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Meinung 75 Jahre Marktwirtschaft

Hätte es das Wirtschaftswunder auch ohne Ludwig Erhard gegeben?

Der „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard im Jahr 1963 in seinem Haus am Tegernsee Der „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard im Jahr 1963 in seinem Haus am Tegernsee
Der „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, 1963 in seinem Haus am Tegernsee
Quelle: picture-alliance / dpa
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Am 20. Juni vor 75 Jahren begann mit Währungsreform und D-Mark die soziale Marktwirtschaft in Deutschland. Der anschließende Boom wird im Wesentlichen Ludwig Erhard zugeschrieben, aber neue Forschungen halten seinen Anteil für geringer.

Vor 75 Jahren, am Sonntag, dem 20. Juni 1948, fand in den drei westdeutschen Besatzungszonen die Währungsreform statt. Löhne und Gehälter, aber auch Steuern und Mieten wurden im Verhältnis 1:1 in D-Mark umgestellt. Zudem erhielt jeder und jede einen „Kopfbetrag“ von 40 D-Mark.

Währungsreform und Preisfreigabe wirkten unmittelbar: Bereits am darauffolgenden Montag, dem 21. Juni, waren die Läden wieder mit zahlreichen Produkten gefüllt, die Händler holten gehortete Waren aus den Lagern und Kellern und stellten sie in ihre Auslagen, da sie sie nun zu rentablen, offiziellen Preisen verkaufen konnten, anstatt sie für Bezugsscheine abzugeben oder sie unter dem Ladentisch gegen die inoffizielle Zigarettenwährung einzutauschen. Westdeutschland hatte ein „Schaufensterwunder“.

Der offizielle Lohn hatte eine deutlich höhere Kaufkraft, das Warenangebot verbreiterte sich. Auch auf der Produktionsseite passierte einiges: Hatten sich die Bewirtschaftungsmaßnahmen der Alliierten als Zwangskorsett für die Gütererstellung erwiesen, stieg die Industrieproduktion bereits in den kommenden Monaten deutlich an – allein bis August 1948 um ein Viertel. Am Horizont schimmerte ein Wirtschaftswunder!

Doch ganz so geschmeidig lief es nicht. Die Preise und die Nachfrage schwankten in den Wochen nach der Währungsreform stark und tendierten nach oben, das Angebot konnte mit dem gestiegenen Wunsch nach mehr Gütern in kurzer Frist nicht Schritt halten. Eine erneute Bewirtschaftung war nicht ausgeschlossen.

Diskussions- und Abstimmungsbedarf gab es vor allem hinsichtlich der Beibehaltung einzelner Preisbindungen, die das tagtägliche Tun in der Verwaltung für Wirtschaft maßgeblich bestimmten. Am 10. September 1948 schreibt Leonhard Miksch, ein enger Berater von Ludwig Erhard, in seinem Tagebuch: „Nachher noch lange Besprechung mit Erhard. Er ermächtigte mich zur Erweiterung des Preisspiegels auf Haushaltsgegenstände.“

Und schon einen Tag später weiß Miksch dann zu berichten: „Gestern habe ich die Normalpreise für Schuhe festgesetzt. Es gibt dabei immer einen stundenlangen und langwierigen Kampf. Ich lasse zuerst die Industrie ihre Abgabepreise bei ‚angemessener‘ Kalkulation nennen. In der Regel gibt es dann einen Streit zwischen Industrie und Handel, die sich wechselseitig beschimpfen. Außerdem muss noch der Gewerkschaftsvertreter befriedigt werden. Aber aus den Vorwürfen, die alle einander machen, kann man ziemlich genau entnehmen, welcher Preis ungefähr gerechtfertigt ist.“

Im November 1948 eskalierte die Situation. Am 12. des Monats riefen die Gewerkschaften zu dem im Nachkriegsdeutschland bislang einzigen Generalstreik gegen die „Wirtschaftspolitik der Volksausbeutung“ auf und forderten eine völlige Umkehr des bisherigen Wegs, inklusive Preiskontrollen sowie Bewirtschaftung und Sozialisierung in einzelnen Bereichen. Erhard blieb Pragmatiker und versuchte die Situation zu entspannen.

Ein gutes Beispiel dafür ist das sogenannte Jedermann-Programm, in dessen Rahmen einige wichtige Güter des täglichen Bedarfs unter direkter staatlicher Aufsicht produziert und zu festen Preisen verkauft wurden. Für private Unternehmen wurden Anreize geschaffen, ihre Anlagen für die Produktion dieser Güter zur Verfügung zu stellen, wobei die Versorgung mit bestimmten besonders stark nachgefragten Rohstoffen an die Teilnahme am Jedermann-Programm gebunden war.

Während einige diese Maßnahme de facto als Rückkehr zu festen Preisen und einer regulierten Wirtschaft interpretierten, stellte Ludwig Erhard klar: „Das ‚Jedermann-Programm‘ ist [...] kein Zeichen einer neuen Wirtschaftspolitik oder einer neuen Wirtschaftsform, es ist eine Notmaßnahme. Und es ist eine Übergangsmaßnahme.“ Krisen erfordern manchmal auch von prinzipientreuen Marktwirtschaftlern ungewöhnliche Maßnahmen.

Eine zweite Chance für das Wirtschaftswunder

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Ende 1948 beruhigte sich die Situation, und es kam zu sinkenden Preisen, auch unterstützt durch den amerikanischen Marshall-Plan, mit dem unter anderem Rohstoffe finanziert, importiert und so die Produktionsmöglichkeiten erhöht werden konnten. Das Wirtschaftswunder bekam doch noch eine Chance. Zwei Warnhinweise sind bei diesem Begriff jedoch angebracht. Erstens: Erhard selbst fand die Bezeichnung „Wirtschaftswunder“ unangemessen.

In Wohlstand für Alle schreibt er: „Weil ich alle Erfolge, die mittels meiner Wirtschaftspolitik errungen wurden, auf das Tun und Lassen der beteiligten Menschen zurückführe, bin ich übrigens auch nicht geneigt, den Begriff des ‚deutschen Wunders‘ gelten zu lassen. Das, was sich in Deutschland in den letzten neun Jahren vollzogen hat, war alles andere als ein Wunder. Es war nur die Konsequenz der ehrlichen Anstrengung eines ganzen Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit eingeräumt erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen.“ Zweitens: Wirtschaftshistorisch ist es gar nicht so eindeutig, ob Erhards Politik tatsächlich der entscheidende Hebel zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach den Zweiten Weltkrieg war.

Der Bielefelder Historiker Werner Abelshauser stellte schon Mitte der 1980er-Jahre die sogenannte Irrelevanz-These auf, nach der die Geschichte auch ohne Erhards Politik ähnlich verlaufen wäre, denn die wirtschaftliche Erholung in den Westzonen sei zum Zeitpunkt der Währungsreform und bei der Etablierung des Marshall-Plans schon in vollem Gange gewesen.

Scheinbare „Sprünge“ in der wirtschaftlichen Entwicklung hätten ihren Grund vielmehr in einer verzögerten Berichterstattung. Richtig ist, dass Westdeutschland in jenen Jahren in der Tat sogenannte Rekonstruktionsprozesse durchlief, soll heißen: Kriege oder andere schwere Wirtschaftskrisen führen oft nur zu einer Unterbrechung des ökonomischen Wachstumstrends.

Ist die Krise vorbei, kann sich die Wirtschaft im Sinne einer nachholenden Entwicklung beschleunigt zurück auf den langfristigen Entwicklungspfad bewegen. Aber selbstverständlich ist es nicht, solche Pfade können auch abreißen, zumal in Perioden tief greifender Transformation.

Erhards Aufsätze und Reden sind noch immer inspirierend

Die von Abelshauser angestoßene Diskussion führte zu weiteren Studien. Es gibt mittlerweile Schätzungen, die den Anteil, den die Einführung der sozialen Marktwirtschaft zur raschen wirtschaftlichen Entwicklung beitrug, auf rund 40 Prozent beziffern. Nicht alles, um die rasante wirtschaftliche Entwicklung der 1950er- und frühen 1960er-Jahren in der Bundesrepublik zu erklären, aber deutlich mehr als nichts.

Die Diskussionen um die Währungsreform zeigen auf, dass der Dicke mit der Zigarre eben nicht nur ein brillanter Kopf, sondern auch ein gewiefter Rhetoriker war. Folglich: Seien Sie vorsichtig, wenn Ihnen jemand glaubhaft machen will, dass diese Maßnahme oder jene Reform genau den Idealen Erhards entspräche. Erhards Aufsätze und vor allem seine Reden sind eine Fundgrube für inspirierende Ideen – und gleichzeitig ein Beleg für seinen politischen Pragmatismus.

Nils Goldschmidt ist Professor für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen. Stefan Kolev ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem Buch: „75 Jahre Soziale Marktwirtschaft in 7,5 Kapiteln“, das gerade bei Herder erschienen ist.

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