um den Bezug zum Radsport nicht zu verlieren, erfand man die Tour de France.

Der Erfolg der Rundfahrt wurde im Vorfeld bezweifelt, selbst bei «L'Auto». Als die Fahrer zur ersten von sechs Etappen (à rund 400 km) aufbrachen, war das öffentliche Interesse noch gering. Doch das änderte sich in den folgenden drei Wochen grundsätzlich – dank den Rennberichten, die täglich in «L'Auto» erschienen. Die Auflage der Zeitung stieg im Lauf des Rennens von 20'000 auf 65'000, die Fahrer wurden bei ihrer Rückkehr nach Paris von Menschenmassen empfangen. Ein Massenphänomen sind diese grössten Rennen im Kalender bis heute geblieben. Nicht mehr in der Dimension von einst, als die Radprofis die Könige des Sports waren. Aber auch heute werden sie im Juli zelebriert. Man reist zur Strecke, auf die Pässe, um die Fahrer zu feiern, wo ihre Vorgänger schon 100 Jahre zuvor gelitten hatten.

Als Christophe seine Gabel schmiedete

Die Auflage von «L'Auto» stieg dank der Tour weiter. Das hatte weniger mit dem Rennen zu tun als mit der Art, wie über dieses berichtet wurde. Hatten sich die Journalisten ursprünglich an einen sehr faktischen, nüchternen Stil gehalten, realisierten sie bald, dass, je heroischer sie die Taten der Rennfahrer schilderten, desto interessanter diese für die Leser wurden.

Das französische Erfolgsrezept wurde 1907, vier Jahre nach der Tour-Premiere, in Italien von der «Gazzetta dello Sport» kopiert. Die knüpfte optisch eine noch engere Verbindung zur eigenen Publikation: mit dem Leadertrikot in Rosa, der Farbe des Zeitungspapiers.

Es war also nie der sportliche Wettstreit, der bei diesen bestimmenden Radrennen im Zentrum stand. Sondern stets der ökonomische Nutzen, den die Veranstalter aus diesen herausziehen konnten.

Tour-Gründer Henri Desgrange pröbelte auch ständig am Modus seines Rennens herum. Anfänglich waren es Einzelfahrer, die zur Tour antraten, die besten wurden von den aufstrebenden Velofabriken unterstützt. Oft bis an den Rand der Legalität, etwa indem die Sponsoren andere Fahrer anwarben, die dann ihre Spitzenkräfte unterstützten.

Desgrange versuchte dem entgegenzusteuern. Er führte Einheitsfahrräder ein, zudem verbot er Hilfeleistung an den Athleten im Fall eines Defekts. So kam es auch zu einer der berühmtesten Episoden der Radgeschichte. Jener von Eugène Christophe, der 1913 als Gesamtführender in der Abfahrt vom Tourmalet einen Gabelbruch erlitt. Um weiterfahren zu können, musste er die Gabel am Fusse des Passes in einer Werkstatt eigenhändig wieder zusammenschmieden. Der Franzose sollte zwar nie die Tour gewinnen, erreichte so aber eine grössere Berühmtheit als mancher Sieger.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden an der Tour nur mehr Nationalteams zugelassen, was das internationale Interesse am Rennen noch einmal steigerte – Chauvinismus sei Dank. Der Erfolg schwappte auf andere Länder über. 1933 fand die erste Tour de Suisse nach dem gleichen Schema statt, 1935 in Spanien die Vuelta. In den Jahren zwischen den Weltkriegen erlebte auch «L'Auto» seine beste Zeit. Mit einer durchschnittlichen Auflage von 360'000 Exemplaren, welche im Juli während der Tour bis auf 600'000 hochschnellte.

Es war dann der Fortschritt der Technik nach Ende des Zweiten Weltkriegs, der für den nächsten Entwicklungsschub sorgte: In den 1950er-Jahren gerieten die Velohersteller in eine Krise – das aufkommende Moped konkurrenzierte das Velo immer stärker. Die Lösung für den Radsport fand ein Fahrer: Fiorenzo Magni wagte es 1954, für sein Team mit Nivea den ersten Sponsor ausserhalb der Radsportindustrie zu finden. Mittlerweile geht die Entwicklung in die Gegenrichtung: Weil es immer schwieriger wird, grosse Sponsoren zu finden, betätigen sich heute auf Worldtour-Stufe vier Fahrradhersteller als Haupt- oder Co-Sponsoren.

Die 1950er brachten auch das Ende des Rad-Heldentums: Das Fernsehen begann, Rennen live zu übertragen. Nun waren die langen Abschnitte sichtbar, in denen wenig bis nichts passierte, die Fahrer die Kilometer frei von Problemen und heroischen Taten abspulten. So beeindruckt das Publikum von den damaligen Dominatoren wie Jacques Anquetil und später Eddy Merckx war – in den Vergleichen mit den alten Helden wie Fausto Coppi und Gino Bartali, Ferdy Kübler und Hugo Koblet, deren Taten nur schriftlich überliefert worden waren, verblassten ihre Leistungen.

Kokain, Morphium und «La Bomba»

Kritisch wurden diese noch lange nicht hinterfragt. Jener Prozess setzte erst in den vergangenen 20 Jahren richtig ein. Dass die Radprofis sich aufputschten, galt angesichts ihrer enormen Herausforderungen als völlig legitim. Klar brauchte es besondere Mittelchen, um diese Strapazen zu überstehen. In den Anfangszeiten des Radsports kursierte das «Elixir de vitesse», ein Trunk mit Kokain und Morphium. Coppi gab zu, «La Bomba», eine Kombination von Amphetaminen zu konsumieren – wenn es nötig sei. Und das war es meist. Anquetil machte sich über Fahrer lustig, die auf die Hilfe dieser Mittel verzichteten.

Auch Todesfälle konnten die Fahrer nicht vom Dopen abhalten. Doch die öffentliche Meinung drehte 1967, als Tom Simpson am Mont Ventoux starb, vollgepumpt mit Aufputschmitteln und Alkohol, live vom Fernsehen übertragen.

Anfänglich ging es bei Kontrollen primär um die Gesundheit der Fahrer. Erst seit dem Festina-Skandal 1998 begann sich im Radsport der Gerechtigkeitsbegriff so richtig zu entwickeln. Das hat dazu geführt, dass heute jede grosse Leistung hinterfragt wird, was angesichts der Vergangenheit des Sports nur logisch erscheint. Die Heldenepen von einst, sie sind weit weg. Doch der Radsport, er hat nichts von seiner Faszination verloren.