Für den Chronisten Thietmar von Merseburg war der Fall klar. Bei den Lutizen handele es sich um ungehobelte Ungläubige aus dem wilden Norden, die nicht einmal einem Fürsten unterstünden und die von „eitlem Aberglauben und noch sinnloserem Kult“ angetrieben würden. Das mochte erklären, warum sie am 29. Juni 983 n. Chr. ohne Vorwarnung in die blühende Stadt Havelberg am östlichen Ufer der Elbe eindrangen, die Einwohner niedermetzelten und den Sitz des Bischofs zerstörten.
Der Überfall auf Havelberg gilt als erster Höhepunkt des sogenannten Slawenaufstandes, der die Herrschaft deutscher Fürsten und Bischöfe über die Elbslawen für mehr als hundert Jahre hinwegfegte. Wenige Tage später traf es Brandenburg an der Havel. Zwar konnten sich Bischof Volkmar und Markgraf Dietrich von Haldensleben mit viel Glück in Sicherheit bringen. Aber der Kirchenschatz fiel den Lutizen in die Hände. Viele Bewohner verloren ihr Leben, die Gräber der Toten wurden geschändet. Auch Oldenburg in Holstein ging in Flammen auf. Nur mit Mühe gelang es, mit Magdeburg die Lieblingspfalz Ottos I. zu sichern, des ersten Kaisers des in Entstehung begriffenen Heiligen Römischen Reiches.
Die Lutizen (Menschen des wilden Gottes) waren eine slawische Kriegergemeinschaft, die sich um 980 formiert hatte. Sie verstanden sich als Verteidiger des überkommenen slawischen Glaubens, über den Thietmar schrieb: „Es gibt so viele Stammesgebiete in diesen Gegenden, so viele Tempel werden unterhalten, so viele einzelne Götzenstatuen werden von den Ungläubigen verehrt.“
Doch gerade weil sich die Lutizen als Föderation etablierten, wurden sie für die verstreuten slawischen Stämme zwischen Elbe und Oder attraktiv. Denn die Stämme der Abodriten, Heveller, Daleminzer oder Milzener wurden jeweils von Klans geführt, die auf eigennützige Weise ihr Auskommen mit den deutschen Herren und Kirchenfürsten suchten, was eine geschlosse Front verhinderte. Nun wurden die verschiedenen Burgherren in eine kollektive Herrschaft „ohne Fürsten“ gezwungen, denen offenbar eine Volksversammlung als maßgebliches Entscheidungsorgan zur Seite stand.
Bereits einer der ersten nichtkarolingischen Könige des Ostfrankenreiches, der Sachse Heinrich I., hatte 928/29 in mehreren von großer Brutalität geprägten Feldzügen die Grundlage für eine Ostexpansion gelegt, die sein Sohn Otto I. (der Große) ab 936 systematisch ausbaute. Dazu gründete er Markgrafschaften und die Missionsbistümer Havelberg, Brandenburg, Merseburg, Zeitz, Meißen und Oldenburg. Diese Organisation und ihre kampfkräftige Gefolgschaft errichteten eine Tributherrschaft, die die slawischen Herrschaften zunehmend zurückdrängte. Als wichtigstes Mittel dabei erwies sich die christliche Mission.
Der Lutizenbund verstand sich daher vor allem als eine pagane „Kultgemeinschaft, der es in erster Linie um die Bewahrung ihrer gentilreligiosen Lebensformen ging“, schreibt der Osteuropa-Historiker Eduard Mühle. Ihr identitätsstiftendes Zentrum war die „dreitorige“ Tempelburg Riedegost/Rhetra im heiligen Walde, deren Lokalisierung bislang offen ist. In ihr wurden der Hauptgott Svarozik sowie verschiedene „von Menschenhänden gemachte Götter, jeder mit eingeschnitztem Namen“ (Thietmar) verehrt.
In Riedegost soll denn auch der Plan für den Aufstand geschmiedet worden sein. Der Termin war gut gewählt. Kaiser Otto II. war in Italien gebunden. Und im Erzbistum Magdeburg rangen nach der Auflösung des ihm unterstellten Bistums Merseburg verschiedene Gruppen um Macht und Einfluss. Für Thietmar war dies sogar einer der Gründe für die slawische Erhebung.
Mit einem eilends zusammengerufenen Aufgebot gelang es Erzbischof Giselher von Magdeburg Ende Juli, die Lustizen in einer Schlacht nördlich der Stadt zu stoppen. Doch die neugegründeten Städte und Missionszentren als Fundament der der deutschen Herrschaft im Norden waren zerstört. Viele slawische Adlige, die sich mit der Annahme des Christentums mit den Deutschen arrangiert hatten, wandten sich wieder den alten Göttern zu. Feldzüge einzelner Herren in den Osten blieben ohne jede Wirkung. Die Sorben der Lausitz schlossen sich dagegen dem Aufstand nicht an, so dass sich die sächsische Herrschaft dort zunehmend stabilisieren konnte.
Nach seiner Thronbesteigung 1002 setzte der junge König Heinrich II. auf einen politischen Wandel. Anstatt gegen die Lutizen zu kämpfen, verbündete er sich mit ihnen und zog in einen Krieg gegen Polen. Für manche Zeitgenossen war das ein unerhörter Vorgang, schließlich bekannten sich die Lutizen weiterhin zum Heidentum, während der polnische Herrscher Bolesław I. Chrobry ein gläubiger Christ war.
Eine gute Generation später verliefen die Fronten wieder wie gewohnt. 1067/68 gelang es dem Bischof von Halberstadt, die Tempelburg Riedegost zu zerstören (bei Kap Arcona auf Rügen entstand ein neues zentrales Kultzentrum). Knapp hundert Jahre später unterwarfen Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär mit dem sogenannten Wendenkreuzzug die elbslawischen Gebiete endgültig. Weil die beiden Anführer aber bestrebt waren, die Eroberungen in ihre Herrschaftsgebiete einzugliedern, entgingen die Verlierer der Missionierung mit dem Schwert, sondern wurden mit der Taufe zu christlichen Untertanen. Die Lutizen waren da nur noch ferne Erinnerung. Die Einzelinteressen ihrer Mitglieder hatten dem Gemeinschaftsbewusstsein den Garaus gemacht.
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