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Wider das Vergessen: Die dem Mostviertel gewaltsam Entrissenen

Margareta Pittl, 17.04.2018 14:38

MOSTVIERTEL. Still gibt ein Friedhof im Ort Göttsbach (Stadtgemeinde Ybbs) Zeugnis – Zeugnis des jüdischen Lebens im Mostviertel. Rund tausend Mitglieder zählte die Mostviertler Kultusgemeinde, die von den Nationalsozialisten brutal ausgelöscht wurde. Der Wieselburger Johannes Kammerstätter stemmt sich gegen das Vergessen der jüdischen Vergangenheit der Region. In bisher drei erschienenen Buchbänden macht er die Geschichten und Schicksale der getöteten und vertriebenen Mostviertler gegenwärtig.

Im Jahr 1960 wurden die Grabsteine in einer Doppelreihe im Zentrum des Friedhofes wieder aufgestellt.
photo_library Im Jahr 1960 wurden die Grabsteine in einer Doppelreihe im Zentrum des Friedhofes wieder aufgestellt.

„Nur ganz, ganz wenige sind zurückgekehrt. Und die wenigen, die nach Österreich zurückgekommen sind, sind in Wien oder anderen Städten geblieben“, erzählt Johannes Kammerstätter über den Verbleib der Mostviertler Juden, die den Holocaust dank Flucht überlebt hatten. Rund sechs Millionen europäische Juden fielen dem nationalsozialistischen Völkermord zwischen 1941 und 1945 zum Opfer. Unter ihnen geschätzte 300 Mostviertler. Kammerstätter kennt viele ihrer Namen und hat ihre Geschichten und die der Geflüchteten dokumentiert.

Netzwerk der Erinnerung

Anfang der 2000er Jahre startete der mittlerweile pensionierte Religions- und Musiklehrer mit Schülern des Franciso-Josephinums in Wieselburg ein Schulprojekt. Die Sanierung des jüdischen Friedhofes in Göttsbach bei Ybbs war eines der Ziele. In mühevoller Handarbeit wurden die heute noch rund 100 erhaltenen Grabsteine gereinigt und deren Inschriften erneuert und entziffert. In nicht weniger mühevoller Forschungsarbeit wurde versucht, Familienangehörige der dort Begrabenen ausfindig zu machen. „Wir hatten uns vorgenommen, zu jedem Namen, der auf den Grabsteinen vermerkt ist, zumindest einen Nachkommen zu finden“, berichtet Kammerstätter. Er und seine Schüler traten in Kontakt mit den in der Welt zerstreuten Verwandten der in Göttsbach Bestatteten. Ein Netzwerk der Erinnerung und der Versöhnung entstand. Der jüdische Friedhof in Göttsbach wurde in den 1890er Jahren von der Ybbser Kultusgemeinde errichtet. Auch eine bis heute erhaltene Zeremonienhalle wurde erbaut. Im Jahr 1944 wurde die Ruhestätte der jüdischen Gemeinde von Nationalsozialisten geschändet. Die rund 300 Grabsteine wurden an einen Steinmetz verkauft.

Mit Kopf, Herz und Händen

Nach dem Krieg fand man etwa 100 dieser Grabsteine in Viehdorf (Bezirk Amstetten) wieder. Aus dem Exil Zurückgekehrte bemühten sich um die erneute Instandsetzung des Friedhofes. Die Restitution erwies sich allerdings als schwierig. Erst 1960 konnten die Grabsteine wieder an ihren Platz in Ybbs gebracht werden. Das Wissen um die ursprüngliche Anordnung der Grabsteine fehlte – in einer Doppelreihe im Zentrum des Friedhofareals rufen sie heute zum Gedenken an die Verstorbenen auf. „Es braucht Kopf und Herz, aber auch Hände“, sagt Kammerstätter über die gemeinsam mit Schülern an den Gräbern durchgeführten Tätigkeiten. „Wenn ich mit meinen Händen an den Grabsteinen arbeite, beginne ich mich zu fragen, wer denn hier eigentlich begraben liegt. Man bekommt ein anderes Gespür“, meint der studierte Theologe und Philosoph. Freundschaften zwischen Schülern und Angehörigen der dort Bestatteten seien entstanden, erzählt er.

Wie alles begann

Freundschaften entstanden auch, als Juden aus Böhmen und Mähren Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, sich im Mostviertel niederzulassen. Möglich wurde das nach dem bürgerlich-demokratischen Revolutionsjahr 1848 – Juden bekamen das Recht, sich anzusiedeln. Nach und nach verschlug es Juden ins Mostviertel, viele von ihnen nach Kemmelbach, wo es einst sogar eine Synagoge und eine jüdische Volksschule gab. „Die Menschen wollten sich als Religionsgemeinschaft organisieren“, macht Kammerstätter aufmerksam. Mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurden Juden in Österreich erstmals als gleichberechtigte Bürger anerkannt. 1890 wurde das „Israelitengesetz“ erlassen, das das Verhältnis der Kultusgemeinden zum Staat einheitlich regelte.

Eine neue Heimat

Die Jahre vergingen, die jüdische Bevölkerung wurde in Vereinen und Politik aktiv, gründete Warenhäuser – „solche kannte die Landbevölkerung bis dahin gar nicht“ – und Betriebe. „Unsere industrielle Entwicklung wurde wesentlich von der jüdischen Bevölkerung mitgetragen“, erklärt Kammerstätter und macht auf das starke Bildungsbewusstsein der Kultusgemeinde aufmerksam: „Auch jüdische Altwarensammler schickten ihre Kinder an Gymnasien und Universitäten. Von dort kehrten sie oft mit aufgeklärten und modernen Geisteshaltungen zurück in ihr traditionsbewusstes Elternhaus – das führte natürlich auch zu innerfamiliären und religiösen Konflikten.“

„Teil regionaler Identität“

Das Mostviertel wurde zur Heimat hunderter Juden – „ihre Geschichte ist Teil unserer regionalen Identität“, betont Kammerstätter. In seiner dreibändigen Buchreihe „Tragbares Vaterland“ versucht er diese Geschichte nachzuzeichnen, Einblicke in das Leben zahlreicher Familien zu geben und zu erinnern. „Was hat sich dieser Mensch gewünscht? Welche Hoffnungen hatte er? Und wer hat sie ruiniert und warum?“, seien Fragen, die aufbrechen, wenn man sich mit jüdischen Schicksalen auseinandersetzt. Aus ihnen gilt es zu lernen. Im Herbst wird aus Kammerstätters Trilogie eine Tetralogie. Der vierte Buchband mit dem Titel „Das Erbe lebt“ wird sich erneut wider das Vergessen der jüdischen Gemeinde im Mostviertel stellen.


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