Ein Menschenteppich gegen AKW-Temelin

Umweltverträglichkeitsprüfung spricht von schweren Sicherheitsmängeln des tschechischen Kernkraftwerks

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Kein Ende der österreichischen Proteste gegen das umstrittene tschechische Kernkraftwerk Temelin. Nach der Pannenserie kamen Grenzblockaden. Vergangenen Dienstag wurde ein Hearing zur Umweltverträglichkeitsprüfung boykottiert. Kritiker befürchten, dass die österreichische Regierung ein politisches Druckmittel leichtfertig verspielt.

Ein brisantes Thema füllt üblicherweise Vortragssäle. Volles Haus erwartete deshalb die österreichische Regierung, respektive das Umweltministerium, als Veranstalter einen Hearings zum umstrittenen tschechischen Atomkraftwerk Temelin. Allein die geladenen Gäste - die österreichischen Bürger- und Bürgerinnen - spielten nicht mit. In den Wiener Redoutensälen fanden sich vergangenen Dienstag nicht einmal hundert Gäste ein. Vorwiegend österreichische und tschechische Beamte lauschten neben einigen Journalisten den Ausführungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung des Kraftwerks. Zuvor hatte die Polizei noch einige "störende Elemente" aus dem Saal entfernt. Temelin-Gegner ließen sich teilweise mitsamt ihren Sesseln von den Sicherheitskräften aus dem Gebäude tragen.

Der Hauptpart der Protestaktion sollte sich ohnehin in der Wiener Innenstadt abspielen. Schließlich hatten Umweltschutzgruppen, SPÖ und Grüne zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen. Der konservative ÖVP-Landeshauptman von Oberösterreich schloss sich an. Damit ging er auf offenen Konfrontationskurs mit seinem Parteikollegen, dem österreichischen Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer. Dieser hatte das Hearing arrangiert und sah darin eine "Gelegenheit, die kritischen Einwände Österreichs in die Diskussion einzubringen". Die Boykotteure sprachen hingegen von einer "Alibi-Aktion". Vor dem Veranstaltungsort veranstalteten AKW-Gegener ein "Die In", legten sich wie Tote auf die Straße.

Der Aktionismus ist Ausdruck der Sorge um die weitere Entwicklung in Sachen Temelin. Die Grünen kritisieren zum einen, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nicht nach tschechischem Recht durchgeführt wird und es keine Garantie für eine Berücksichtigung der österreichischen Einwände im UVP-Verfahren gebe. "Außerdem wurde die UVP-Dokumentation auf Basis veralteter Studien erstellt", betont der Pressesprecher der oberösterreichischen Grünen, Fritz Holzinger, gegenüber Telepolis. "Es besteht die Gefahr, dass Molterer alibimäßig Kritik äußert und mit dem Abschluss des UVP-Verfahrens das EU-Energiekapitel finalisiert wird. Das österreichische Parlament hatte ja beschlossen, dass es ohne UVP von österreichischer Seite kein grünes Licht für den Abschluss des EU-Energiekapitels geben würde, was die Voraussetzung des EU-Beitritts Tschechiens wäre. Damit gibt man jetzt einen sinnvollen Trumpf aus der Hand." Politische Druckmittel wären aber gerade angesichts der Pannenserie im AKW-Temelin aber überaus wichtig.

Seit der Aktivierung des Reaktors am 9. Oktober 2000 haben sich zahlreiche Störfälle ereignet. In einer grafischen Darstellung der österreichischen Nachrichtenagentur APA wird eine Auswahl aufgelistet. Bereits am 26. Oktober 2000 kam es zu einem Störfall an Pumpen im Primärkreislauf, dann eine Panne beim Test des Kühlsystems, wieder ein Pumpenausfall am 16. Dezember - diesmal im Sekundärkreis. Am 12. Januar dieses Jahres kommt es zu einem Brand im nichtnuklaren Bereich. Am 3. Mai wird Temelin wegen andauernder Probleme abgeschaltet. Mehr als 20 Störfälle wollen die Grünen bisher gezählt haben.

Entgegen einer Vereinbarung zwischen Tschechien und Österreich wurde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht voll und ganz der Benachrichtigungspflicht entsprochen. So meldete eine österreichische Anti-Temelin-Website erst jüngst eine Panne: "Störfall verschwiegen! Temelín, 21. 6. 2001, 15.00 Uhr - Nach vertraulichen Berichten von Mitarbeitern des AKW Temelín ist die 56 Meter lange Bodenplatte, die als Auflage für die Turbine im Block1 des AKW Temelín dient, schwer beschädigt. Ihre Neigung hat sich verändert, das Material ist beschädigt. Eine Reparatur wird kaum möglich sein." Zwei Tage später wurde diese Meldung offiziell bestätigt.

Die Störfälle waren zwar nicht mit einem Austritt von Radioaktivität verbunden, verweisen aber auf eklatante Mängel im Kernkraftwerk. "Der Reaktor ist ein Ost-West Prototyp und die Störfälle bestätigen unsere Sicherheitsbedenken", so der langjährige Atom-Referent der Grünen, Fritz Holzinger. In dem kürzlich von Experten an die österreichische Bundesregierung übermittelten UVP-Bericht wird ebenfalls festgehalten, dass die Sicherheitsstandards nicht den 1998 formulierten Richtlinien der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) entsprechen.

"Für das KKW Temelin existieren Sicherheitsdefizite, welche die Wirksamkeit und Verläßlichkeit des Mehrbarrierenkonzeptes ("Defence in Depth" (INSAG-3, INSAG-12) signifikant beeinträchtigen. Gemäß geltender europäischer Praxis wäre ein Betrieb der Anlage mit den aufgezeigten Sicherheitsdefiziten nicht möglich. Eine "Beschreibung der Maßnahmen, mit denen erhebliche nachteilige Auswirkungen vermieden, verringert und soweit möglich ausgeglichen werden sollen", wie sie die EU UVP-RICHTLINIE DES RATES 97/11 verlangt, ist in den Unterlagen nicht enthalten.
Der in der UVP-Dokumentation angegebene Wert von 2.6E-5 pro Reaktorjahr für das "Risiko der Entstehung schwerer Unfälle im KKW Temelin" ist nicht nachvollziehbar und widerspricht den Ergebnissen der für das KKW Temelin im Jahr 1995 fertiggestellten Probabilistischen Sicherheitsanalyse und den Angaben der SUJB-Unterlagen (SUJB Mai 2001) zu schweren Unfällen. Entsprechend den Resultaten der Probabilistischen Sicherheitsanalyse aus dem Jahr 1995, erfüllt Temelin nicht die quantitativen Sicherheitsziele der Internationalen Atomenergiebehörde (INSAG-12) für bereits existierende Anlagen."
(Umweltverträglichkeitsprüfung)

Trotz dieser klaren Worte ist den AKW-Kritikern der offizielle Bericht zu kurz gegriffen und zu vorsichtig formuliert. Da er sehr schnell und teilweise basierend auf älterem Material erstellt wurde, wären die Gefahren nicht in der tatsächlichen Dimension dargestellt worden, heißt es. Vor allem die verwendeten Stromverbrauchsprognosen stoßen den Gegnern auf. So hatte Tschechien gegenüber der Öffentlichkeit immer wieder mit dem steigenden Eigenbedarf argumentiert. Die Zahlen sprechen allerdings eine andere Sprache. Temelin sei primär als Kraftwerk für den Stromexport gedacht gewesen, behaupten die Gegner. Die tschechischen Befürworter brachten außerdem ein Umweltargument ins Spiel. Auf einer Temelin-PR-Webpage heißt es dazu:

"In einem einzelnen Betriebsjahr sparen die zwei Blöcke von AKW Temelín etwa 14 Mio. Tonnen von Braunkohle sowie eine halbe Mio. Tonnen von qualitativ hochwertigem Kalkstein, der zur Entschwefelung der Kohlekraftwerke erforderlich wäre. Im Hinblick auf die Abfälle erreicht die Ersparnis rund 100 km3 von Rauchgasen und 5 Mio. Tonnen von Schlacke und Asche."

Angesichts der anderen Umweltrisiken, eine haarsträubende Argumentation, befinden Kritiker. Hinter dem Beharren auf Temelin stecken selbstredend starke ökonomische Interessen. Wie Telepolis berichtete, kam die Finanzierung der Errichtung bereits unter merkwürdigen Umständen zustande: "Flankiert und mit Millionenkrediten ( etwa 334 Millionen US-$ ) zu einmalig günstigen Konditionen subventioniert wurde der Auftrag an Westinghouse durch die staatliche Export-Import-Bank der USA. Doch auch die bei der Ausschreibung unterlegene europäische Atomlobby gab Westinghouse propagandistisch in den letzten Jahren massiv Schützenhilfe. Westinghouse gehört auch nach seiner kürzlich erfolgten Übernahme des Nuklearbereichs des skandinavischen ABB-Konzerns zum europäischen Atomkartell." (Genehmigungsverfahren für Atomkraftwerk Temelin in Tschechien abgeschlossen).

Ob der Pannenserie ist die Betreibergesellschaft CEZ aber gehörig in Bedrängnis geraten. Dem Vernehmen nach wurde mit Unternehmen aus Deutschland und Frankreich als potenzielle Abnehmer verhandelt. Die Unsicherheit darüber, ob Temelin jemals Strom liefern könnte und die Vetodrohung Österreichs beim Abschluss des EU-Energiekapitels ließ aber Interessenten abspringen. Inzwischen liegen auch Studien zu den Kosten vor, die die Nichtinbetriebnahme beziehungsweise eine Stillegung verursachen würde. Die darin kolportierten Verlustsummen sind zweifelsohne hoch. Die Abgeordnete der Grünen, Eva Glawischnig, schlägt deshalb die Ausrichtung einer Temelin-Ausstiegskonferenz vor, bei der auch über finanzielle Hilfen gesprochen werden sollte. "Glawischnig, die sich auf nicht näher spezifizierte Quellen in Prag beruft, glaubt, dass die 'Schmerzgrenze' bei 15 Mrd. Schilling (ca. 2.Mrd. DM) liege. Österreich solle als 'sicherheitspolitische Ausgabe' drei bis fünf Milliarden bereitstellen", berichtet die österreichische Tageszeitung Die Presse.

Inzwischen hat auch der österreichische Landwirtschaftsminister Molterer einen Rückzieher gemacht. War das Hearing wohl ursprünglich aus diplomatischen Erwägungen angesetzt worden, so erschien Molterer zur Veranstaltung dann doch nicht. Ob dies als Zeichen zu werten ist, dass man das Pfand der Verweigerung eines positiven Abschlusses des EU-Energiekapitels von Seiten Österreichs behalten will, wird sich zeigen. Zumindest wäre das Beharren auf dieses Druckmittel sinnvoller, als ein österreichisches Votum gegen den EU-Beitritt Tschechiens. Das schwebt nämlich der rechtspopulistische FPÖ vor, wobei Temelin hier offensichtlich funktionalisiert wird, um die EU-Osterweiterung zu blockieren. Umweltschutzgruppen wie Greenpeace und Global2000 haben dieses Vorgehen der FPÖ scharf kritisiert. Es gehe hier schließlich primär um die Lösung des Problemfalls Temelin.

Die ökologischen motivierten Proteste gehen indes weiter und können sich auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung verweisen. Allerdings kommt es neuerdings zu Polizeieinsätzen. Erst unlängst wurde eine Grenzblockade österreichischer Temelin-Gegner am Übergang Wullowitz aufgelöst. Demonstranten warfen der Gendarmerie brutales Vorgehen vor. Es wird sich zeigen, ob jüngsten Polizeieinsätze Vorboten einer Änderung in der bisher kritischen Haltung der österreichischen Regierung gegenüber Temelin war.