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Geschichte Klimaanlage

Erst dieser Kasten ermöglichte die Globalisierung

Weil er ein Mittel gegen Luftfeuchtigkeit suchte, erfand der Amerikaner Willis Carrier 1902 die Klimaanlage. Mit ihr erhielten die Tropen die Chance, Anschluss an die Moderne zu finden.
Klimaanlagen können hitzegeplagte Menschen schon mal in Jubelstimmung versetzen. Doch die Airconditioner haben auch das Gesicht der Welt verändert Klimaanlagen können hitzegeplagte Menschen schon mal in Jubelstimmung versetzen. Doch die Airconditioner haben auch das Gesicht der Welt verändert
Klimaanlagen können hitzegeplagte Menschen schon mal in Jubelstimmung versetzen. Doch die Airconditioner haben auch das Gesicht der Welt verändert
Quelle: www.jupiterimages.com

Kaspar Almayer leidet. Immer wieder träumt der niederländische Handelsvertreter auf Borneo davon für den Rest seines Lebens in die Heimat zurückzukehren, zum europäischen Komfort – und, vor allem, zum gemäßigten Klima. Die drückende, erstickende Abendhitze der Tropeninsel macht ihm zu schaffen. Auch seine Flucht aus dem Haus auf die Veranda hilft ihm nichts. Almayer ist die Titelfigur aus Joseph Conrads erstem Roman, und immer mal wieder lässt der Autor aus den Seiten die unentrinnbare Schwüle dampfen. Als literarisches Vehikel, mit dem er seinen Protagonisten in den Wahn treibt.

„Almayers Wahn“, wie der 1895 erstmals erschienene Bestseller heißt, war nur Belletristik. Doch wer vor hundert Jahren oder früher auch im wirklichen Leben als Geschäftsmann in den Tropen arbeitete, musste opferbereit sein, extreme Bedingungen in Kauf nehmen, mit Verlusten seiner Leistungskraft rechnen.

Reisenden im hohen Norden standen schon immer Errungenschaften zur Verfügung, mit denen sie lebensfeindliche Kälte abschütteln konnten: der Ofen, der Pelzmantel. Wo es aber um unerträgliche Hitze ging, beim Amtmann in den Kolonien Schwarzafrikas, beim Händler im schwülen Südostasien, beim Missionar im Amazonasbecken – da gab es bis weit in die Moderne hinein keine Flucht vor der schweißtreibenden Temperatur.

Die Klimaanlage löste Völkerwanderungen aus

Doch dann kam der Juli 1902, ein Sommer, der eine der wichtigsten Voraussetzungen schuf für die Globalisierung: die Klimaanlage. Ein Gerät, das binnen weniger Jahrzehnte das Leben in den tropischen, ariden und semiariden Zonen in zwei parallele Welten trennen sollte: in ein angenehm kühles, abgeschottetes Drinnen und ein heißes, ungemütliches Draußen. Die Klimaanlage sollte die Welt verändern, weltvergessene Tropennester in boomende Industrie- und Handelszonen verwandeln, deren Wohlstand wie ein Magnet die Menschen vom Land anlockte, wo ihre Arbeit nicht mehr benötigt wurde. Sie löste Völkerwanderungen aus.

Es war unerträglich warm in jenem Jahr in New York. So brütend, dass in der Lithoanstalt Sackett & Wilhelms die Maschinen stoppten. Das Haus in Brooklyn war bekannt für hochwertige Colordrucke, jede Farbe trugen die Meister in gesondertem Vorgang auf. Nun aber, in der Hitze, schwankte die Luftfeuchtigkeit so sehr, dass sich das Papier verzog, die Konturen verwischten. Fehldrucke en masse. Der Geschäftsführer wandte sich an die Buffalo Forge Company, die eigentlich Heizlüfter herstellte, fragte an, ob es dort jemanden gebe, dem etwas gegen hohe Luftfeuchtigkeit einfiele.

Willis Haviland Carrier (1876-1950) meldete das Patent für einen „Apparat zur Behandlung von Luft“ an und wurde damit zum „Father of Cool“
Willis Haviland Carrier (1876-1950) meldete das Patent für einen „Apparat zur Behandlung von Luft“ an und wurde damit zum „Father of Cool“
Quelle: picture alliance / Everett Colle

Buffalo Forge schickte einen jungen Ingenieur, Willis Haviland Carrier. 25 Jahre alt war er, frisch von der Universität, noch etwas unerfahren. Doch der Chef hatte ihm einen kleinen Raum eingerichtet, in dem er getüftelt und Grundlagenforschung über die Produktion von Hitze betrieben hatte. Und nun der Einsatz bei Sackett-Wilhelms: Der findige Carrier baute kurzerhand eine normale Heizung um, pustete per Ventilator Luft in die Rohre, die er mit Wasser abkühlte. So entzog sein Apparat, wie gewünscht, der Luft Feuchtigkeit. Und: Ganz nebenbei kühlte er sie auch noch.

Es ist eine Ironie der Technikgeschichte, dass ein simpler Trick, der zur Kühlung eines Raumes dient, erst dann angewendet wurde, als diese Kühlung einem ganz anderen Zweck dienen sollte, nämlich die Luftfeuchtigkeit zu verringern. Dabei wäre die Idee mit den wassergekühlten Rohren auch in den Jahren zuvor keine Wundertat gewesen, und man hätte all den realen Almayers in den Tropen die Tortur ersparen können.

Kinos und Kaufhäuser wurden Pioniere

Da Carriers Erfindung zunächst nicht auf die Temperatur, sondern die Luftfeuchtigkeit zielte, ging sie nicht als Kühlmaschine in die Überlieferung ein, sondern als „Klimaanlage“. Das Englische „air conditioner“ (A/C) könnte man als „Luftverbesserer“ übersetzen. Das Patent auf seinen Geistesblitz meldete der Erfinder als „Apparat zur Behandlung von Luft“ an, Patent No. 808897. Inzwischen als „Father of Cool“ bekannt, gründete er 1915 die Carrier Engineering Corporation, mit einem Startkapital von 35.000 Dollar. Das Unternehmen ist bis heute Weltmarktführer auf dem A/C-Markt.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Vorteile der Klimaanlagen herumsprachen. Filmfabriken, Tabakhersteller, Fleischverarbeiter – Gewerbebetriebe mit empfindlicher Ware waren die Ersten, die sie nutzten. In den 1920er-Jahren dann lernten die ersten Branchen, in den heißen Monaten mit kühler Luft die Kundschaft anzulocken wie der Ofen die Katze im Winter.

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Pionier war im Sommer 1924 der Betreiber des Rivoli-Kinos in New York. Sein Umsatz stieg sprunghaft, die Anlage war in drei Monaten amortisiert. Weitere Lichtspieltheater folgten, dann die großen Kaufhäuser. Doch die Menschenströme, die sie anzogen, waren nur die Vorläufer weltweiter Bewegungen. Angefangen in den USA.

Wiederholt mussten Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg den Vormarsch einstellen, weil sie das Klima in den Südstaaten nicht ertrugen. Das Foto zeigt eine Sanitätseinheit 1863 vor Vicksburg (Mississippi)
Wiederholt mussten Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg den Vormarsch einstellen, weil sie das Klima in den Südstaaten nicht ertrugen. Das Foto zeigt eine Sanitätseinheit 18...63 vor Vicksburg (Mississippi)
Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS

Der Erste, der die Tragweite erkannte, war der texanische Schriftsteller Frank Dobie, kurz nachdem 1928 die erste Klimaanlage in einem Privathaus eingebaut wurde: „Texas wird zugrunde gehen“, schrieb er, „jetzt können die Yankees auch hier leben.“ Und die Nordstaatler kamen, massenhaft.

Als in den 1960er-Jahren der A/C in den mittelständischen Wohnhäusern der Südstaaten zum Standard wurde, kehrte sich dort die jährlich millionenfache Abwanderung in eine ebenso starke Zuwanderung um. Raymond Arsenault, Südstaaten-Historiker, vergleicht die Fabrikanten von Klimaanlagen gar mit einem Befehlshaber der Nordstaaten-Armee im amerikanischen Bürgerkrieg. Die Hersteller hätten sich „als weit verheerendere Invasoren erwiesen als General Sherman“, schreibt er in seinem Essay „The End of the Long Hot Summer“ (Das Ende des langen heißen Sommers).

Der „Sunbelt“ zwischen Südkalifornien und Florida mit Silicon Valley als bekanntestem Symbol avancierte zum Weltzentrum der IT-Entwicklung, als Späthippies und Neu-Yuppies das Geschäftemachen und den A/C schätzen lernten. Die sumpfige, schwüle, moskitoschwangere Golfküste der USA, an der bis 500 Meilen landeinwärts in den 1950er-Jahren weniger als eine halbe Million Menschen wohnten, ist heute die Heimat von 20 Millionen. Die alte Industrieregion im Norden rund um die großen Seen, einst erblüht in kühler Arbeitsatmosphäre, ist längst in den Schatten gestellt.

Laptop statt Landwirtschaft prägt heute den Süden, wo der Lebensstandard im Vergleich zum Norden von 50 Prozent in den 30er-Jahren auf inzwischen 90 Prozent gestiegen ist. Gail Cooper schreibt in seinem Buch „Air Conditioning America“ über eine Umfrage unter US-Firmenchefs in den 50er-Jahren: Neun von zehn der Befragten sahen als wichtigsten Faktor für höhere Produktivität die kühle Luft.

Erst die Klimaanlage machte den Tropenhafen Singapur zu einer modernen Metropole
Erst die Klimaanlage machte den Tropenhafen Singapur zu einer modernen Metropole
Quelle: picture alliance / dpa

Der künstliche „Klimawandel“ ergriff die ganze Welt. Bekanntestes Symbol dafür ist eine Stadt, die gar nicht so weit entfernt von jenem Fluss liegt, an dem Almayer einst mit Hitze und Mücken zu kämpfen hatte: Singapur, seit Jahrzehnten die bedeutendste Handelsmetropole Südostasiens, strotzend vor Wohlstand, der hinter den Glitzerfassaden an Monitoren geschaffen wird, in wohltemperierter Atmosphäre. Noch vor Jahrzehnten war das Leben dort von schwüler Hitze geprägt, als in offenen Hallen Fisch, Gewürze, Tropenhölzer und anderes den Besitzer wechselte, so wie in all den Jahrhunderten zuvor.

Der kürzlich verstorbene Lee Kuan Yew war Premierminister des Stadtstaates von 1959 bis 1990, also in der gesamten Zeit, in der Singapur die dramatischsten Veränderungen erlebte, hin zum Ort des coolen Business unserer Tage. Er wusste, wovon er sprach bei seiner Antwort auf die Frage des „Wall Street Journals“ an bedeutende Zeitgenossen, welche Erfindung die wichtigste des letzten Jahrtausends gewesen sei. „Die Klimaanlage“, sagte er. Sie erlaube es den Bewohnern der Tropen, das Klima der fortgeschrittenen Zivilisationen aus den kühleren Regionen herzustellen. Cherian George, als Journalist und Buchautor in der Stadt bekannt, betitelte einen seiner Essaybände „Singapore. The Air-Conditioned Nation“.

Gegen die Ungleichheit der Welt

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Nicht nur Singapur, auch alle weiteren Metropolen der tropischen Zone rund um den Globus könnten niemals die Wertschöpfung erbringen, die sie heute leisten, wären alle ihre Arbeitsplätze wie früher dem örtlichen Klima ausgesetzt. Weder durch die Einheimischen, von denen immer mehr mit guter Ausbildung in klimatisierten Büros anspruchsvolle Jobs ausüben, noch durch die Vertreter Europas oder Nordamerikas, die in so großer Zahl wie heute gewiss nicht hinzugestoßen wären. Nicht, wenn sie im andauernden Hitzestress stets nur von ihrer Heimat träumen müssten wie Kaspar Almayer.

Und es geht um mehr als nur Bürotätigkeiten. Wichtige Produktionslinien würden in der Hitze zusammenbrechen, nicht zuletzt in der Hightech-Branche. Auch deshalb hätten sich viele fortgeschrittene Schwellenländer ohne die Klimaanlage nicht aus der Gruppe der armen Entwicklungsländer lösen können, neben China vor allem die vier „Tigerstaaten“ in Südostasien, aber auch Brasilien, Indien und andere. Die Globalisierung wäre nur schwer denkbar.

Der Aufklärer Montesquieu würde sich bestätigt sehen. Hatte er doch 1748 die ungleiche Entwicklung der Welt darauf zurückgeführt, dass Hitze die Produktivität senke und unternehmerische Kühnheit unterdrücke, während in kühlen Ländern der Mut regiere und zum Erfolg führe. Was er nicht wusste: Die gewinnbringende Kühle ist machbar, überall, wo sie benötigt wird.

Dieser Artikel wurde erstmals 2015 veröffentlicht.

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