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Präzisionsonkologie

Molekulares Tumorboard: Science Fiction oder ernsthafte Therapieoptionen?

Umfangreiche molekulare Analysen von Tumoren spielen zunehmend eine Rolle in der Onkologie. Die erhaltenen komplexen Daten werden in spezialisierten molekularen Tumorboards diskutiert. Wie sind diese Entwicklungen einzuordnen?

Keypoints

  • Neue Technologien erlauben eine Analyse zahlreicher molekularer Veränderungen.

  • Es gibt eine zunehmende Anzahl prädiktiver Biomarker und effektiver zielgerichteter Therapien in der Onkologie.

  • Ein Teil der zielgerichteten Therapien funktioniert entitätsübergreifend.

  • Die Durchführung, Interpretation und Umsetzung von molekularer Testung und individualisierter Therapie erfordert interdisziplinäre Expertise.

Technische Innovationen in der molekularen Diagnostik

Tumoren entstehen bekanntlich durch molekulare Veränderungen auf zellulärer Ebene. Ein breites Spektrum diagnostischer Methoden erlaubt den Nachweis zahlreicher molekularer Veränderungen. Je nach Art der Diagnostik umfasst dies numerische und strukturelle chromoso-male Aberrationen bis hin zum Nachweis von Veränderungen auf Ebene der Nukleinbasen. Einzelgenanalysen werden dabei zunehmend durch Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren ersetzt. Diese sog. „Next-generation sequencing“(NGS)-Verfahren erlauben eine parallele Analyse zahlreicher Genabschnitte bis zum Ganzgenom. Neben DNA und RNA sind auch weitere Ebenen zellulärer Veränderungen diagnostisch zugänglich. Hierzu gehören zum Beispiel Proteine oder epigenetische Regulationsmechanismen, welche ebenfalls mittels Hochdurchsatzverfahren analysiert werden können.

Technische Innovationen erlauben somit eine schnelle, sichere und vergleichsweise kostengünstige Analyse zahlreicher molekularer Veränderungen.1

Interdisziplinäre Auswertung molekularer Veränderungen

Molekulare Veränderungen können als Biomarker wichtige Informationen für die Diagnose, Prognose und Therapie von Tumorerkrankungen liefern. Die Interpretation dieser Veränderungen erfordert dabei eine interdisziplinäre Expertise. So ist beispielsweise die Vorhersage der biologischen Konsequenzen einzelner Basenaustausche eine Aufgabe nicht nur von etwa (Molekular-)Pathologie, Biologie und Bioinformatik, sondern erfordert oft ebenso klinische und humangenetische Expertise. Dies gilt im Besonderen, wenn atypische oder multiple molekulare Veränderungen auftreten und/oder Keimbahnalterationen mit untersucht werden.

Von besonderer Bedeutung für die Präzisionsonkologie sind prädiktive Biomarker, welche die Wahrscheinlichkeit eines Ansprechens auf eine bestimmte Therapie vorhersagen.2 Zur Identifikation prädiktiver Biomarker ist oftmals eine umfangreiche Sichtung aktueller biomedizinischer Literatur notwendig.3 Hierbei ist eine enge Abstimmung zwischen organbezogenen Expert:innen und einer tumorentitätsübergreifenden Perspektive unter der Berücksichtigung der individuellen Situation der Patient:innen erforderlich.

Auch vor Durchführung einer molekularen Diagnostik sind zahlreiche interdisziplinäre Fragestellungen zu klären. Hierzu gehört neben der Auswahl einer adäquaten Diagnostik auch die Frage nach der Repräsentativität des zu untersuchenden Tumorgewebes, der Notwendigkeit und Möglichkeit einer erneuten Punktion ggf. auch unter Beachtung von Resistenzmechanismen nach vorheriger Therapie. Die entsprechenden Schritte und beteiligten Disziplinen sind dabei schematisch und vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt.

Abb. 1: Einzelne Arbeitsschritte der Präzisionsonkologie ( schematisch und vereinfacht) mit jeweils Beteiligten und beispielhaft relevanten Überlegungen

Das Molekulare Tumorboard als Forum für interdisziplinären Austausch

Wie oben dargestellt, erfordert sowohl die adäquate Auswahl und Durchführung einer molekularen Diagnostik als auch ihre Auswertung und klinische Interpretation eine umfangreiche interdisziplinäre Expertise. Diese erstreckt sich – als Besonderheit im Vergleich zu anderen Tumorboards – explizit auch auf Bereiche jenseits der klinischen Medizin. Molekulare Tumorboards wurden an zahlreichen Institutionen ins Leben gerufen, um diesen Austausch und somit eine effektive Umsetzung von molekularer Diagnostik hin zu einer zielgerichteten Therapie zu ermöglichen. In den vergangenen Jahren hat dabei eine zunehmende Professionalisierung und Standardisierung der teilnehmenden Disziplinen, sowie der Struktur und des Vorgehens von molekularen Tumorboards, wie beispielsweise im deutschen Netzwerk für personalisierte Medizin, stattgefunden.4 Der hohe zeitliche Aufwand pro Patient:in erfordert zudem eine adäquate Vorbereitung und Vorabrecherche zu den zu besprechenden Patient:innen.

Science Fiction oder ernsthafte Therapieoptionen?

Die Integration molekularer Befunde in die Therapieentscheidung für solide Tumoren ist seit vielen Jahren Routine. Beispiele hierfür sind sowohl negativ prädiktive Biomarker, wie etwa RAS-Mutationen bei kolorektalen Karzinomen,5 als auch positiv prädiktive Biomarker. Insbesondere Erkrankungen wie das Lungenkarzinom demonstrieren dabei eindrücklich die wachsende Anzahl an behandelbaren molekularen Veränderungen (u.a. in den Genen EGFR, ALK, ROS1, BRAF, RET, NTRK, HER2, MET und KRAS), deren Testung zur Therapiestratifizierung mittlerweile Standard sind.6 Die hohe Effektivität zahlreicher zielgerichteter Therapieoptionen, wie beispielhaft oben dargestellt, dient dabei als „proof of concept“ für das Konzept der Präzisionsonkologie.

Zahlreiche zielgerichtete Medikamente zeigen dabei, beim Vorliegen des entsprechenden prädiktiven Biomarkers, auch eine Wirksamkeit bei anderen Tumorentitäten. Beispielhaft hierfür war 2019/2020 die erste europäische tumoragnostische Zulassung von Larotrectinib und Entrectinib für solide Tumoren mit Nachweis einer NTRK-Genfusion. In den USA liegen zusätzlich tumoragnostische Zulassungen für Selpercatinib bei RET-Fusionen, Dabrafenib (+ Trametinib) bei BRAFV600E-Mutationen sowie Immuncheckpoint-Inhibitoren beim Nachweis einer hohen Tumormutationslast und/oder einer Mismatch-Repair-Defizienz vor. Die derzeit in den USA zugelassenen histologieunabhängigen Therapien sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Tab. 1: Prädiktive Biomarker und zielgerichtete Therapien mit histologieunabhängiger Zulassung durch die US-amerikanische FDA

Zahlreiche weitere Therapien sind derzeit in Entwicklung. Zuletzt wurden beispielsweise vielversprechende Studiendaten für die zielgerichtete Therapie von KRASG12C-Mutationen, definierten FGFR-Genveränderungen sowie HER2-Überexpression veröffentlicht.7–9 Die zugrunde liegenden Studiendaten machen auch in Europa eine wachsende Anzahl tumorentitätsunabhängiger Zulassungen wahrscheinlich. Die zunehmende Zahl prädiktiver Biomarker macht die Integration einer breiten molekularen Testung für Patient:innen mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen unabdingbar. Molekulare Tumorboards stellen dabei die interdisziplinäre Expertise zur adäquaten Interpretation und klinischen Translation molekularer Befunde. Eine adäquate Nachverfolgung von Patient:innen erlaubt dabei auch die Generierung von Evidenzen zur weiteren Verbesserung derzeitiger Therapiekonzepte. Die Schnittstelle zwischen molekularer Diagnostik und (früher) klinischer Forschung kann dabei auch Studienoptionen für Patient:innen identifizieren, um – neben zugelassenen und „off-label“- Therapieoptionen – eine personalisierte Krebstherapie zu ermöglichen.

1 Adams DR et al.: N Engl J Med 2018; 379: 1353–62 2 Pezo RC, Bedard PL: In: ESMO Handbook of Translational Research. 2015 3 Rieke D et al.: BMC Medicine 2022; 20: 367 4 Illert AL et al.: Nat Med 2023; 29: 1298–301 5 Karapetis CS et al.: N Engl J Med. 2008; 359: 1757–65 6 Hendriks LE et al.: Ann Oncol 2023; 34(4): 339–57 7 Bekaii-Saab TS et al.: J Clin Oncol 2023; JCO2300434 8 Pant S et al.: J Clin Oncol 2023; 41(16_suppl): 3121 9 Meric-Bernstam F et al.: J Clin Oncol 2023; 41(17_suppl): LBA3000

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