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Palliative Care auf dem ASCO 2022

Wie bereits anlässlich der vergangenen ASCO-Kongresse berichtet, fristen Themen zur Palliative Care – die bei Tagungen der Deutschen Krebsgesellschaft und auch der Gemeinschaftstagung der DGHO, SGMO und OeGHO einen erheblichen Anteil der offerierten Themen ausmachen – auf dem Jahreskongress der American Society of Clinical Oncology eher ein Nischendasein. So fanden sich im Rahmen einer Suche unter den 46431 eingereichten und angenommenen Abstracts lediglich 1967 mit dem Schlagwort „Palliative Care“; dies sind 4,2% aller Beiträge.

Da der Rezensent in diesem Jahr nicht persönlich am Kongress teilnehmen konnte, war er wie bereits im Vorjahr auf die Online-Durchsicht der infrage kommenden Abstracts angewiesen. Im Folgenden sollen die drei interessantesten Arbeiten kurz referiert werden.

Dexamethason bei Dyspnoe

Am wichtigsten für die alltägliche Praxis und spannend – weil ein jahrzehntelang gewohntes Therapiekonzept infrage gestellt wird – ist der Vortrag von David Hui aus dem M. D. Anderson Cancer Center, Houston, Texas, der mit den Ergebnissen seiner ABCD-Studie („Alleviating breathlessness in patients with cancer with dexamethasone“) die gewohnte Praxis der Anwendung von Dexamethason zur Symptomkontrolle bei quälender Dyspnoe infrage stellt.1

Hui und Kollegen untersuchten 128 Patienten, die die verblindeten Studieninterventionen (Dexamethason n=85, Placebo n=43) erhielten. Die Registrierung wurde vom Data Safety Monitoring Board vorzeitig beendet, als das Nichtigkeitskriterium in der vorab geplanten Zwischenanalyse erfüllt wurde.

Die durchschnittliche Veränderung der Intensität auf der numerischen Skala („numerical rating scale“; NRS) von Dyspnoe zwischen Baseline und Tag 7 betrug –1,6 (95% CI: –2, –1,2) in der Dexamethason-Gruppe und –1,6 (95% CI: –2,3, –0,9) in der Placebo-Gruppe, ohne signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen (Mittelwert 0, 95% CI: –0,8, 0,7; p=0,91).

Sekundäre Analysen zeigten, dass die Dexamethason-Gruppe signifikant mehr Appetit im Edmonton Symptom Assessment System (ESAS; mittlere Differenz –1,2, 95% CI: –2,2, –0,1; p=0,03) und ein signifikant besseres Wohlbefinden (Mittelwert –1, 95% CI: –1,8, –0,2; p=0,02) sowie weniger Angst (Mittelwert 1,1, 95% CI: 0,3, 1,9; p=0,01) und Depression (Mittelwert 0,9, 95% CI: 0,1, 1,7; p=0,02) im Vergleich zu Placebo hatte.

Änderungen in ähnlicher Größenordnung bei Dyspnoe und ESAS-Symptomen wurden nur bis Tag 14 beobachtet. Nebenwirkungen wurden häufiger in der Dexamethason-Gruppe (jeder Schweregrad) berichtet: Schlaflosigkeit (38% vs. 12%), neuropsychiatrische Symptome (31% vs. 7%), Infektionen (21% vs. 12%), Dyspepsie (26% vs. 12%), Ödeme (18% vs. 9%), Schluckauf (12% vs. 7%), Flush (9% vs. 5%) und Atemnot (6% vs. 0%). Mehr Patienten in der Dexamethason-Gruppe mussten innerhalb von 30 Tagen nach der letzten Studienmedikation ins Krankenhaus eingeliefert werden (25% vs. 7%, p=0,02).

Subsumierend ist die Erkenntnis bedeutsam, dass die Intensität des Symptoms Atemnot durch Gabe von Dexamethason nicht in relevanter Form zu beeinflussen war.

Abb. 1: Ausmaß der Dyspnoe auf einer numerischen Skala von 0–10 unter Dexamethason vs. Placebo, Tag 0–14. Modifiziert nach Hui et al.1

Immer wieder: Advance Care Planning

Michael Cohen et al. aus dem UPMC Cancer Center, Pittsburgh, Philadelphia, berichten über das sehr praxisrelevante Thema des Advance Care Planning (ACP) und dessen Beeinflussung durch eine primäre Palliativversorgung.2 Von 672 aufgenommenen Patienten hatten 182/336 im Interventionsarm und 196/336 in der Regelversorgung keine EOLC („end-of-life conversation“) zu Studienbeginn und schlossen die dreimonatigen Untersuchungen ab.

Von diesen gaben 82/182 (45,1%) im Interventionsarm und 29/196 (14,8%) im Arm mit der üblichen Pflege an, nach drei Monaten eine EOLC gehabt zu haben.

In ähnlicher Weise hatten 111/336 im Interventionsarm und 105/336 in der Regelversorgung keine AD („advance directive“) zu Studienbeginn und schlossen die dreimonatigen Untersuchungen ab. Davon absolvierten 48/111 (43,2%) im Interventionsarm und 19/105 (18,1%) in der Regelversorgung eine AD im Studienzeitraum.

Für beide Arten von ACP deutete der Behandlungseffekt auf eine erhöhte Aufnahme von neuem ACP im Interventionsarm hin, nachdem Variablen kontrolliert worden waren, von denen bekannt ist, dass sie mit ACP assoziiert sind.

Die von Pflegekräften geleitete primäre Palliativversorgung erhöhte die Aufnahme von Advance Care Planning bei Patienten mit fortgeschrittenem Krebs. Die Ausbildung onkologischer Krankenpfleger, die in kommunale Krebszentren eingebettet sind, kann einen praktikablen Mechanismus darstellen, um den Zugang zur primären Palliativversorgung und die Aufnahme von Vorsorgeplanungen zu verbessern.

Hat der Tod eine menschliche Komponente?

Eine weitere spannende Untersuchung wurde von Kanan Shah und Kollegen aus der NYU Grossman Medical School, New York, vorgelegt.3 Die Verbesserung der Versorgung am Lebensende stellt eine Gelegenheit dar, Traumata sowohl für Patienten als auch für Pflegekräfte zu reduzieren. In Kenntnis der Existenz eines psychosomatischen Phänomens, das als „Urlaubseffekt“ bekannt ist und es kritisch kranken Patienten ermöglicht, in eine Verhandlungsphase einzutreten und den Tod bis zu einem bestimmten Ereignis aufzuschieben, stellten die Autoren die Hypothese auf, dass es einen zeitlichen Trend dahin gehend geben könnte, wann Patienten mit Krebs versuchen, den Tod bis zur Ankunft der Familie am Wochenende oder bis zum Ende eines Urlaubs hinauszögern.

Von 2000 bis 2017 wurden 10305990 Todesfälle aufgrund von Krebs registriert. Die Todesfälle waren über den Wochentag oder den Monat des Jahres hinweg nicht einheitlich (jeweils p<0,001). Jedes Jahr stiegen die Todesraten von Montag bis Donnerstag allmählich an, erreichten am Freitag und Samstag ihren Höhepunkt und gingen am Sonntag zurück.

Es gab einen relativen Unterschied von 3,4% in der Sterblichkeitsrate zwischen dem Höchststand am Freitag und dem Tiefpunkt der Zahl an Todesfällen am Montag, ferner gab es einen konstanten Anstieg der Zahl an Todesfällen im Dezember und Januar und einen Tiefpunkt im Februar (relative Differenz von 10,2%).

Todesfälle im häuslichen Bereich außerhalb des Krankenhauses traten eher am Wochenende auf (aOR von 1,03–1,05, p≤0,01 für alle); auch hispanische Patienten (aOR 1,01, p=0,001) starben eher am Wochenende. Frauen (aOR 0,99, p=0,02), Geschiedene (aOR 0,99, p=0,04) und Personen mit Bauchspeicheldrüsenkrebs (aOR 0,99, p=0,01) starben hingegen wieder seltener am Wochenende.

Todesfälle außerhalb des Krankenhauses traten in den Urlaubsmonaten weniger häufig auf (aOR von 0,95–0,96, p≤0,01 für alle). Die über 75-Jährigen starben häufiger in den Urlaubsmonaten als jüngere Altersgruppen (OR 1,02–1,03, p<0,05 für beide). Der Krebstyp war mit der Feiertagssterblichkeit verbunden: Personen mit Brust- oder Prostatakrebs verstarben häufiger (OR 1,01, p<0,05 für beide) während der Ferien als Personen mit Lungenkrebs.

Die Autoren folgern, dass der Tod eine „menschliche Komponente“ hat. Die Ungleichheit der Verteilung der krebsbedingten Todesfälle in dieser Studie ist gering, aber signifikant – es ist daher eine nichtbiologische Variation anzunehmen, die ausschließt, dass die Krebssterblichkeit streng datumsunabhängig ist. Die beschriebenen zeitlichen Trends beim Krebstod verdeutlichen das Erfordernis, aber auch die Chance einer Verbesserung der Versorgung am Lebensende und zeigen, wie sich die Pflege auf das konzentrieren sollte, was den Patienten wichtig ist – einschließlich der Zeit mit der Familie.

1 Hui D et al.: Alleviating breathlessness in patients with cancer with dexamethasone (ABCD): A parallel-group, double-blind, randomized clinical trial (RCT). ASCO 2022; Abstr. #12112 2 Cohen M et al.: The impact of primary palliative care on advance care planning in advanced cancer. ASCO 2022; Abstr. #12030 3 Shah K et al.: Cancer doesn’t know what day of the week it is: temporal trends in day of death, 2000-2017. ASCO 2022; Abstr. #12033

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