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Stalins millionenfacher Hungermord an den Bauern

Mai-Demo in London Mai-Demo in London
Die Dummen sterben nicht aus. Mai-Demonstranten in London mit dem Porträt eines Jahrhundertverbrechers
Quelle: dpa
Bei der Kollektivierung der russischen Landwirtschaft starben viele Millionen Menschen. Eine kleine Erinnerung für Gesine Lötzsch.

Vor über 80 Jahren, im Herbst 1930, setzte Josef Stalin eine Politik um, die den Lauf der Geschichte veränderte und über Jahrzehnte Millionen Menschenleben auf der ganzen Welt auslöschte. Im Zuge einer brutalen und rigorosen Kampagne zur „Kollektivierung“ brachte er die sowjetische Landwirtschaft unter staatliche Kontrolle.

Stalin verfolgte diese Kollektivierung trotz des massiven Widerstandes der Menschen. Auf diesen Widerstand hatte die sowjetische Führung mit Erschießungen und Deportationen in den Gulag reagiert, um die Opposition im Vorfeld zu zerschlagen. Doch die sowjetische Bevölkerung leistete auf breiter Front Widerstand. Kasachische Nomaden flohen nach China, ukrainische Bauern nach Polen.

Erschießungen, Deportationen und ökonomischer Zwang

Im darauf folgenden Herbst wurden Erschießungen und Deportationen wieder aufgenommen und durch ökonomische Zwangsmaßnahmen ergänzt. Selbstständige Bauern wurden besteuert, bis sie sich dem Kollektiv anschlossen, und dem Kollektiv bereits angehörende Höfe durften sich das für die nächste Ernte bestimmte Saatgut der selbstständigen Bauern aneignen. Dann setzte der Hunger ein.

Indem man den Kleinbauern das Land wegnahm und sie de facto zu Staatsangestellten machte, konnte Moskau die landwirtschaftlichen Produkte ebenso kontrollieren wie die Menschen. Doch Kontrolle ist noch keine Produktion. Es erwies sich als unmöglich, aus zentralasiatischen Nomaden innerhalb einer Anbausaison produktive Bauern zu machen. Anfang 1930 verhungerten in Kasachstan 1,3 Millionen Menschen.

Stalin sah in hungernden Bauern nur Saboteure

In der Ukraine gab es 1931 eine Missernte. Die Gründe dafür waren vielfältig: schlechtes Wetter; wenige Arbeitstiere, nachdem die Kleinbauern das Vieh lieber schlachteten, als es an das Kollektiv zu verlieren; fehlende Traktoren; Erschießung und Deportation der besten Bauern sowie die Unterbrechung des Erntezyklus durch die Kollektivierung selbst.

„Wie sollen wir die sozialistische Wirtschaft aufbauen“, fragte ein ukrainischer Kleinbauer, „wenn alle zum Hungern verurteilt sind?“ Heute wissen wir, dass Stalin im Jahr 1932 aus der Hungersnot bewusst eine Kampagne gegen den nationalen ukrainischen Widerstand machte: Der Hunger sei ein Sabotageakt und die Aktivisten würden von ausländischen Spionen bezahlt, tönte er.

Dekrete, die das Massensterben programmierten

Im Herbst 1932 erließ der Kreml eine Reihe von Dekreten, die geradezu ein Massensterben programmierten. Eines dieser Dekrete sah vor, die gesamte Versorgung jener Gemeinden zu streichen, die das Getreide-Plansoll nicht erreichten. Unterdessen rissen die Kommunisten alles an Nahrung an sich, was sie finden konnten. „Bis zum letzten kleinen Körnchen“, wie sich ein Kleinbauer erinnerte.

Anfang 1933 wurden dann die Grenzen der Sowjetunion dichtgemacht, sodass die Hungernden auch anderswo keine Hilfe mehr fanden. Sterbende Bauern brachten unter Wachtürmen die Frühlingsernte ein. In den frühen 1930er-Jahren verhungerten in der UdSSR über fünf Millionen Menschen oder verstarben an Krankheiten im Zusammenhang mit dem Hunger. Von den 3,3 Millionen Toten in der Ukraine hätten drei Millionen überleben können, wenn Stalin einfach die Beschlagnahmungen und den Export für ein paar Monate eingestellt und den Menschen Zugang zu den Getreidelagern gewährt hätte.

Vor allem die Ukraine zahlte einen hohen Blutzoll

Rafal Lemkin, polnisch-jüdischer Rechtsanwalt und Urheber des Konzepts und des Ausdrucks „Völkermord“, bezeichnete die Hungersnot in der Ukraine als klassischen Fall sowjetischen Völkermordes. Noch heute versucht die offizielle russische Geschichtsschreibung, die ungeheuren Katastrophen der Kollektivierung in eine vage Tragödie umzudeuten, bei der es keine eindeutigen Täter und Opfer gibt.

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Lemkin wusste damals, dass dem Hunger der Terror folgte. Bauern, die Hunger und Gulag überlebten, wurden Stalins nächste Opfer. Der Große Terror der Jahre 1937–1938 begann mit einer – hauptsächlich gegen Bauern gerichteten – Erschießungswelle, der in der gesamten Sowjetunion 386.798 Menschen zum Opfer fielen, wobei ein unverhältnismäßig hoher Anteil auf die Ukraine entfiel.

Die Kollektivierung warf lange Schatten. Als Nazi-Deutschland in die westliche Sowjetunion eindrang, beließen die Deutschen die kollektivierten Höfe intakt, weil sie diese zurecht als Instrument sahen, das ihnen die Umleitung der Nahrungsmittel in ihrem Sinne und das zielgerichtete Verhungernlassen von Menschen ermöglichte.

Mao kopierte das stalinistische Entwicklungsmodell: 30 Mio. Tote

Als Mao im Jahr 1948 seine Revolution in Gang brachte, folgten die chinesischen Kommunisten dem stalinistischen Entwicklungsmodell. Das bedeutete, dass in den Jahren 1958–1961 etwa 30 Millionen Chinesen während einer Hungersnot ihr Leben verloren, die jener in der Sowjetunion sehr ähnlich war. Auch der maoistischen Kollektivierung folgten Massenerschießungen.

In Nordkorea, wo in den 1990er-Jahren Hunderttausende Menschen verhungerten, bildet die kollektive Landwirtschaft sogar heute noch die Basis für tyrannische Machtausübung. Und in der letzten europäischen Diktatur, in Weißrussland, wurde die kollektive Landwirtschaft erst überhaupt nicht abgeschafft, und mit Alexander Lukaschenko ist ein ehemaliger Direktor eines landwirtschaftlichen Kollektivs bis heute Präsident des Landes. Durch die Kontrolle über den Boden kontrollierte er all die Jahre auch die Macht.

Mehr als achtzig Jahre nach der Kollektivierung ist uns Stalins Welt noch immer Menetekel.

Der Autor ist Professor für Geschichte an der Universität Yale. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin. Copyright: Project Syndicate

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