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Geschichte Berliner Mauer

Dreist untergruben die Beckers den Todesstreifen

Der RBB widmet den Fluchtstollen von Glienicke-Nordbahn eine sehenswerte Dokumentation. Sie stellt die Geschichte des menschenverachtenden DDR-Grenzregimes dar – und seiner trickreichen Untergrabung.
Die Tunnelbauer von Glienicke

Der Regisseur Thomas Claus hat für den RBB die Geschichte der Fluchttunnel der Glienicke-Nordbahn inszeniert - hier ein erster Ausschnitt.

Quelle: Die Welt

Autoplay

Im letzten Moment. Zwischen ein und drei Uhr morgens am 24. Januar 1962 krochen 28 Menschen zwischen neun und 71 Jahren aus dem Loch. Sie waren zuvor durch einen 27 Meter langen Stollen von kaum mehr als 60 oder 70 Zentimeter Durchmesser gerobbt. Der enge Tunnel führte vom Haus der Familie Becker in Glienicke-Nordbahn (DDR) unter der mit Zäunen und Stacheldraht gesperrten Oranienburger Chaussee nach Frohnau in West-Berlin. Schon wenige Stunden später hätten die Beckers laut Stasi-Akte „ausgesiedelt“ werden sollen – fort aus dem Grenzgebiet.

Jahrzehntelang waren die dramatischen Umstände dieser und anderer unterirdischer Fluchten in die Freiheit in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Erst seit einigen Jahren hat sich das geändert. Inzwischen sind mehrere Bücher erschienen, wurden Filme gedreht und Websites freigeschaltet. Doch noch immer ist viel zu entdecken über diese dramatischen und besonders aufwendigen Wege in die Freiheit.

Becker-Tunnel Januar 1962
Becker-Tunnel Januar 1962
Quelle: BStU

Jetzt hat der Regisseur Thomas Claus, mit Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Fluchtaktion der 28 Glienicker durch den Becker-Tunnel sowie von weiteren 25 Menschen aus der Nachbarschaft durch zwei weitere Tunnel im Mai 1962 und im März 1963 zu einer Dokumentation verdichtet.

Der 45-Minüter trägt den Titel „Fluchtpunkt Entenschnabel“. Das ist etwas irreführend, denn die drei Fluchtstollen wurden gerade nicht an dem schmalen und langen Vorsprung des DDR-Territoriums nach West-Berlin hinein gegraben, der seiner Form wegen den harmlosen Namen bekam. Vielmehr entstanden zwei Tunnel etwas nördlich vom „Entenschnabel“ unter der Oranienburger Chaussee, der dritte östlich an der Ottostraße.

Doch das ist die einzige kleine Ungenauigkeit, die man Claus’ Film attestieren muss. Ansonsten ist ihm ein beeindruckendes Stück Fernsehen gelungen, wie man es sich öfter, statt Fußball oder angekaufter US-Produktionen, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünschen würde.

Claus hat alle Möglichkeiten zeithistorischer Dokumentation ausgereizt: Er hat Zeitzeugen gefunden und befragt, zusammen mit Experten Akten gewälzt, alte Fotos recherchiert, bisher unveröffentlichte bewegte Bilder aufgetan, digitale Animationen erarbeitet und Schlüsselszenen mit Laiendarstellern nachgestellt. Dafür konnte sein Team sogar, nicht weit vom authentischen Ort, in einem alten Keller die Tunnelgrabung inszenieren.

So gelingt es seinem Film, anhand des früheren Grenzabschnittes in Glienicke-Nordbahn exemplarisch die Geschichte des menschenverachtenden DDR-Grenzregimes darzustellen – und seiner trickreichen, ja dreisten Untergrabung. Dabei verschweigt sein Film nicht, dass in der Nähe des „Entenschnabels“ auch drei Menschen ums Leben kamen, als sie den Todesstreifen zu überwinden versuchten.

Wesentlich unterstützt wurde Claus von dem Archäologen Torsten Dressler, der die Reste des letzten der drei Stollen ausgegraben und wissenschaftlich untersucht hat. Da die DDR-Grenzer jeden „Grenzdurchbruch“ und speziell so aufwendige Methoden wie Tunnel als Niederlage verstanden, wurden in den meisten Fällen ihre Spuren beseitigt.

Das Haus der Familie Becker etwa rissen Pioniere schon wenige Tage nach der erfolgreichen Flucht unter dem Todesstreifen ab. Claus hat bislang unbekannte Aufnahmen der Planierung auf östlicher Seite der Oranienburger Chaussee entdeckt, auf denen die Rücksichtslosigkeit des Vorgehens deutlich wird: Um DDR-Bürger am Entweichen aus dem „Arbeiter- und Bauern-Staat“ zu hindern, wurde „freies Schussfeld“ geschaffen.

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Vielleicht doch noch vorhandene Reste des Stollens gingen beim Neubau der Straße in den 90er-Jahren und der Errichtung eines Geschäftszentrums für die Anwohner verloren. Heute erinnert am Ort des Becker-Tunnels nichts mehr an die Grenze; ebenso wenig etwas weiter nördlich, wo der schon 81 Jahre alte Max Thomas im Mai 1962 mit Angehörigen durch den „Rentnertunnel“ floh.

Doch vom Aagaard-Tunnel an der Ottostraße konnte Dressler Reste sichern. Claus zeigt dem Archäologen, wie er sich in den eindeutig identifizierten Stollenquerschnitt duckt. Die Enge der mit Holz, teilweise auch mit alten Fensterrahmen abgestützten Röhre wird deutlich. Wer sich traute, hier hindurchzukriechen, die ständige Gefahr ein Einsturzes in Kauf zu nehmen, musste wahrlich ein wichtiges Ziel haben: Freiheit.

„Fluchtpunkt Entenschnabel. Die Tunnelbauer von Glienicke-Nordbahn“: Öffentliche Premiere 26. Oktober, 19.30 in Glienicke/Nordbahn. Ausstrahlung am 3. November, 20.15 im RBB-Fernsehen.

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