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Kein alltäglicher Alltagsbegleiter: Niedriger IQ und hohe Sozialkompetenz

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Ist stolz auf ihren Sohn Luca: Anna Wein. Auch mit Hündin Nele versteht sich der 20-Jährige blendend. Luca hat eine geistige Behinderung und einen Arbeitsvertrag als Alltagshelfer im Malteserstift in Drensteinfurt.
Ist stolz auf ihren Sohn Luca: Anna Wein. Auch mit Hündin Nele versteht sich der 20-Jährige blendend. © Wiesrecker, Mechthild

Junge Menschen mit geistiger Behinderung besuchen nach der Schulzeit in der Regel eine Werkstatt für behinderte Menschen. Nur ein Prozent von ihnen findet eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Einer von ihnen ist Luca Wein aus Rinkerode. Der 20-Jährige hat zum 1. Juli einen Arbeitsvertrag im Malteserstift für eine Anstellung als Alltagsbegleiter unterschrieben.

Drensteinfurt/Rinkerode – Seine Behinderung merkt man Luca Wein auf den ersten Blick gar nicht an. Er ist aufmerksam, höflich und eloquent. Und doch hat man ihm eine geistige Behinderung bescheinigt. „Mit einem getesteten IQ von 54 bis 68 hat er es in der heutigen Leistungsgesellschaft schwer“, sagt seine Mutter Anna Wein.

Einen Menschen allein auf seinen Intellekt zu reduzieren, wird dem jungen Mann aber nicht gerecht. So verfügt Luca seit seiner Kindheit über eine Sozialkompetenz, wie sie nur wenige seiner Alltagsgenossen haben und noch lange nicht jeder Erwachsene. Die Fähigkeit zur höheren Mathematik oder handwerkliches Geschick wurden ihm nicht in die Wiege gelegt, dafür Empathie, Freundlichkeit, Musikalität und gute Rhetorik.

Seine Mutter hat das schon lange erkannt. Für Anna Wein waren die vergangenen Jahre nicht immer leicht. Als Luca vor 20 Jahren auf die Welt kam, unterschied er sich nicht von anderen Kindern oder seinen beiden älteren Brüdern. Er lernte normal laufen und sprechen. Erst als er vier Jahre alt war, fielen kleine Unterschiede auf. Zunächst dachte die Mutter, dass ja jedes Kind sein eigenes Entwicklungstempo hat.

Schock und Erleichterung zugleich

Die Kindergartenzeit verlief problemlos. Bei der Einschulungsuntersuchung empfahl man Luca, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen“ zu besuchen. Damals wohnte die Familie noch in Bayern. Die Mutter folgte der Empfehlung und Luca besuchte ab 2009 eine Förderschule, in der er aber nicht gut zurechtkam. Immer wieder kam es zu Problemen mit Klassenkameraden, sodass er dem sozialpädagogischen Dienst in Memmingen vorgestellt wurde. Nach sechs Wochen stand das Ergebnis fest: Luca hat eine geistige Behinderung. „Für mich war das ein Schock und eine Erleichterung zugleich“, erinnert sich Anna Wein an ihre Gefühle. Das etwas nicht stimmte, wusste sie bereits, und jetzt hatte sie eine Erklärung.

Es folgte ein Schulwechsel zur Förderschule mit dem Schwerpunkt „Geistige Behinderung“ in Holzhausen. In Bayern werden Kinder nicht nach dem Alter, sondern nach ihrem Entwicklungsstand in Klassen zusammengefasst. „Das war für Luca sehr gut“, erzählt die Mutter. Dann änderten sich die Lebensumstände der Familie. Anna Wein zog mit Luca nach Hamm, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Im Haus Walstedde ließ sie ihren Sohn erneut untersuchen. Dort wurde die geistige Behinderung bestätigt. Eine Ursache konnte man trotz humangenetischer Untersuchung bis heute nicht finden.

Nach dem Tod der Mutter fand Anna mit ihrem Sohn in Rinkerode eine schöne Wohnung. Luca besuchte die Vinzenz-von-Paul-Schule in Beckum. „Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt“, blickt er zurück. Besonders gut habe er sich mit seinem Lehrer Marcel Horst verstanden, der ihn fünf Jahre unterrichtete. „Herr Horst hat Luca viel unterstützt und sehr geprägt“, berichtet Anna Wein. Von ihm stammt der Leitspruch „Egal was andere tun, ich mach es richtig“, den Luca bis heute beherzige.

Ich wusste, ich habe das Zeug für den ersten Arbeitsmarkt.

Luca Wein

Dann wechselte der Junge in die Berufspraxisstufe der Schule, an deren Ende die Arbeit in einer Werkstatt winkte. Für die Lehrerin sei das evident gewesen. Doch Luca hatte seine eigenen Vorstellungen. „Für mich war klar, ich habe eine geistige Behinderung, aber ich wusste, ich habe das Zeug für den ersten Arbeitsmarkt“, erklärt er. Das sah auch seine Mutter so. Für sie war offensichtlich, dass die Umwelt, die anderen Menschen die Probleme sehen. „Luca will und kann ein eigenständiges Leben führen“, sagt sie – wenn auch mit Unterstützung. Sie selbst betreut ihren Sohn in Behördenangelegenheiten. Eine eigene Wohnung für ihn könnte sie sich gut vorstellen.

Noch in der Berufspraxisstufe absolvierte Luca Praktika. Im Kindergarten wollte er arbeiten, doch schnell merkte er, dass er sich dort nicht wohlfühlt. Dann bekam er einen Praktikumsplatz im Malteserstift, und obwohl die Arbeit in der Pflegeeinrichtung auf der Liste seiner Wünsche nicht oben stand, gefiel es ihm unerwartet gut – so gut, dass er nach der Schule im August 2022 dort ein Langzeitpraktikum antrat.

Tut den Senioren gut: Luca Wein im Gespräch mit Bewohnerin Gertrud Pferdekemper.
Tut den Senioren gut: Luca Wein im Gespräch mit Bewohnerin Gertrud Pferdekemper. © Wiesrecker, Mechthild

Wenn er von seiner Arbeit im Seniorenstift spricht, bekommt Luca leuchtende Augen und gerät ins Schwärmen. „Die Atmosphäre, die Zusammenarbeit mit den Kollegen, das gefällt mir sehr gut “, sagt er und ergänzt nachdenklich: „Ich wertschätze das Leben seitdem mehr. Die Bewohner sind Vorbilder, auch wenn sie es selbst nicht so sehen. Es tut mir gut, dort zu arbeiten.“ Zur Arbeit fährt der junge Mann übrigens mit dem Zug.

Die Bewohner sind Vorbilder, auch wenn sie es selbst nicht so sehen. Es tut mir gut, dort zu arbeiten.

Luca Wein

Die Maßnahme „Unterstützte Beschäftigung für Menschen mit Behinderung zur Teilhabe am Arbeitsleben“ hat die Anstellung zum Alltagsbegleiter möglich gemacht. Zuvor muss er noch ab dem 27. März eine dreimonatige Qualifizierungsmaßnahme an einer Pflegeschule in Hamm absolvieren.

Fan des BVB und Betreuer beim SVR

Luca freut sich auf die feste Stelle und er fühlt Verantwortung gegenüber den, wie er sagt, „wunderbaren Menschen im Seniorenheim“. Darum möchte er sich weiter qualifizieren. Dafür wird er seinen Tag strukturieren, früh schlafen gehen, auf Partys verzichten, „aber nicht auf den Besuch der Spiele von Borussia Dortmund“. Luca ist großer Fan des Dortmunder Fußballvereins, besucht mit seiner Mutter fast jedes Spiel, fuhr kürzlich sogar mit dem Fanclub zum Spiel nach London. In Rinkerode betreut er beim SVR die erste Mannschaft. Luca hat Freunde, ist im Ort integriert. „Hier ist meine Heimat, hier fühle ich mich wohl“, sagt er.

Dass am Ende alles gut wurde, verdankt Luca dem Bildungsdienstleister SBH West, der Agentur für Arbeit und der Leiterin des Seniorenstiftes Jeannette Möllmann. „Ich bin richtig stolz, dass wir das erreicht haben“, versichert die Heimleiterin. „Luca holt die Leute da ab, wo sie sind, er ist nicht so verkopft wie andere“, sagt sie. Die Heimbewohner seien ruhiger und ausgeglichener, wenn Luca da ist. Dabei würden Menschen wie Luca häufig unterschätzt. Anderen Unternehmen könne sie nur Mut machen, ihrem Beispiel zu folgen, sagt Möllmann.

Anna Wein ist froh, dass ihr Sohn diese Chance bekommen hat, auch wenn der Weg für die beiden steinig war. Die Rinkeroderin ist sich sicher, dass es noch mehr geistig Behinderte gibt, deren Kompetenzen nicht im handwerklichen oder intellektuellen Bereich liegen. „Für soziale Kompetenz gibt es leider keine Schulnoten“, sagt sie schlicht.

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