Kapitel 8.1

30 7 45
                                    

All die Geschichten spielten sich fern von seiner Welt ab.

Es geht mich nichts an, hat Michael sich gesagt. Ihn scherten die wilden Gerüchte nicht, was das Tor ist oder wieso Menschen verschwinden.

Das änderte sich in der schicksalhaften Nacht, als ihn das leuchtende Auge des Tors ins Visier genommen hatte.

Es hat mich ausgesucht. Nein, Wes hat das getan.

Warum ausgerechnet er? Das Chaos, die Qualen, der Sprung – wozu? Damit ihn ein durchgeknalltes Wesen in eine andere Welt zerren und die Gestalt eines Menschen annehmen kann?

Das ist doch ein Witz.

Nur ist Michael nicht zum Lachen, denn er steckt mittendrin, im Reich. Und genau jetzt mustert ihn jener Mann mit wachsamen Augen, erwartet seine Reaktion. So dehnt sich sein feierlicher Augenblick durch das anhaltende Schweigen aus und zieht vorbei.

Wes ist keine Enttäuschung anzusehen. Er lässt wie in Zeitlupe die Arme sinken und zupft sein verzogenes Jackett zurecht. Und das mit einer Erhabenheit, die Michael vormacht, dass er dieses schon ein Leben lang trägt.

„Wieso ich?"

Der Rotschopf steckt die Hände in seine winzigen Hosentaschen. „Ist das nicht offensichtlich?"

„Nein. Ich verstehe es nicht", antwortet er und sieht mit verständnisloser Miene zu ihm auf. „Nichts hiervon."

Wes macht einen Schritt auf ihn zu. Er widersteht gerade noch dem Drang, zurückzuweichen.

„Ich habe dich beobachtet. Ich habe gespürt, wie unglücklich du bist."

Michael läuft es eiskalt den Rücken hinunter.

„Das stimmt nicht. Ich mag mein Leben, wie es ist."

„Ist dem so?"

„Ja."

„Und doch gibt es etwas, das dich plagt, nicht wahr?"

„Ich habe mit allem abgeschlossen." Michael klingt nur halb so überzeugt, wie er es sich wünscht. Er weicht Wes' undurchschaubarem Blick aus und realisiert nicht, wie sich seine Hände zu den Seiten verkrampfen.

Woher weiß er das?

„Ich habe schon viele Menschen gesehen, und viele Formen von Glück. Eine Voraussetzung dafür ist meiner Erkenntnis nach, dass sie mit sich selbst und ihrem Leben im Reinen sind. Trifft das auf dich zu?"

Er antwortet nicht.

„Und noch etwas habe ich entdeckt: Menschen brauchen Antworten auf ihre Fragen. Manche begleiten sie ihr ganzes Leben, an manchen können sie sogar zerbrechen."

Ein heftiger Stich schmerzt in seiner Brust. Trotzdem hält Michael mit Schweigen an seiner Behauptung fest.

Wes' Stimme nimmt einen sanfteren Ton an. „Was hast du wirklich hinter dir gelassen?"

Hoffnung.

„Das kollektive Bewusstsein kann dir das geben, was du dir wünschst: Antworten, Erkenntnisse, mehr noch – deine eigene Geschichte. Deswegen habe ich dich hierhergebracht."

Das Gefühl ertappt und durchschaut worden zu sein, drückt Michael nieder. Von einer Wahrheit, die nicht einmal ihm selbst bewusst war. Sie sind Fremde, und dennoch spricht Wes, als wisse er, was in ihm vorgeht. Trotzdem hebt er den Blick und konzentriert sich mit aller Kraft auf den restlichen Wahnsinn. Damit er endlich aufhört, in seinem Kopf herumzuwühlen. „Was soll das sein, ein kollektives Bewusstsein?"

Der Eindringling schmunzelt zufrieden. „Man könnte es auch als Gedächtnis betrachten – nur hast du nicht nur Zugriff auf deine Erinnerungen, sondern auch auf die aller anderen deiner Linie."

„Aber das ist Vergangenheit", wendet Michael ein. „Sie ist vorbei."

„Die Vergangenheit lebt in euch weiter, sie umgibt euch. So auch im Reich."

Er runzelt die Stirn. Wes scheint ihn imitieren zu wollen und formt eine bizarre, faltige Fratze und bricht anschließend in Gelächter aus. Michael spannt sich an, als er seinen breiten Mund aufreißt und den Abgrund darin entblößt. Noch mehr Schluchten gesellen sich zu seiner ohnehin verzogenen Grimasse. Beim abschließenden Glucksen überlappen sich ein letztes Mal seine unterschiedlichen Stimmen.

„Es ist faszinierend, was man mit euren Gesichtern anstellen kann", sagt er und wischt sich eine Träne von der Wange, die dunkel auf seiner weißen Haut hervorsticht.

Michael blinzelt mehrmals, um die Schreckensbilder vorerst zu verdrängen und ignoriert geflissentlich seine Bemerkung. „Das heißt, man kann hier durch die Zeit reisen?"

„Sozusagen. Ich kann dich zu jeder erdenklichen Erinnerung führen."

„Und was ist der Haken?"

Wes blinzelt unbedarft, was er ihm nicht eine Sekunde abnimmt. „Der Haken?"

„Du verlangst doch bestimmt eine Gegenleistung."

„Ach, richtig", antwortet er, als handle es sich um eine belanglose Formalität. „So ist es. Jeder muss essen, wie du weißt. Sprünge durch die Welten kosten Kraft. Dafür wirst du mich weiterhin mit Erinnerungen versorgen müssen."

Und die werde ich vergessen.

Als habe er Michaels Gedanke gehört, sagt er: „Bedenke jedoch das, was ich dir schon einmal gesagt habe: Nichts geht wahrlich verloren. Wenn du heimkehrst, wird alles, was du mir übergeben hast, zu dir zurückkommen. Was vergangen ist, wird Teil des Bewusstseins und verschwindet nicht."

„Deswegen bin ich aber nicht hier", murmelt Michael, bemüht, die Erklärungen zu verarbeiten. Er hat den Sprung nicht gewagt, um noch mehr von sich selbst zu verlieren.

„Ich will, dass alles wieder so ist wie es war. Gib mir meine Musik zurück, damit ich in meine Welt zurückkehren kann."

„Du wirst sie zurückbekommen." Eine von Wes' Händen wandert auf seine Schulter. Unter dem Druck der spinnenartigen Finger erscheint sie schmal und zerbrechlich. „Doch meine Frage bleibt dieselbe: Möchtest du auf das verzichten, was das Reich dir geben kann? Bist du die Ungewissheit nicht leid?"

Die Kälte dringt durch den Stoff seines T-Shirts. Michael macht einen Schritt zurück, sodass sie wie ein lebloses Stück Fleisch fällt.

Selbst wenn er die Wahrheit sagt, was bringt ihm das? Es würde alles, was er sich aufgebaut hat – Sicherheit, Distanz, ein eigenes Leben – kaputtmachen. Wunden aufreißen, die er über die letzten Wochen mit ganzer Kraft geschlossen hat. Was bringt es, sich die Wahrheit zu erschleichen, wenn sie nicht von der Person kommt, von der man sie sich sein Leben lang gewünscht hat?

Dann würde mich nicht nur ihr Schweigen, sondern auch ihre Gründe dafür verfolgen.

Michael atmet tief ein und aus, um bei dem zu bleiben, was er sich mit dem Schritt in die Großstadt geschworen hat. „Ich habe längst mit allem abgeschlossen. Auf manche Fragen bekommt man nie eine Antwort, so ist das nun mal."

„Doch das ändert nichts daran, dass du nicht von ihnen loskommen wirst", seufzt Wes.

Ich habe es schon so oft versucht. Umsonst.

„Ich brauche sie nicht, das Leben geht weiter."

Trotz allem hört er in der einsetzenden Stille sein wild pochendes, verräterisches Herz – nicht vor Angst, sondern Aufregung.

Michael erträgt das durchdringende Augenpaar auf sich nicht mehr. Er sieht wie gelähmt in die Ferne, spürt sie ununterbrochen auf sich und die einhergehende Erwartung seiner Entscheidung.

The Realm (ONC 2024)Where stories live. Discover now