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Meinung „Rettet Europa!“

Spiel mir das Lied von der Volksverdummung

Reporter
Eigentlich ist es völlig wurscht, wer nächster Präsident der EU-Kommission wird, Martin Schulz (links), Jean-Claude Juncker (rechts) oder jemand aus der „GZSZ“-Truppe Eigentlich ist es völlig wurscht, wer nächster Präsident der EU-Kommission wird, Martin Schulz (links), Jean-Claude Juncker (rechts) oder jemand aus der „GZSZ“-Truppe
Eigentlich ist es völlig wurscht, wer nächster Präsident der EU-Kommission wird, Martin Schulz (links), Jean-Claude Juncker (rechts) oder jemand aus der „GZSZ“-Truppe
Quelle: dpa
Die Beteiligung an der Europawahl sinkt seit Jahren. Weil das nicht sein darf, beeilen sich die Volkserzieher aller Länder, die Wahl zu einem Volksentscheid über Krieg und Frieden hochzustilisieren.

Je näher der Termin der Europawahl heranrückt, desto verzweifelter werden die Bemühungen, diesen „Wahlen“ einen Sinn zu geben. Die Parolen und Versprechen der Parteien gleichen sich wie eine Pusteblume der anderen.

Die CDU will ein Europa, das „Chancen für alle bringt“, die SPD ein „Europa des Miteinanders“, die FDP „Chancen für jeden statt Regeln für alles“, die Grünen versprechen einen „Klimaschutz ohne Grenzen“.

So konzentriert sich alles auf die Frage der Wahlbeteiligung. Die ist seit den ersten Wahlen zum Europaparlament im Jahr 1979 kontinuierlich gesunken, von 63 auf 43 Prozent. Wer diesen Rückgang mit einem Desinteresse der Wähler an „Europa“ erklärt, dürfte nicht ganz daneben liegen.

Womit sich die Frage nach der Legitimation eines Apparates stellt, der den meisten Bürgern – nicht nur in Deutschland – egal ist. Würde das Ergebnis der Europawahl bei einem Dart-Wettbewerb entschieden oder in einem Duell der beiden „Spitzenkandidaten“, Juncker und Schulz, wäre das allgemeine Interesse vermutlich größer.

Gehet hin und wählet!

Die Wahlbeteiligung ist also die Gretchenfrage bei dieser Wahl. Alle, die irgendetwas mit dem Politikbetrieb zu tun haben, und seien sie nur die Stichwortgeber der Akteure, fühlen sich verpflichtet, das Volk zu ermahnen, es solle, nein: müsse zur Wahl gehen, weil gerade diesmal so viel auf dem Spiel stehe.

Als gäbe es in der Bundesrepublik kein Wahlrecht, sondern eine Wahlpflicht. Ob Claus Kleber oder Thomas Roth, Marietta Slomka oder Caren Miosga, Udo van Kampen oder Rolf-Dieter Krause, alle sagen das Gleiche: „Gehet hin und wählet!“

Dass Mitarbeiter der Öffentlich-Rechtlichen sich auf diese Weise instrumentalisieren lassen, kann man mit der „Staatsnähe“ dieser Anstalten erklären. Aber es sind eben nicht nur die Öffentlich-Rechtlichen.

Bei den Privaten sieht es nicht anders aus. Statt die Chance zu ergreifen, ihren Zuschauern zu erklären, worum es bei diesen Wahlen wirklich geht, nämlich um die Wahl eines Placebo-Parlaments, das nicht einmal die Macht hat, über seinen Tagungsort zu entscheiden, beten sie brav nach, was die ARD und das ZDF vorgekaut haben.

Volkspädagogik auch bei den Privaten

Nehmen wir als Beispiel das „RTL-Nachtjournal“ mit Ilka Eßmüller vom 7. Mai. Zuerst ging es um einen Pädophilen-Ring, der mithilfe eines RTL-Reporters von der Polizei ausgehoben wurde. Dann um Tausende Pakete, die sich bei den Zollämtern stapeln, weil immer mehr Deutsche online im Ausland shoppen.

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Anschließend kam ein Bericht aus der umkämpften Ostukraine. Danach war Europa an der Reihe. Der Beitrag wurde von Elka Eßmüller mit diesen Worten anmoderiert:

„Gemeinsame Sicherheitspolitik, in dem Falle, um Russland und die Separatisten zu mäßigen, das ist ein Grund, warum es gut ist, die Europäische Union zu haben. Ein Land allein könnte noch viel weniger ausrichten. Wir 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union können außerdem in jedem EU-Land wohnen oder studieren, durch den gemeinsamen Euro in 15 der 27 EU-Staaten können wir Preise besser vergleichen, der europäische Verbund hat dafür gesorgt, dass das Telefonieren mit dem Handy deutlich günstiger geworden ist. Alles Gründe, um in knapp drei Wochen bei der Europawahl mitzumachen und am 25. Mai wählen zu gehen.“

Fakten können die Begeisterung nicht trüben

Wer immer diese Moderation geschrieben hat, er muss vor Begeisterung dermaßen atemlos gewesen sein, dass ihm gleich zwei dicke Fehler unterliefen. Es gibt nicht 27, sondern 28 EU-Staaten und der Euro ist die offizielle Währung nicht in 15, sondern in 18 Staaten, wenn man die „assoziierten Euro-Nutzer“ – Andorra, Monaco, San Marino und Vatikanstadt, die ebenfalls eigene Münzen prägen dürfen – nicht mitrechnet.

Auch die übrigen Informationen sind nur bedingt richtig. Natürlich können „wir 500 Millionen Menschen in der EU“ wohnen und studieren, wo wir wollen.

Ebenso natürlich ist, dass es weit mehr Menschen aus Bulgarien, Griechenland, Polen, Portugal, Rumänien nach Dänemark, Deutschland, Holland und Österreich zieht als umgekehrt, was die Probleme der einen Länder nicht löst und die der anderen verschärft. Aber das muss der RTL-Zuschauer, dessen größte Sorge ist, wo er in diesem Jahr am günstigsten Urlaub machen kann, nicht wissen.

Ebenso albern ist die Behauptung, „wir 500 Millionen Europäer“ könnten dank dem Euro die „Preise besser vergleichen“. Ja! Zuerst schauen wir uns an, was der Liter Super in Hamburg kostet und dann fahren wir alle nach Luxemburg, wo der Sprit billiger ist. Gut, dass wir verglichen haben!

Einzig das Telefonieren mit dem Handy ist billiger geworden, weil „der europäische Verbund“ dafür gesorgt hat, soll heißen: Neue Anbieter haben für mehr Konkurrenz auf dem Markt gesorgt.

Eine Wahl über Krieg und Frieden?

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Dann geht’s los mit dem Bericht. Eine Stimme aus dem Off sagt, worauf es der Kanzlerin ankommt:

„Die Kanzlerin erinnert daran, dass Europa vor allem eine Friedensordnung ist, über die bei der Wahl auch abgestimmt wird. Allein das verpflichtet, zur Wahl zu gehen. Bei allem Verdruss über die oft zähflüssige Entscheidungsfindung.“

Bei der Wahl wird über die Friedensordnung abgestimmt? Es stehen also nicht Juncker und Schulz zur Wahl, sondern Krieg und Frieden? Das ist nicht mehr Desinformation, das ist schon Nötigung durch Propaganda. Als Beleg dient ein O-Ton der Kanzlerin bei einer Wahlkampfveranstaltung:

„Wir streiten uns nicht über freie Wahlen, wir streiten uns nicht über Pressefreiheit, wir streiten uns nicht über Meinungsfreiheit, wir streiten uns nicht über Religionsfreiheit. Das alles ist für alle 28 Mitgliedsstaaten selbstverständlich. Und damit sind wir 500 Millionen Menschen, die diese Sorgen nicht haben müssen, und damit geht es uns an vielen Stellen besser als anderswo in der Welt.“

Sollen wir dankbar für Selbstverständliches sein?

Dünner geht’s nimmer. Verglichen mit den Menschen in Somalia und Syrien, im Kongo und in der Ukraine geht es uns nicht „besser“, es geht uns gold! Aber ist das ein Grund, dankbar für das Selbstverständliche zu sein? Würde die Kanzlerin deutsche Hartz-IV-Bezieher aufrufen, nicht zu jammern, weil es ihnen besser geht als Arbeitslosen in Indien und Burkina Faso?

Hinzu kommt, dass freie Wahlen, Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit nicht in allen Ländern der EU selbstverständlich sind. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien werden diese Selbstverständlichkeiten ganz anders praktiziert als in Luxemburg, Holland und Dänemark.

Und bei einer Arbeitslosenquote von 27 Prozent ist es für die Griechen ein schwacher Trost, dass die Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit in der Bundesrepublik vorbildlich funktioniert.

Noch weiter als die Kanzlerin geht die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms, die immer ein wenig so wirkt, als käme sie von einer Happy Hour mit ein paar Außerirdischen. Sie sagt:

„Wer nicht zur Wahl geht, der überlässt den Raum den neuen und alten Nationalisten, die reden über Anti-Euro, aber die wollen eben dieses Friedensprojekt Europa nicht.“

Die Chimäre wird mit allen Mitteln herbeigeredet

Was immer man von der AfD, von Geert Wilders oder Marine Le Pen hält, ihnen zu unterstellen, sie wollten Europa in einen Krieg stürzen, ist so absurd, als würde Rebecca Harms damit rechnen, für die nächste Folge von „Germany’s next Topmodel“ aufgestellt zu werden.

Es ist die gleiche Argumentation, mit der die SU am Ende ihrer Tage die Implosion zu verhindern versuchte: Wer gegen den Sozialismus ist, der will den Krieg.

Worum geht es also? Weder um Meinungs- noch um Pressefreiheit, weder um Krieg noch um Frieden. Es geht um eine Chimäre, die mit allen Mitteln herbeigeredet wird. Es ist völlig wurscht, wer nächster Präsident der EU-Kommission wird, Jean-Claude Juncker, Martin Schulz oder jemand aus der „GZSZ“-Truppe.

Juncker will Europa reformieren, Schulz auch. Man müsse, sagt der Rheinländer, „Europa wieder vom Kopf auf die Füße stellen“. Womit er die Frage provoziert, was er denn in den vergangenen 20 Jahren als Europapolitiker gemacht habe. Darauf geachtet, dass Europa im Kopfstand nicht die Balance verliert?

Das Zivilisationsprojekt hängt am dünnen Faden

Europa sei, so Vizekanzler Gabriel vor Kurzem, „das größte Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts“. Als er diesen anspruchsvollen Satz sagte, ahnte er noch nicht, an was für einem dünnen Faden das Zivilisationsprojekt hängt.

Sollte der Europäische Rat – das Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs – es wagen, keinen der beiden „Spitzenkandidaten“, sondern jemand anderen für das Amt des Kommissionspräsidenten zu nominieren, gab Gabriel Anfang dieser Woche bekannt, wäre das „die größte Volksverdummungsaktion in der Geschichte der Europäischen Union“. Wer einen solchen Schritt versuche, werde „die europäische Demokratie auf lange Zeit zerstören“.

Die Zukunft des größten Zivilisationsprojekts des 20. Jahrhunderts, der ganzen europäischen Demokratie hängt also davon ab, wer Präsident der EU-Kommission wird. Wer so etwas sagt und nicht vor Scham im Boden versinkt, dem ist alles zuzutrauen.

Was „die größte Volksverdummungsaktion in der Geschichte der Europäischen Union“ angeht, so ist diese bereits in vollem Gange. Sie begann mit der Aufstellung zweier „Spitzenkandidaten“, die beide den gleichen Ehrgeiz und die gleiche Agenda haben, die sie nur unterschiedlich auslegen.

„Wenn es ernst wird, muss man lügen“, meint Juncker, während Schulz zugibt: „Würde die EU als Staat die Aufnahme in die EU beantragen, müsste der Antrag zurückgewiesen werden – aus Mangel an demokratischer Legitimation.“

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