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Geschichte Archäologie

Erst die Jagd machte den Menschen zum Menschen

Eigentlich leitet Hermann Parzinger eine der größten Kulturstiftungen der Welt. Jetzt erklärt er uns auf 848 Seiten die Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift. Ein Grundlagengespräch.
Vor 2,5 Millionen Jahren wurde der Mensch mit Homo habilis ein kulturelles Wesen – Rekonstruktion: W. Schnaubelt/N. Kieser (Wildlife Art) für Hessisches Landesmuseum Darmstadt Vor 2,5 Millionen Jahren wurde der Mensch mit Homo habilis ein kulturelles Wesen – Rekonstruktion: W. Schnaubelt/N. Kieser (Wildlife Art) für Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Vor 2,5 Millionen Jahren wurde der Mensch mit Homo habilis ein kulturelles Wesen – Rekonstruktion: W. Schnaubelt/N. Kieser (Wildlife Art) für Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Quelle: picture-alliance / dpa

Hermann Parzinger, 1959 geboren, ist nicht nur der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sondern auch einer der profiliertesten Archäologen der Welt. Als Prähistoriker grub er keltische Höhenburgen in Spanien, bronzezeitliche Bergwerke im Iran und ein intaktes skythisches Fürstengrab in Sibirien aus. Vor seiner Berufung zum Stiftungspräsidenten 2008 war er Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts. Der Autor einer tausendseitigen Geschichte der „frühen Völker Eurasiens“ erfüllte sich mit „Die Kinder des Prometheus“ jetzt einen lange gehegten Traum: „Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“, 848 Seiten stark. Sie erscheint bei C. H. Beck.

Die Welt: Der Präsident einer der größten Kulturstiftungen der Welt wuchtet ein Mammutwerk in die Welt, das mehrere Millionen Jahre Menschheitsgeschichte erzählt. Darüber darf man staunen. Was hat Sie, Herr Parzinger, bei diesem Projekt angetrieben und bewegt?

Hermann Parzinger: Ich schreibe gern, das ist für mich nicht Arbeit, sondern eine Art Erholung, schreiben versetzt mich in eine andere Welt. Die Arbeit an dem Buch, die sich über Jahre hinzog, war für mich ein wunderbarer Ausgleich.

„Das Erfolgsgeheimnis der meisten Frühmenschen war die Fähigkeit zur genauen Naturbeobachtung und zum Sammeln und Tradieren von Erfahrungswissen“: Hermann Parzinger ist Archäologe und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin
„Das Erfolgsgeheimnis der meisten Frühmenschen war die Fähigkeit zur genauen Naturbeobachtung und zum Sammeln und Tradieren von Erfahrungswissen“: Hermann Parzinger ist Archäologe ...und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin
Quelle: Reto Klar

Die Welt: Erholung von Ihrem anstrengenden Job?

Parzinger: Ich bin Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, aber auch Wissenschaftler und Archäologe, wenngleich die Aufgaben in der Stiftung natürlich im Vordergrund stehen. Aber bei inhaltlichen Fragen zur Museumsinsel und zum Humboldtforum im Berliner Schloss stößt man immer wieder auf grundlegende Phänomene der Menschheitsgeschichte. Bei mir hat das den Blick in eine globale Perspektive geweitet.

Die Welt: Aber wie schaffen Sie dieses gewaltige Pensum? Sie können doch nicht den archäologischen Forschungsstand sämtlicher Kontinente für einen Zeitraum von Millionen Jahren von den frühen Hominiden bis zu den ersten jungsteinzeitlichen Bauern präsent haben?

Parzinger: Die Sesshaftwerdung und das Entstehen komplexer Gesellschaften beschäftigen mich seit meiner Studienzeit. Über die Jahre hinweg habe ich viel Material gesammelt und zahllose Projekte durchgeführt. Dahinter stand immer der Wunsch, das einmal zusammenzutragen. Die Archäologie verliert sich ja oft in sehr speziellen Einzeldarstellungen. Ich wollte einmal eine Gesamtschau der Grundmechanismen früher Menschheitsgeschichte wagen.

Die Welt: Vor dreißig, vierzig Jahren war die Archäologie noch stark kunstgeschichtlich orientiert und auf einzelne Objekte fixiert. Nun schreiben Sie als Ur- und Frühgeschichtler eine Menschheitsgeschichte bis zur Erfindung der Schrift. Kann man das als Paradigmenwechsel der Archäologie verstehen?

Parzinger: Die Klassische Archäologie hat sich früher vorwiegend kunstgeschichtlich verstanden, doch das hat sich inzwischen stark verändert. Die verschiedenen Altertumswissenschaften nähern sich in ihren Fragestellungen an. Die Ur- und Frühgeschichte bzw. Prähistorische Archäologie, die sich mit jeglichen Resten materieller Kultur beschäftigt, verlor sich früher zu oft in purem Faktizismus. Ich verstehe Archäologie als Teil der Geschichte. Das ist ja das Spannende, auch die Prähistorische Archäologie muss das, was sie aus ihren Quellen erschließt, als Geschichtserzählung in Worte fassen können.

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Die Welt: Ist das nicht sehr kühn, Zeiträume von Jahrmillionen, aus denen nur ein paar Knochenfragmente und einige Artefakte überliefert sind, in eine Erzählung zu packen, die von Menschen handelt?

Parzinger: Nicht im geringsten, wenn man sich streng an die Quellen hält und diese in ihrer Aussagekraft nicht überfordert. Ich erzähle aber auch von dem, was wir nicht wissen und nicht wissen können. Allerdings bemühe ich mich schon, dem Leser anschaulich zu machen, wie diese frühe Geschichte der Menschheit verlaufen ist. In diese Epochen fallen die Nutzung des Feuers, die Sesshaftwerdung, der Übergang zum produzierenden Wirtschaften aber auch die Entwicklung von Spiritualität und Kunst und vieles mehr.

Die Welt: Im Untertitel ihres Buches springen zwei Begriffe ins Auge: „Geschichte“ und „Menschheit“. Wann beginnt Geschichte, und wer zählt zur Menschheit?

Vor 2,5 Millionen Jahren wurde der Mensch mit Homo habilis ein kulturelles Wesen – Rekonstruktion: W. Schnaubelt/N. Kieser (Wildlife Art) für Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Vor 2,5 Millionen Jahren wurde der Mensch mit Homo habilis ein kulturelles Wesen – Rekonstruktion: W. Schnaubelt/N. Kieser (Wildlife Art) für Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Quelle: picture-alliance / dpa

Parzinger: Das ist ziemlich klar. Die frühesten Hominidenreste, gefunden in der Sahelzone im heutigen Tschad, sind etwa sieben Millionen Jahre alt. Das ist der biologische Beginn der Menschheit. Der Mensch als kulturelles Wesen tritt mit den ersten Steingeräten in Erscheinung. Das war vermutlich der Homo habilis vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. In der Olduvai-Schlucht in Tansania fand man die ältesten Geröllgeräte, bearbeitete Steine, die zur Zerkleinerung von Fleisch dienten. Aus dem Vegetarier Australopithecus war ein Aasfresser geworden.

Die Welt: Ein ziemliches Problem für den Vegetarier …

Parzinger: Das ist es, was mich das ganze Buch hindurch interessiert: den Menschen aufgrund seiner materiellen Hinterlassenschaften als planmäßig handelndes, denkendes und mithin kulturelles Wesen aufzuspüren, der Probleme lösen kann. Das beginnt mit dem Übergang zum Aasfresser.

Die Welt: Das Fleisch wird zum Kulturmotor?

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Parzinger: Da der Frühmensch kein Raubtiergebiss besitzt, braucht er Geräte, um Fleisch zu zerteilen. Zwar kennen wir auch bei Tieren den Gebrauch von Hilfsmitteln. Aber spezifisch für den Menschen ist, dass er Gerätschaften für eine bestimmte Funktion gezielt herstellt.

Die Welt: Mit Fleischnahrung wird Homo also größer und klüger.

Mit Homo erectus lernte der Mensch seit knapp zwei Millionen Jahren den Umgang mit dem Feuer
Mit Homo erectus lernte der Mensch seit knapp zwei Millionen Jahren den Umgang mit dem Feuer
Quelle: picture alliance

Parzinger: Homo erectus, der vor knapp zwei Millionen Jahren auftritt, ist in der Tat größer und kräftiger als seine Vorgänger und verfügt über ein größeres Gehirnvolumen. Er beherrscht das Feuer und kann mit dessen Hilfe Nahrung besser verdaulich und auch haltbar machen. Ferner ist er Jäger und unternimmt Treibjagden, was wiederum einen hohen Grad an sozialer Organisation und Kommunikation voraussetzt. Der Homo erectus legt auch erste Lagerplätze an. Das Feuer befähigt ihn außerdem, kältere Gegenden zu besiedeln.

Die Welt: Zum Beispiel Asien und Europa.

Parzinger: Richtig. Aus Spätformen des Homo erectus gingen in Europa dann der Neandertaler und in Afrika der Homo sapiens, also der moderne Mensch hervor. Beide sind hoch spezialisierte Jäger. Schon beim Neandertaler finden wir Anzeichen für eine Befassung mit dem Jenseits. Beim Homo sapiens kommt es dann zum Sprung zur kulturellen Modernität. Früh greift der moderne Mensch dabei in seine natürliche Umwelt ein und brannte Wälder nieder, um den von ihm gesammelten Wildpflanzen bessere Wachstumsbedingungen zu ermöglichen und für sich selbst bessere Jagdbedingungen zu schaffen.

Die Welt: Die Jagd war also das entscheidende Movens der Menschheitsgeschichte, ohne Jagd kein menschliches Hirn, keine soziale Kooperation, keine Spiritualität und keine Kunst? Das ist heutigen Veganern schwer zu vermitteln.

Parzinger: In der Tat drehte sich viel um die Jagd auf Herden und die Verarbeitung nicht nur riesiger Fleischmengen, sondern auch der Felle, der Knochen und der Sehnen. Solche Treibjagden zu planen, erfordert nicht nur Organisation und Kommunikation, sondern auch ein umfassendes, aus genauer Naturbeobachtung gewonnenes Erfahrungswissen.

Die Welt: Was sind die Gründe für den durchschlagenden Erfolg von Homo sapiens, der schließlich den Neandertaler verdrängte?

Vor gut 200.000 Jahren entstand in Europa der Neandertaler
Vor gut 200.000 Jahren entstand in Europa der Neandertaler
Quelle: picture alliance / dpa

Parzinger: Der Neandertaler war der europäische Beitrag zur Humanevolution, weil er nur in Europa und vereinzelt noch im Nahen Osten lebte. Den intellektuellen Fähigkeiten des Homo sapiens war er aber letztendlich unterlegen. Der Homo sapiens wanderte vor etwa 40.000 Jahren aus Afrika nach Europa ein.

Die Welt: Warum?

Parzinger: Das ist schwer zu sagen. Offene Savannenlandschaften waren keine natürlichen Hindernisse mehr, und die immer bessere, proteinhaltige Nahrung stärkte auch seine Beinmuskulatur, die ihn führte, soweit die Füße trugen. Aber solche Wanderungsbewegungen haben sich im Laufe von Jahrzehntausenden abgespielt. Das waren ganz allmähliche Prozesse.

Die Welt: Aber im Prinzip halten Sie schon an der Out-of-Africa-These fest, dass Afrika die Wiege der Menschheit sei. Chinesische Forscher behaupten eine eigenständige asiatische Herkunftsgeschichte.

Parzinger: Ja, denn für alles andere gibt es keine stichhaltigen Beweise. Die Fakten sprechen für einen afrikanischen Ursprung unserer Vorfahren.

Die Welt: Noch einmal zurück zum Erfolgsmodell Homo sapiens. Ist das eher biologisch oder eher kulturell bestimmt? Kann man das überhaupt auseinander halten?

Parzinger: Das Erfolgsgeheimnis der meisten Frühmenschen war die Fähigkeit zur genauen Naturbeobachtung und zum Sammeln und Tradieren von Erfahrungswissen. Das begann schon mit dem Homo heidelbergensis, denken Sie nur an die berühmten Holzspeere von Schöningen. Die sind so perfekt gearbeitet, dass sie in ihren Flugeigenschaften modernen Wettkampfspeeren entsprechen. Dazu kommt der menschliche Drang zur unermüdlichen Optimierung der eigenen Lebensbedingungen und damit auch zum aktiven Eingriff in die Natur.

Die Welt: Kann man sich das tatsächlich als stetige Aufwärtsentwicklung vorstellen?

Parzinger: Ja und nein. Jeder große Entwicklungssprung in der Menschheitsgeschichte hatte auch seine Nachteile und Gefahren. Betrachten Sie den Übergang zur Sesshaftigkeit und zur Landwirtschaft. Einerseits wird Ernährung planbar, die Geburtenrate steigt, die Bevölkerung wächst, Siedlungen werden größer. Auf der anderen Seite wird die Ernährung einseitiger als bei Wildbeutern, Missernten können ganze Siedlungen auslöschen, und durch das enge Zusammenleben mit Nutztieren werden deren Krankheitserreger durch Mutation auch für den Menschen lebensgefährlich.

Die Welt: Welche Rolle spielen Kult und Religion beim Übergang zur Landwirtschaft? Wurde der Übergang zum produzierenden Wirtschaften auch dadurch angestoßen, dass Nahrungsvorräte und Opfertiere für große kultische Zusammenkünfte bereit gehalten werden mussten?

Parzinger: Das ist gut möglich. Man denkt sofort an die Ausgrabungen am Göbekli Tepe in Obermesopotamien, wo der leider kürzlich verstorbene Klaus Schmidt eine gigantische Anlage aus Steinkreisen aus dem 10. Jahrtausend v. Chr. entdeckt hat. Sie fällt in die Zeit des Umbruchs vom Wildbeutertum zur Landwirtschaft. Möglicherweise musste dieser radikale Wandel im Verhältnis des Menschen zur Natur auch rituell verarbeitet werden. Jedenfalls fanden dort riesige Zusammenkünfte zur gemeinschaftlichen Nahrungsaufnahme statt. Dafür musste man Vorsorge treffen, was mit produzierendem Wirtschaften leichter möglich war.

Die Welt: Was sind das für Götter, die da verehrt wurden?

Parzinger: Wir wissen es nicht. Es gibt keine Hinweise, dass man so früh überhaupt Götter hatte. Wir wissen auch nicht, wie wir die bildlichen Darstellungen von Tieren, Menschen und Mischwesen deuten sollen, die wir in solchen Kultanlagen finden. Zu jener Zeit gab es auch schon die ersten Monumentalskulpturen von Menschen. Das ist aber keine Besonderheit Anatoliens, denn auch östlich des Urals hat man in Mooren drei Meter große menschliche Holzskulpturen aus dem 8. Jahrtausend gefunden. Die Archäologie hält noch viele Überraschungen für uns bereit.

Die Welt: Die Arbeit an solchen monumentalen Bauwerken trieb die soziale Organisation und Differenzierung weiter voran.

Parzinger: Ja, es muss Baumeister gegeben haben sowie Leute, die die Materialbeschaffung, den Transport und den Aufbau geleitet haben. Doch das Prinzip übergreifender Organisation von Gruppen beginnt schon bei den Treibjagden des Homo erectus, wurde später bei wachsenden Anforderungen natürlich immer komplexer und effizienter.

Die Welt: Es ist aber ein Unterschied, ob ich zur Nahrungsbeschaffung kooperiere oder im Sinne eines gemeinsamen Kults.

Parzinger: Natürlich, die Bedeutung des Religiösen nimmt im Laufe der Jahrtausende zu. Aber wissen wir, ob die Jagd vor Beginn der Sesshaftwerdung nicht auch rituelle Bedeutung hatte? Die eiszeitlichen Höhlenmalereien des frühen Homo sapiens hatten gewiss eine kultisch-religiöse Konnotation.

Die Welt: Man spricht in der Ur- und Frühgeschichte vom „neolithischen Bündel“, also einem Ensemble von Merkmalen, die diese Kulturstufe auszeichnen: Sesshaftwerdung, Ackerbau, Viehzucht, Keramik. Sie schreiben, man dürfe dieses Bündel nicht als Entwicklungsnorm betrachten. Zwischenstufen, etwa nomadische Hirtenkulturen, haben sich bis in die Gegenwart gehalten.

Hermann Parzinger: „Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“. (C. H. Beck, München, 848 S., 39,95 Euro)
Hermann Parzinger: „Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“. (C. H. Beck, München, 848 S., 39,95 Euro)
Quelle: C. H. Beck

Parzinger: Eine wesentliche Erkenntnis des Buches ist für mich, dass das „volle“ neolithische Programm nur selten auf einen Schlag auftritt. In Mesopotamien kamen die einzelnen Elemente erst nach und nach hinzu. Vom Fruchtbaren Halbmond aus, also dem Gebiet zwischen Levante und Zweistromland, wurde dieses neolithische Bündel dann in verschiedene Richtungen exportiert, meist durch Migration. Neue populationsgenetische Studien zeigen nämlich, dass die Wildbeuter in Mitteleuropa nicht allmählich zu Ackerbauern wurden, sondern dass Ackerbauern aus Südosteuropa zuwanderten und die Wildbeuter verdrängten. In welchem Umfang sich die neue produzierende Wirtschaftsform durchsetzte, hing dabei immer auch vom Domestikationspotenzial der jeweiligen Region ab. Welche domestizierbaren Wildtiere und Wildpflanzen waren vorhanden? In Australien etwa blieben die Aborigines bis zur Kolonialzeit Wildbeuter, auch weil es nichts zu domestizieren gab.

Die Welt: Liegt darin auch ein Grund dafür, dass Afrika südlich der Sahara, der Wiege der Menschheit, in seiner Entwicklung zurückfällt?

Parzinger: Nordafrika war relativ dicht besiedelt, bevor im 4. Jahrtausend v. Chr. eine massive Austrocknung einsetzte und die Bevölkerung ins Niltal und nach Süden in die Sahelzone abwanderte. Diese Migrationen brachten die Viehzucht an die Peripherie West- und Zentralafrikas, die nach Süden hin ihre Grenze aber im Verbreitungsgebiet der Tsetsefliege fand, die auf Rinder die Nagana-Seuche überträgt. Die gesamte Südhälfte des Kontinents war durch den Regenwald bis zum Beginn der Eisenzeit ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. vom Rest der Welt weitgehend isoliert.

Die Welt: Dagegen beschreiben Sie das neolithische Europa als eine Art Innovationszentrum.

Parzinger: Im späten 4. Jahrtausend v. Chr. passiert tatsächlich eine Menge. Rad und Wagen treten in Mitteleuropa auf, Rinder werden als Zugtiere eingesetzt, die Metallurgie beginnt und etwas später wird das domestizierte Pferd eingeführt.

Die Welt: Gab es bei der Arbeit an dem Buch Momente, in denen sie Dinge plötzlich auf eine überraschende Weise klarer sahen?

Parzinger: Man geht ja mit gewissen Grundvorstellungen an eine solche Arbeit heran. Dass zum Beispiel der Übergang zur Landwirtschaft sich nicht überall gleichförmig vollzog, das war mir irgendwie schon klar. Aber die Deutlichkeit, mit der sich das dann differenzierte, hat mich durchaus überrascht. Aber auch das lange Fortleben von Wildbeuterkulturen in bestimmten Naturräumen ist ein faszinierendes Phänomen. Es gab keinen allgemeinen Drang zu Ackerbau und Viehzucht. Dort, wo Jäger, Fischer und Sammler Nahrung in Überfluss vorfanden, blieben sie bei ihrer Lebensweise.

Die Welt: Umso mehr wundert man sich über die Macht, mit der sich die produzierende Lebensweise dann doch durchsetzt, trotz ihrer unangenehmen Nebenwirkungen wie wechselhafte Ernten, eingeschränktes Nahrungsangebot, Herrschaft, Seuchen, Mühsal.

Parzinger: Aber eben nicht überall. Auf den Aleuten gab es im 1. Jahrtausend v. Chr. eine riesige Siedlung, Adamagan, mit Hunderten von Häusern. Die Bewohner, Fischer und Robbenjäger, fanden dort paradiesische Zustände vor und sahen gar keine Notwendigkeit, zum produzierenden Wirtschaften überzugehen.

Die Welt: Aber irgendwann kommt dann die Zeit, in der Gemeinschaften, sei es, dass sie zu groß geworden waren, sei es dass sich die ökologischen Rahmenbedingungen änderten, das Paradies verlassen.

Parzinger: Mit dem Übergang zu Sesshaftigkeit und produzierendem Wirtschaften entstehen Dynamiken, die vom Menschen nur mehr bedingt gesteuert werden können. Wenn erst einmal Ungleichheit entstanden ist, sucht sie sich ihren Weg und ihre Ausdrucksformen und mündet in Herrschaftsstrukturen, die ihre Macht auch mit Hilfe von Verwaltung und Schrift sichern. Spätestens dann hatte der Mensch eine Entwicklung in Gang gesetzt, die er nicht mehr zurückdrehen konnte.

Die Welt: Sie schildern den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, das seinen Geist für die Sicherung und Weiterentwicklung seiner Existenz eingesetzt hat und dabei, trotz aller Kollateralschäden, ziemlich weit gekommen ist. Und Sie äußern die Erwartung, dass es so auch weiter geht. Bleiben Sie angesichts gegenwärtiger Entwicklungen bei diesem ermutigenden Fazit?

Parzinger: Doch, doch, durchaus, der Mensch hat schließlich bereits eine Menge überstanden …

Die Welt: Wenn man die gewaltigen Zeiträume, die Sie in ihrer Menschheitsgeschichte durchmessen, auf ein Zifferblatt überträgt, dann haben wir 59 Minuten als Wildbeuter gelebt, sind seit einer Minute sesshafte Landwirte und seit einigen Zehntelsekunden Zeitgenossen einer industriellen und postindustriellen Moderne. Welches Gewicht haben denn die Jahrmillionen als Jäger und Sammler für uns heute noch? Steckt uns die Jagd in den Genen, oder können wir das hinter uns lassen?

Parzinger: Na ja, der Vergleich hinkt insofern ein wenig, weil sich die Menschheitsgeschichte vom Faustkeil bis zum iPhone natürlich enorm beschleunigt hat. Und auch die eine Minute Landwirtschaft auf Ihrem Zifferblatt bedeutet letztlich 10.000 Jahre, das ist eine verdammt lange Zeit. Im Hinblick auf den Fleischkonsum kann ich nur sagen, dass die frühe Menschheitsgeschichte als Argumentationsreservoir für heutige Lebensstilkontroversen ungeeignet ist. Mit unserer Jahrhunderttausende langen Geschichte als überwiegend Fleisch essende Jäger lässt sich jedenfalls keine moderne Massentierhaltung rechtfertigen.

Die Welt: Am Ende resümieren Sie, dass Ihnen die Arbeit an dem Buch die Hinfälligkeit jeglicher menschlicher Kultur vor Augen geführt habe. Wie sehr gefährdet die Beschäftigung mit so langen Zeiträumen den Glauben an die Stabilität unserer gegenwärtigen zivilisatorischen Verhältnisse?

Parzinger: Über Jahrtausende ungestörte Entwicklungen gibt es selten. Zum einen können sich einmal erreichte Kulturverhältnisse sehr lange unverändert halten. In anderen Weltregionen durchlief die Menschheitsgeschichte dagegen einen ständigen Wechsel von Blüte und Untergang. Zum Apokalyptiker muss man deshalb aber nicht werden.

Die Welt: Ist dieser große, das Ganze der Menschheitsgeschichte suchende Blick ihres Buches programmatisch für das Humboldtforum, das im Berliner Stadtschloss eingerichtet werden soll?

Parzinger: Kann sein, vielleicht aber auch eher umgekehrt. Wäre ich nicht als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz seit Jahren mit der Konzeption des Humboldtforums als Präsentationsort der außereuropäischen Kulturen befasst, hätte ich die globale Perspektive auf mein eigenes Fach, die Prähistorische Archäologie, wohl nicht gewonnen. Insofern war das Amt des Stiftungspräsidenten letztendlich auch für mein eigenes wissenschaftliches Fachgebiet ungemein befruchtend.

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