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Meinung Naturvölker

Lassen wir sie in Ruhe, das ist ihr Recht

Die bedrohtesten Gesellschaften unseres Planeten

Weltweit gibt es mehr als 100 unkontaktierte Völker. Sie sind die bedrohtesten Gesellschaften unseres Planeten. Survival International kämpft seit 1969 für ihre Rechte.

Quelle: Survival International

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Weltweit gibt es über 100 indigene, unkontaktierte Völker. Die meisten leben im Amazonasregenwald. Sie wollen unsere Zivilisation nicht. Sie haben sich für Freiheit statt Fortschritt entschieden.

Solange ich denken kann, habe ich es als wichtige und ergreifende Tatsache betrachtet, dass es Menschen auf der Welt gibt, die anders leben als wir. In der industrialisierten Welt ist es sehr üblich, zu glauben, dass unsere Lebensweise die Norm ist. Und wenn sie sich nicht schon auf alle anderen Kulturen und Teile der Welt übertragen hat, wird sie es bald tun.

Die meisten Menschen betrachten die Ausbreitung von Industrie, Technologie, Kapital und den materiellen Blick auf das Leben nicht nur als normal, sondern als gut – sozusagen als Fortschritt, den wir aktiv fördern sollten.

Ich sehe das nicht so – und was noch viel wichtiger ist: Viele Indigene weltweit sehen das ebenfalls anders, nachdem sie sich Jahrhunderte gegen koloniale Bestrebungen zur Wehr gesetzt haben, ihnen ihr Land und ihre Ressourcen wegzunehmen und sie in den Mainstream zu zwingen.

Bei diesem Kampf geht es nicht nur um Kultur und Vielfalt, sondern vor allem um das Recht indigener Völker, selbst zu bestimmen, wie sie leben möchten, und „Fortschritt“ und „Entwicklung“ nach eigenem Bedarf zu definieren.

Dies gilt besonders für unkontaktierte Völker, mehr noch als bei anderen Gesellschaften auf der Erde. Diese Gruppen – einige davon klein, einige ziemlich groß – haben keinen friedlichen Kontakt mit der Industriegesellschaft. Sie sind die bedrohtesten Gesellschaften des Planeten.

Sentinelesen im Indischen Ozean

Wir wissen nur sehr wenig über sie. Aber wir wissen, dass es weltweit über 100 dieser Völker gibt; die meisten davon leben im Amazonasregenwald, einige aber auch im Chaco von Paraguay, auf den Andamanen-Inseln und in West-Papua. Und wir wissen, dass ganze Gemeinden durch die völkermörderische Gewalt Außenstehender ausgelöscht werden, die ihr Land und ihre Ressourcen rauben und Krankheiten wie Grippe oder Masern bringen, gegen die Unkontaktierte keine Abwehrkräfte besitzen.

Wir wissen auch, dass sie den klaren Wunsch geäußert haben, unkontaktiert zu bleiben. Es gibt für Außenstehende unmissverständliche Zeichen: überkreuzte Speere im Wald oder Pfeile, die auf vorbeifliegende Flugzeuge gerichtet werden.

Unkontaktierte Völker, Ureinwohner, Indianer im Amazonas Gebiet
Unkontaktierte Ureinwohner im brasilianischen Amazonas schießen mit Pfeil und Bogen auf Vertreter unserer Welt, die sie als Eindringliche wahrnehmen
Quelle: Gleison Miranda/FUNAI/Survival International

Die Sentinelesen im Indischen Ozean, die auf wundersame Weise den Tsunami 2004 überlebten, bringen diesen Wunsch klar zum Ausdruck durch nachvollziehbar aggressive Gesten gegenüber jedem, der sich ihrer Insel nähert. Ihre Mitstreiter in den großen Regenwäldern dieser Welt können ihre eigenen Gebiete nicht so klar abgrenzen, machen aber ähnliche Gesten, wenn es einen Anlass gibt.

Außer dass sie Kontakt ablehnen, gibt es aber auch andere Informationen, die wir Fotos oder Filmmaterial von unkontaktierten Völkern entnehmen können. In der Regel zeigen sie gesunde Menschen, darunter Kinder und Ältere, wohlgenährt und ohne sichtbare Krankheitssymptome.

Sie wissen von der Außenwelt

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Einige haben große Häuser und gut gepflegte Gärten mit großen Feldern, wo sie zum Beispiel Maniok oder Mais anbauen. Manchmal erkennt man sogar Dinge von außerhalb, wie Metalltöpfe oder Messer, die sie durch komplexe Tauschbeziehungen erlangt haben.

Diese Einblicke in ihre Lebensweise sprechen eindeutig gegen die Vorstellung, dass wir verpflichtet sind, den Kontakt mit diesen Menschen aufzunehmen. Soweit wir wissen, wollen und brauchen sie unsere Eingriffe in ihr Leben nicht. Sie wissen, dass es eine Außenwelt gibt, aber sie haben sich entschieden, der Mainstreamgesellschaft fernzubleiben.

Diese Menschen sind keine rückständigen und primitiven Relikte einer fernen Vergangenheit. Sie sind unsere Zeitgenossen und ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Vielfalt. Sie schreien nicht nach „Fortschritt“, sondern nach der Freiheit, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen.

Das Wissen unkontaktierter Völker ist unersetzlich und hat sich über Tausende von Jahren entwickelt. Ihre Sprachen, ihre Mythen, ihr Verständnis des Kosmos sind ein einzigartiges Erbe. Kein Außenstehender hat das Recht, dies wegzunehmen oder zu zerstören.

Sie schützen die Natur

Sie sind außerdem die besten Wächter ihrer Umwelt. Und es ist nachgewiesen, dass indigene Schutzgebiete die beste Hürde gegen Abholzung sind. Auf Satellitenbildern vom Amazonasgebiet sind indigene Schutzgebiete – die weiterhin nur einen beschämend kleinen Teil des Regenwaldes einnehmen – deutlich zu erkennen als grüne Inseln, umgeben von Waldrodung, Rinderfarmen und Plantagen.

Es gibt viele Leute, die es bevorzugen würden, wenn diese Gebiete kleiner oder sogar komplett abgeschafft wären. Brasilien beispielsweise, wo mehr unkontaktierte Völker leben als in jedem anderen Land, hat mit den Ruralistas eine mächtige Agrar-Lobby, die die Ausrottung indigener Völker begrüßen würde, damit sie von der Ausbeutung der Gebiete profitieren könnte.

Durch die aktuelle Politik der Regierung, die dazu tendiert, jeglichen verbliebenen Schutz für die Indigenen zu streichen und die Gesetze zum Vorteil der Farmer zu ändern, zeichnet sich heute bereits eine akute und katastrophale humanitäre Krise ab.

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Einige Anthropologen sind der Meinung, dass wir die Verantwortung hätten, sogenannte kontrollierte Kontakt-Expeditionen durchzuführen, um unkontaktierte Völker zwangsweise an unsere Lebensart heranzuführen. Dieses Vorgehen übersieht aber die Lehren aus der Geschichte, die zeigen, dass Kontakt immer fatal ist.

Zo’e, Kawahiva und Akuntsu

Der erste Kontakt muss immer die Entscheidung des unkontaktierten Volkes selbst sein. Diejenigen, die in die Gebiete unkontaktierter Völker eindringen, verwehren ihnen diese Wahl. Völker wie die Zo’é, die Kawahiva und die Akuntsu wurden in jüngster Vergangenheit dezimiert, und weitere Versuche von „kontrolliertem Kontakt“ werden nur zu weiteren Genoziden führen.

Meine Leidenschaft für die Rechte indigener Völker hat mich zu Survival International geführt – der globalen Bewegung für die Rechte indigener Völker. Seit 1969 kämpft Survival für das Recht unkontaktierter Völker auf Land, Leben und eine sichere Zukunft.

Nur durch einen globalen Aufschrei und anhaltenden Druck auf Regierungen, multinationale Konzerne und internationale Organe wie die UN haben die bedrohtesten Völker dieser Erde eine Chance zu überleben. Ich habe mich diesem Aufschrei angeschlossen und bitte jeden, dasselbe zu tun.

Ich glaube, dass unkontaktierte Völker mit aktiver Unterstützung aus aller Welt weiterhin gut und erfolgreich leben können. Werden Sie Teil der Bewegung.

Sir Mark Rylance ist Schauspieler, Regisseur, Aktivist und Botschafter von Survival International

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