Interstellares Artefakt aus ferner Vergangenheit?

NASA/JPL

In einer fundierten Studie spekulieren seriöse US-Astronomen über einen künstlichen Ursprung des 2017 im Sonnensystem entdeckten interstellaren Exoten 'Oumuamua. Könnte es das Überbleibsel eines außerirdischen Raumgefährts sein?

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16 Kilometer westlich der renommierten University of California/Berkeley (USA), abseits der touristischen Hochburg San Francisco und jenseits der hiesigen großstädtischen Lichtverschmutzung thront in Lafayette auf einer Anhöhe von 306 Metern ein geschichtsträchtiges optisches Teleskop. Mit einem Durchmesser von 76 Zentimetern mutet es im Vergleich zur modernen Großfernrohr-Generation wie ein Leichtgewicht an. Dennoch versprüht es ganz besonderen Charme und besetzt eine Nische wie nur wenige Instrumente seiner Art.

Seit 1968 im Einsatz, wird das Universitäts-Fernrohr größtenteils für Schulungen und Studienprojekte von Master-Studenten und Doktoranden genutzt, die schwerpunktmäßig Kometen, Kleinplaneten und Satelliten beobachten. Doch auch in größere professionelle Forschungsprojekte war das Teleskop oft involviert. So nahm es aktiv an der Suche nach Supernovae teil und war überdies bei der Fahndung nach außerirdischer Intelligenz eine Zeitlang ein wichtiges Arbeitsgerät für jene SETI-Forscher, die sich der Optical-SETI-Variante verschrieben hatten.

SETA-Pionier

Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war der damals 29-jährige Physiker Robert A. Freitas aus Santa Clara (Kalifornien). Im Jahr 1979 fahndete er just mit dem 76-Zentimeter-Leuschner-Teleskop nach interstellaren Raumsonden in einer stabilen Erd-Mond-Umlaufbahn und markierte damit eine kleinere wissenschaftshistorische Zäsur.

Zusammen mit dem Berkeley-Astrophysiker Francisco Valdes startete er erstmals eine wissenschaftlich-systematische Beobachtungskampagne nach außerirdischer Intelligenz mit einem optischen Teleskop im sichtbaren Licht, die auch offiziell als solche in den SETI-Annalen dokumentiert wurde. Seinerzeit richteten beide Wissenschaftler ihr Augenmerk auf die 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernten L4- und L5-Librationspunkte (Lagrange-Punkte), wo sich die Gravitationskräfte benachbarter Himmelskörper und die Zentrifugalkraft der Bewegung gegenseitig aufheben.

Eine dort positionierte Raumsonde würde sich, so Freitas und Valdes, synchron zur Erde bewegen und daher ihre relative Position zur Erde halten. Vier Jahre später peilte das Duo insgesamt 108 Sterne an und suchte gezielt nach radioaktivem Tritium, das ein außerirdisches Raumschiff mit Fusionsantriebe hinterlassen haben könnte.

Unmittelbar nach dieser Observation versahen sie ihr Projekt mit dem Akronym SETA (Search for ExtraTerrestrial Artifacts). Dabei definierten sie SETA breit und begrenzten diese nicht allein auf die Suche nach außerirdischen "passiven" Artefakten, nach bewusst vergrabenen Monolithen oder Skulpturen à la Arthur C. Clarke. Sie konzentrierten sich indes auf "aktive" Artefakte, auf außerirdische Forschungssonden und Raumschiffe. Solche könnten abseits störender Sonnenflares oder Mikrometeoriten in eine stabile Mond- oder Erdumlaufbahn einschwenken oder auf einem der Lagrange-Punkte parken und die Sonne systematisch als Energiequelle nutzen, vermuteten die Forscher.

Eine künstlerische Darstellung von 'Oumuamua. Wie der kosmische Brocken aber genau beschaffen ist und aussieht, wird vielleicht wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Bild: ESA/NASA

Die Entdeckung von 'Oumuamua

Jetzt aber hat es den Anschein, als hätte uns einer dieser aktiven Artefakte einen kurzen Besuch abgestattet. Zumindest spekulieren zwei Astrophysiker über die Möglichkeit eines solchen Szenarios. Schenkt man dem angesehenen und erfahrenen israelischen Harvard-Astronomen Abraham Loeb und seinem jungen Kollegen Shmuel Bialy Glauben, dann könnte letztes Jahr ein außerirdisches Raumgefährt in unser Sonnensystem eingedrungen und an der Erde in einer Entfernung von nur 24 Millionen Kilometern vorbeigeflogen sein.

Um zu verstehen, weshalb beide mit einer derart verwegenen Hypothese vorpreschen, muss der 19. Oktober 2017 in Erinnerung gerufen werden. An diesem astronomisch-historischen Tag durchforstete Robert Weryk vom Institute of Astronomy der University of Hawaii (USA) die Daten des aktuellen und vorangegangenen Tages, die das 1,8-Meter-Teleskop des Pan-STARRS-Systems Stunden zuvor während einer Himmelsmusterung gesammelt hatte.

Es war eigentlich ein Arbeitstag wie jeder andere. Wie immer hielt das auf einem Schildvulkan der Hawaii-Insel operierende Teleskop Ausschau nach neuen extraterrestrischen Vagabunden. Tagtäglich gingen den Kometen- und Asteroidenfischern neue verheißungsvolle Kandidaten in die Netze. Dieses Mal jedoch zappelte dort ein Objekt, das Pan-STARRS1 bereits ein Tag zuvor gefangen hatte. Die Bahn, auf der sich die 33 Millionen Kilometer entfernte "Beute" bewegte, war ungewöhnlich und keineswegs elliptisch, sondern hyperbolisch (siehe Grafik unten), was für sich genommen nicht unbedingt eine Sensation war, folgen doch bislang 337 katalogisierte Kometen in unserem Sonnensystem solchen Bahnen. Doch das Ding bewegte sich derart auffallend auf einer offenen und stark gekrümmten Kurve, dass sich die Frage aufdrängte, ob es aus einem anderen Sonnensystem stammen könnte.

Auf dieser Grafik springen die rapiden Helligkeitsschwankungen von 'Oumuamua ins Auge, der im Oktober 2017 innerhalb von drei Tagen seine Helligkeit veränderte. Die farbigen Punkte repräsentieren unterschiedliche Messungen, die mit verschiedenen Filtern im sichtbaren und infraroten Licht durchgeführt wurden. Bild: ESO/K. Meech et al.

Im Nachbeobachtungsfieber

Kurzerhand informierte Weryk seinen Studienkollegen, Marco Micheli, der daraufhin mit einem 1-Meter-Teleskop der Europäischen Raumfahrtagentur ESA auf Teneriffa (Spanien) den Neuankömmling nachverfolgte. Seine Daten bestätigten die extrasolare Herkunft des Gesteinsbrockens. Nachdem Weryk die gesammelten Bit und Bytes protokollgerecht an das Minor Planet Center (MPC) in Cambridge (Massachussets) übermittelt hatte, stuften diese den fremden Brocken offiziell als Kometen ein. Was folgte, war eine weltweite Kettenreaktion.

Zahlreiche professionelle und Amateur-Astronomen nahmen den fremden Eindringling näher unter die Lupe. Eile war geboten. Schließlich passierte der Himmelskörper die Erde bereits vier Tage vor seiner Entdeckung durch Robert Weryk in einem Abstand von nur 24 Millionen Kilometern (0,16 AU), um sich sodann mit hoher Geschwindigkeit von unserem Planeten wieder zu verabschieden.

Die Astronomen hatten wortwörtlich das Nachsehen, konnten sie doch nur unter großem Zeitdruck Nachbeobachtungskampagnen starten, an denen Observatorien rund um den Globus teilnahmen. Ihnen blieben nur wenige Wochen, dem davonfliegenden Himmelskörper noch einige Geheimnisse zu entlocken.

Als erstes Großteleskop trat das Very-Large-Teleskop (VLT) der Europäischen Südsternwarte ESO in Chile mit einem seiner 8,2-Meter-Fernrohre in Aktion. Mit dem 4,2-Meter-Spiegel des William-Herschel-Teleskops (WHT) konnten die Astronomen nach einer fünfminütigen Belichtungszeit 'Oumuamua sogar abbilden, allerdings nur als kleinen Punkt. Trotz aller Bemühungen gelang es nicht, das ferne kleine Objekt im optischen Bereich besser aufzulösen. Umgeben von samtener Schwärze, wirkte das unbekannte Gebilde auf dem Foto wie ein einsamer kleiner Fixstern.

Aufnahme des William-Herschel-Teleskops (WHT) von 'Oumuamua, der als kleiner Punkt in der Bildmitte zu erkennen ist. Bild: Alan Fitzsimmons (ARC, Queen's University Belfast), Isaac Newton Group

Steckbrief eines Unbekannten

Weitere Untersuchungen lieferten Hinweise darauf, dass sich die oberste Schicht des Gesteinsbrockens höchstwahrscheinlich aus rötlichem, organischem Material zusammensetzt, diese aber glatt und glänzend sein könnte. Mit einer Masse von bis zu zehn Millionen Tonnen und einer Dichte, die bekannten Kometen ähnelt, könnte der Himmelskörper aus Gestein und Metall bestehen.

Wie Messungen mit dem Spitzer-Infrarotteleskop der NASA ergaben, emittierte der Körper keine Wärmestrahlung, reflektierte aber Licht sehr stark und sorgte für enorme Helligkeitsschwankungen. Sie entstanden aufgrund der Rotation des Objekts, das sich binnen sieben bis acht Stunden einmal um die eigene Achse drehte. Die Folgerung der Astronomen: Das Gebilde muss zigarrenförmig sein. Mit einer ungefähren Länge von 400 Metern und einer Breite von 50 Metern weist es eine einzigartige, bisher noch nicht beobachtete Struktur und Form auf. Kein katalogisierter Himmelskörper im Sonnensystem ähnelt äußerlich 'Oumuamua.

Phasen der Eigenrotation von 'Oumuamua. Das Objekt hat ein Rückstrahlvermögen (Albedo) von vier Prozent. Bild: NASA/JPL-Caltech

Es dauerte nicht lange, bis das zigarrenartige Ding auch die SETI-Astronomen auf den Plan rief. Mit der weltgrößten vollbeweglichen Radioschüssel in Green-Bank in West Virginia (USA) starteten sie am 13. Dezember 2017 einen Lauschangriff. Über vier Radiobandbreiten von 1 bis 12 GHz horchten sie das ferne Objekt ab - 10 Stunden lang, aber ohne positives Ergebnis. Radio- und Funkwellen emittierte der verdächtige Kandidat nicht. Zu dem gleichen Ergebnis kamen auch die Mitarbeiter des kalifornischen SETI-Institutes in Mountain View, die mit dem hauseigenen Allen Telescope Array (ATA) nicht den kleinsten 'Oumuamua-Piepser auffangen konnten.

Zuerst wurde 'Oumuamua als Komet, dann als Asteroid und daraufhin wieder als Komet aufgeführt. Am 6. November 2017 legte sich die Internationale Astronomische Union (IAU) sodann endgültig fest und klassifizierte den Exoten. Er wurde einer neuen Klasse von Himmelskörpern zugeordnet und bekam das Kürzel 1I/'Oumuamua. In der Nomenklatur steht das "I" für "interstellar"; das hawaiianische Wort 'Oumuamua bedeutet sie viel wie "Botschafter, der aus fernen Zeiten zu uns gesandt wurde".

Herkunft und Flugbahn

Als die ersten Berechnungen vorlagen, mit denen die Herkunft des Objekts ermittelt werden sollte, deutete alles darauf hin, dass es mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 26 Kilometer pro Sekunde aus Richtung des Sternbilds Leier gekommen war und somit aus dem Wega-System stammen könnte. Allerdings hätte 'Oumuamua bei diesem Tempo 300.000 Jahre benötigt, um die 25 Lichtjahre Distanz zur Erde zu überbrücken. In kosmischer Vorzeit jedoch befand sich die Wega an einer ganz anderen Stelle im Raum. Kein Wunder demnach, dass andere Astronomen den Herkunftsort des kosmischen Nomaden in das erdnächste Sternsystem verorteten: in das Dreifachsystem Alpha-Centauri. Andere wiederum sahen die bis zu 280 Lichtjahre entfernte Carina-Columba-Sternansammlung als Ursprungsort.

Mitte September dieses Jahres präsentierte das Team um Coryn Bailer-Jones im "The Astronomical Journal" weitere vier potentielle Heimatsterne, die allesamt Zwergsterne sind. Unter Auswertung von Datenmaterial von rund 1,3 Milliarden Sternen, welche die ESA-Mission Gaia zuvor gesammelt hatte, konnten die Astronomen die Flugbahn von 'Oumuamua bis 6,3 Millionen Jahre zurückzuverfolgen. Der fremde hochbetagte Besucher, den Bailer-Jones und ihr Team als "ungewöhnlichen Kometen" bezeichneten, hatte demnach eine lange Reise hinter sich.

Die Flugbahn von 'Oumuamua. Bild: ESO

Seine Odyssee durch den materiearmen interstellaren Raum endete (vorübergehend), als er Anfang September 2017 senkrecht zur Bahnebene der Planeten in das Sonnensystem eintauchte. Er umflog die Sonne in einer Entfernung von 37,6 Millionen Kilometern und erreichte dabei eine Geschwindigkeit von 87,3 Kilometer pro Sekunde.

Die solare Schwerkraft bewirkte eine signifikante kurvenartige Richtungsänderung von 'Oumuamua, der ihn schnurstracks auf Erdkurs brachte. Dabei bewegte sich der Körper während seiner Erdpassage entlang der Sonne, wohin die Fernrohre der automatischen Himmelsdurchmusterung nicht blicken konnten. So richtig in Szene setzte sich der interstellare Besucher erst im vergangenen Dezember.

Auf dieser Bildkomposition von Aufnahmen des VLT der ESO sowie des Gemini-South-Teleskops zeigt sich 'Oumuamua als kleiner Punkt in der Bildmitte. Er ist umgeben von den Spuren lichtschwacher Sterne, die zu Strichpunktlinien verschmiert wurden, als das Teleskop den sich bewegenden Asteroiden verfolgte. Bild: ESO/K. Meech et al.

Zu geringe Abbremsung

Wie Beobachtungen mit dem VLT und dem Weltraumobservatorium Hubble ergaben, entfernte sich das Gebilde schneller von der Sonne als erwartet. Die gemessene Zunahme an Geschwindigkeit war zwar sehr klein und 'Oumuamua verlangsamte sich messbar durch den Zug der Sonne, aber eben nicht so schnell wie von der Himmelsmechanik vorausgesagt.

Normalerweise werden Kometen in der Regel gravitationsbedingt in Sonnennähe beschleunigt. In dieser Phase kommt dann noch ein weiterer Beschleunigungsfaktor hinzu. Denn durch die Hitzeeinwirkung der Sonne kommt es zu der für Kometen charakteristischen Schweifausbildung. Der Körper setzt Gase frei, die wie ein kleines Raketentriebwerk wirken. Erst mit zunehmender Entfernung zur Sonne verliert die Beschleunigung an Intensität. Der Körper wird - immer noch vom Schwerefeld des Sterns eingeholt - mit zunehmender Entfernung abgebremst.

Doch im Dezember 2017 war diese Abbremsung schlichtweg zu gering, die Geschwindigkeit von 'Oumuamua einfach noch zu groß. Da andere Himmelskörper nicht in einem gravitativen Einflussbereich waren, wurde die Kometenthese immer fragwürdiger. Vor allem deshalb, weil Astronomen rund um den Globus selbst mit den besten zur Verfügung stehenden Instrumenten bei 'Oumuamua zu keinem Zeitpunkt während seiner solaren Visite Ausgasungen oder eine ausgedehnte Hülle aus Staub und Gas (Koma) ausmachen konnten. "Wir haben keinen Staub, keine Koma und erst recht nicht einen Schweif gesehen, was sicher ungewöhnlich ist", konstatierte Karen Meech (et al.) von der University in Hawaii kurz vor Weihnachten 2017 in dem Wissenschaftsmagazin "Nature" nüchtern.

Auch der legendäre Hubble-Veteran, seit mehr als 28 Jahren auf Mission, nahm an der intensiven Nachbeobachtungskampagne teil. Bild: NASA

Der Vorstoß

Eingedenk dieser Anomalien nahmen sich Abraham Loeb vom Harvard Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge (USA) und Shmuel Bialy die vorliegenden Daten erneut vor und berechneten unter Berücksichtigung folgender Fragestellung alles noch einmal durch: "Wenn keine Kometen-Aktivität vorlag, was hat dann die beobachtete nicht-gravitative Beschleunigung verursacht?", schreiben beide in dem Paper "Could Solar Radiation pressure explain 'Oumulamua's peculiar acceleration?" (s.u.), das auf dem Pre-Print-Server arXiv am 6. November publiziert wurde und weltweit für Schlagzeilen sorgte.

Im Resümee ihres knapp fünfseitigen Aufsatzes liefern die Wissenschaftler die Antwort gleich mit, die ebenso kühn wie faszinierend ist. "Wir haben gezeigt, dass die beobachtete nicht-gravitative Beschleunigung von 'Oumuamua mit dem Strahlungsdruck der Sonne erklärt werden kann", schreibt das Forscher-Duo.

Damit ein Objekt wie 'Oumuamua den schwachen Druck der Sonnenstrahlung überhaupt nutzen und an Geschwindigkeit gewinnen kann, müsse es selbst sehr dünn sein. Es müsste eine Dicke von zirka 0,3 bis 0,9 Millimetern und einen Radius von 20 Metern haben. Nur ein Sonnensegler käme hierfür in Frage, der den Strahlungsdruck des jeweiligen Sterns nutzend, je nach Konstruktion enorm an Fahrt aufnehmen kann, erklären die Autoren der Studie.

Kosmische Sonnensegler (bzw. auch Licht- oder Solarsegler) müssen im Gegensatz zu den historisch hölzernen Bezwingern der sieben Weltmeere nicht gegen Wellen, Wind und Wetter ankämpfen. Angetrieben werden sie durch den Lichtdruck der Sonne. Treffen die von der Sonne ausgesandten Photonen auf die Bespannung des Seglers, erreicht das Leichtbauraumschiff durch den Rückstoß sukzessive eine hohe Geschwindigkeit. Ähnlich wie bei einem Segelschiff, das mit dem Wind fährt, muss sich eine segelnde Raumsonde am Stand der Sonne orientieren, von der die antreibenden Lichtstrahlen ausgehen.

Bild: NASA

Laut deren Berechnungen könnte eine filigrane und dünne Folie dieser Machart problemlos eine Reisestrecke von 16.000 Lichtjahren meistern, ohne Schiffbruch zu erleiden. Sie könnte das zu erwartende Bombardement interstellarer Partikel schadlos überstehen und auch den zerrenden Gezeitenkräften trotzen. Daraus folgern sie in ihrem Fachaufsatz:

Ziehen wir eine künstliche Herkunft in Betracht, wäre eine Möglichkeit, dass 'Oumuamua ein Lichtsegel ist, das im interstellaren Raum als Überrest eines fortschrittlichen technologischen Geräts treibt. Lichtsegel mit ähnlichen Dimensionen wurden bereits von unserer eigenen Zivilisation konzipiert und entwickelt, wie etwa das IKARUS-Projekt oder die Starshot-Initiative. Die Lichtsegel-Technologie könnte vielfach als Transportmittel zwischen einzelnen Planeten oder Sternensystemen genutzt werden.

Dass 'Oumuamua wie viele solare Kometen und Asteroiden vom D-Typ eine rote Oberfläche habe, widerspräche nicht der These vom künstlichen Ursprung, weil die Oberfläche von 'Oumuamua während seiner Reise durchs All selbst mit genug interstellaren Staub in Berührung gekommen sei. Beide Wissenschaftler halten auch die Erklärung ihrer Kollegen für unzureichend, wonach die verzögerte Abbremsung von 'Oumuamua sehr kleine, feine unsichtbare Partikeln verursacht hätten. Laut Theorie sollten diese sich von der Oberfläche des Kometen gelöst haben, als dieser sich der Sonne näherte. Dabei wurde ein Rückstoß erzeugt, aber kein Schweif.

Doch für Loeb und Bialy hat sich das Objekt zu keinem Zeitpunkt wie ein klassischer Komet verhalten. Für das "artifizielle Szenario" spräche eben doch die vollkommene Abwesenheit der Koma und des Schweifes bei und um 'Oumuamua. "Niemand hat bei 'Oumuamua einen Schweif gesehen", verdeutlichte Loeb. Außerdem hätte eine Ausgasung die Rotationsgeschwindigkeit von Oumuamua verändert, was jedoch nicht beobachtet wurde. Angesichts dieser Daten verwundert es nicht, dass beide Forscher noch einen Schritt weiter gehen, der stark an Freitas' SETA-Ansatz erinnert:

Ein anderes, weitaus exotischeres Szenarium ist, dass 'Oumuamua vielleicht eine voll funktionstüchtige Raumsonde ist, die von einer außerirdischen Zivilisation absichtlich zur Erde oder ihrer näheren Umgebung gesandt wurde.

Weltraum-Archäologie

Gehe man von einer künstlich-intelligenten Herkunft 'Oumuamuas aus, sei die Weltraumschrott-Theorie gleichwohl die plausiblere. Schließlich sei es denkbar, dass auch fortgeschrittene Zivilisationen eine Technologie wie Sonnensegler routinemäßig einsetzen. Irgendwann entstünde dann Weltraumabfall, der ins All abdrifte - wie vielleicht im Fall von 'Oumuamua. Dieser Exot könnte somit ein Überrest einer interstellaren Forschungsmission sein, so wie es später einmal den Starshot-Nanochips nach ihrer Mission im Alpha-Centauri-System ergehen wird.

Wie sehr Loeb die aktive Suche nach aktiven Artefakten befürwortet, bringt er in einem Blog-Artikel bei "Scientific American" zum Ausdruck, den er bereits Ende September veröffentlichte und in dem er auch ganz offen und direkt über 'Oumuamua sinnierte. Loeb geht hierin auf die Erfolge der Planetenjäger und die Erkenntnis ein, dass mindestens 25 Prozent aller Sterne bewohnbare Planeten besitzen. Selbst wenn nur ein Bruchteil davon, so folgert er, intelligente Zivilisationen hervorgebracht habe, müsste in unserer Milchstraße eine hohe Anzahl von extraterrestrischem Weltraumschrott herumschwirren.

Die sich hieraus ergebene Chance könnte den Weg zu einer neuen Fachdisziplin ebnen, die sich mit dem Studium und der Suche nach künstlichen Relikten längst vergangener Weltraumkulturen befasst. Anstatt mit Schaufeln in den Boden zu graben, würden die Wissenschaftler dieser neuen Disziplin mit ihren Instrumenten und Teleskopen in die Tiefen des Alls eintauchen, erklärt Loeb.

Da Objekte wie 'Oumuamua jederzeit im Sonnensystem erneut erscheinen oder sich bereits unzählige Abfallprodukte fremder Technologien infolge der Gravitation von Jupiter und unserer Sonne in unser System verirrt haben könnten, plädieren beide Autoren in ihrer Studie nachdrücklich für eine weltweite Intensivierung der Beobachtungskampagnen. Die Entdeckung des bizarren Körpers sollte uns motivieren, nunmehr verstärkt nach interstellarem Weltraumabfall Ausschau zu halten.

Auch wenn 'Oumuamua durchaus ein natürliches Objekt von bisher unbekannter Form und Beschaffenheit sein kann, ist angesichts seiner Anomalien die Wahrscheinlichkeit einer extraterrestrisch-künstlichen Herkunft nicht von der Hand zu weisen. Die Suche lohnt, betonen die beiden Autoren. Wenn das noch in Bau befindliche neue "Large Synoptic Telescope" (LSST) einsatzbereit ist, steht ein sehr leistungsstarkes Instrument zur Verfügung, das weitere "Mitglieder der 'Oumuamua-Population" ausfindig machen kann. "Eine Suchaktion nach Technosignaturen in Gestalt von Lichtseglern hat seine Berechtigung, unabhängig davon, ob 'Oumuamua einer von ihnen ist."

Abraham (Avi) Loeb: Professor of Science at Harvard University. Er publizierte vier Bücher und mehr als 700 Fachbeiträge und deckte darin ein weites Spektrum ab. Er schrieb auch über Schwarze Löcher, die ersten Sterne im Universum und die Zukunft des Selbigen. Bild: Blue Blazer Photos

Abi Loeb und SETI

Um zu verstehen, warum ein arrivierter Astronom eine solch tollkühne These zum Besten gibt, muss man sich Loebs enge Beziehung zu SETI vor Augen halten. Denn seine Vorliebe für solche Themen kommen mit Blick auf sein wissenschaftliches Umfeld und seinem Forschungsschwerpunkt nicht von ungefähr.

Bereits in der Vergangenheit fiel er mehrfach mit verwegenen Mutmaßungen auf. Es waren Hypothesen mit SETI-Bezug, allesamt aber als alternative Suchmethoden jenseits der klassischen SETI-Strategie angedacht. So schlug Loeb vor 12 Jahren beispielsweise vor, nach Fernsehsignalen außerirdischer Herkunft, nach Spuren von TV-Sendungen ferner Kulturen zu suchen. "Durch einen glücklichen Zufall könnten wir genau jene Radiowellen auffangen, die eine Zivilisation ohne Absicht ins All ausgesendet hat."

Anfang 2017 wandte er sich dem mysteriösen Fast-Radio-Burst-Phänomen (FRB) zu. Hierunter verstehen Astronomen schnelle, einmalige sehr kurzperiodische Radioblitze, die mitunter nur wenige Millisekunden lang starke Radiostrahlung emittieren und höchstwahrscheinlich extragalaktischer Herkunft sind. Da über deren genauen Ursprung und Ursache jedoch noch große Unklarheit herrscht, sinnierte Loeb über die Möglichkeit, dass es sich bei den wiederkehrenden FRBs um "künstliche Signale" handeln könne, die von einer Zivilisation gezielt als Botschaft ins All gesendet wurden. Es könnten aber auch auf Lasertechnik beruhende Antriebslichter für interstellare Lichtsegler sein.

Ein FRB in der Vorstellung eines Space-Art-Grafikers. Bild: HARVARD-SMITHSONIAN CENTER FOR ASTROPHYSICS (CFA)

Hinzu kommt, dass der 56-jährige Astronom nicht nur im Berater- und Aufsichtsgremium von Breakthrough Listen sitzt, sondern auch einen vertrauten Umgang mit dem russischen Milliardär Yuri Milner pflegt, der 2015 die Breakthrough-Initiative mit einer 100-Millionen-Dollar-Spende ins Leben rief.

Als Milner und Stephen Hawking in einer vielbeachteten Pressekonferenz 2016 die Starshot-Initiative vorstellten, war Loebs Handschrift unverkennbar. Diese sieht vor, in naher Zukunft eine Flotte von Nanosonden in das erdnächste Sonnensystem Alpha Centauri zu entsenden, die mit Lichtsegeln angetrieben werden. Starkes von der Erde aus abgestrahltes Laserlicht soll die kleinen Starchips auf ein Fünftel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Zwanzig Jahre würde die winzige Roboter-Phalanx unterwegs sein, um nach ihrer Ankunft in dem 4,36 Lichtjahre entfernten System nach Lebensformen zu suchen.

Führender SETI-Astronom mahnt zur Vorsicht

Ob Abraham Loeb und Shmuel Bialy mit ihrem Paper womöglich gezielt für die Breakthrough-Initiative und die StarShot-Mission Werbung gemacht haben, so wie dies "Spektrum der Wissenschaft" andeutet, bleibt ebenso spekulativ wie die steile Alien-Hypothese der beiden Autoren selbst. In einer E-Mail an Telepolis weist Loeb derlei Vermutungen jedoch weit von sich:

Ich habe positive Reaktionen von angesehenen Astronomen erhalten - wie von dem königlichen Astronomen, Lord Martin Rees. Ich bin angetan über die Reaktionen auf das Paper, aber es wurde nicht mit dieser Absicht geschrieben. Wir haben uns strikt an das wissenschaftliche Standard-Prozedere gehalten.

Was die Reaktionen der Presse hingegen angeht, sei er angenehm überrascht, freut sich Loeb. "Wir hatten ja noch nicht einmal eine Pressemeldung veröffentlicht." Die Studie, die zum Teil von der Breakthrough-Preis-Stiftung finanziert wurde, habe in der Rekordzeit von nur wenigen Tagen das eigentlich langwierige Peer-Review-Verfahren durchlaufen.

Seine Hoffnung sei, wie Loeb dem US-Online-Magazin Space.com eröffnet, dass seine Kollegen seine These nicht gleich deshalb verwerfen, nur weil er und sein Kollege ein heikles Thema aufwerfen. "Das wäre ein Vorurteil, dass wir nicht an den Tag legen sollten." Wissenschaft solle stets offen für Neues sein.

Seth Shostak. Er zählt zu den führenden Protagonisten der SETI-Szene. Bild: BDEngler / CC-BY-3.0

Während im Word-Wide-Web 'Oumuamua auf vielen Kanälen derweil zum Kult-Artefakt hochstilisiert und von zahlreichen Alien- und Paläo-SETI- oder Arthur-C.-Clarke-Fans zum außerirdischen Botschafter verklärt wird, mahnt ausgerechnet ein etablierter und langgedienter SETI-Forscher zur Vorsicht. Kein Geringerer als Seth Shostak, der als Chefastronom des kalifornischen SETI-Instituts von Berufs wegen eine Affinität zu den Extraterrestren hat, übt sich in kritischer Distanz.

In einer E-Mail an den Autoren dieser Zeilen erinnert Shostak an die große Aufregung über die Pioneer-Anomalie, für die auch die Alien-Hypothese herhalten musste. Gleichwohl wurde hierfür 2011 ein durchaus banaler physikalisch-technischer Grund gefunden. Für die Anomalien 'Oumuamuas gebe es genug alternative Erklärungen. Shostak stellt eine naheliegende Frage: Warum sollte eine fremde Zivilisation eine Raumsonde absichtlich in unser Sonnensystem entsenden und dabei den Faktor Neugierde vernachlässigen:

Sie sind nicht dicht an die Erde herangeflogen, haben sich nicht allzu lang bei uns aufgehalten. Ich glaube nicht, dass Captain James Cook zu den Fitschi-Inseln und Nachbarinseln gesegelt wäre, um dort nicht anzulegen. Ich bevorzuge eine weniger exotische, aber ein a priori mehr wahrscheinliches Szenarium, dem zufolge es sich bei 'Oumuamua nur um einen einfachen Gesteinsbrocken gehandelt hat, der aus irgendeinem anderen Sonnensystem stammt. Ich denke, dass es genug Raum für andere Erklärungen gibt. Es muss nicht immer gleich die exotischste Variante sein.


Paper: Could Solar Radiation Pressure Explain 'Oumuamua's Peculiar Acceleration? (Shmuel Bialy, Abraham Loeb) [Die Studie ist am 12.11.2018 erschienen in: "The Astrophysical Journal Letters"]

First Interstellar Asteroid Wows Scientists" - NASA-Video

Zwei ESO-Videos zu 'Oumuamua: Video 1 | Video 2

NASA-Kombinations-Foto von 'Oumuamua in Höchstauflösung