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Geschichte Holocaust-Gedenktag

Überall in Auschwitz lagen sterbende Menschen herum

Das KZ und Vernichtungslager Auschwitz steht symbolisch für den millionenfachen Judenmord. Zwei neue Bücher ordnen dieses Jahrhundertverbrechen ein in die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus – ohne in die Falle der Opferkonkurrenz zu tappen.
Leitender Redakteur Geschichte
2-P75-K1-1945-84 (142406) KZ-Auschwitz/Häftlinge nach d.Befreiung Nationalsozialismus: Konzentrationslager. Konzentrationslager Auschwitz (bei Os- wiecim/ Polen), nach der Befreiung durch sowjetische Truppen am 26.1.1945: - Überlebende Häftlinge am Lagerzaun.- Foto, um Januar 1945. E: Prisoners by the fence / Auschwitz National Socialism: Concentration camps. Auschwitz (near Oswiecim, Poland), after its liberation by Soviet troops on 26 January 1945. - Liberated prisoners by the fence. - Photo, circa January 1945. F: Auschwitz/ Prisonniers ap. la libération National-socialisme: Camp de concentration. Camp d'Auschwitz (près de Oswiecim, en Pologne), après la libération par les troupes soviétiques le 26 janvier 1945: - Des prisonniers survivants à la clôture du camp. - Photo, vers janvier 1945. 2-P75-K1-1945-84 (142406) KZ-Auschwitz/Häftlinge nach d.Befreiung Nationalsozialismus: Konzentrationslager. Konzentrationslager Auschwitz (bei Os- wiecim/ Polen), nach der Befreiung durch sowjetische Truppen am 26.1.1945: - Überlebende Häftlinge am Lagerzaun.- Foto, um Januar 1945. E: Prisoners by the fence / Auschwitz National Socialism: Concentration camps. Auschwitz (near Oswiecim, Poland), after its liberation by Soviet troops on 26 January 1945. - Liberated prisoners by the fence. - Photo, circa January 1945. F: Auschwitz/ Prisonniers ap. la libération National-socialisme: Camp de concentration. Camp d'Auschwitz (près de Oswiecim, en Pologne), après la libération par les troupes soviétiques le 26 janvier 1945: - Des prisonniers survivants à la clôture du camp. - Photo, vers janvier 1945.
Häftlinge im Stammlager Auschwitz nach der Befreiung Ende Januar 1945
Quelle: picture alliance / akg-images
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Am Ende überstanden etwa 7000 Menschen die Hölle auf Erden. Wie viele genau, weiß niemand. Denn auch nachdem im Verlauf des 27. Januar 1945 Soldaten dreier sowjetischer Divisionen den riesigen Lagerkomplex Auschwitz am Fluss Sola in Ostoberschlesien erreicht hatten, gab es weiter Todesfälle; vor allem Entkräftung und Hunger waren die Ursachen.

Der österreichische Arzt Otto Wolken, seit 1938 in verschiedenen Gefängnissen und Lagern inhaftiert, seit Juli 1943 mit der eintätowierten Nummer 128.828 in Auschwitz, hatte sich während der „Evakuierung“ durch die SS ab dem 17. Januar verborgen, um nicht wie etwa 56.000 weitere Insassen mit auf einen der Todesmärsche gen Westen gezwungen zu werden. Er wollte sich um die zurückgelassenen Häftlinge kümmern, die als nicht mehr „marschfähig“ eingestuft worden waren.

Auschwitz/ R.-Kreuz /Haeftlingsbefreiung. Nationalsozialismus: Konzentrationslager. Konzentrationslager Auschwitz (bei Os- wiecim/ Polen), nach der Befreiung durch sowjetische Truppen am 26.1.1945: - Angehoerige des Roten Kreuzes tragen den 15-jaehrigen Iwan Dudnik aus dem Vernichtungslager.- Foto, Januar 1945.
Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945: Rot-Kreuz-Helfer tragen den 15-jährigen Iwan Dudnik in ein Lazarett. Er überlebte
Quelle: picture-alliance / akg-images

Wolken wusste natürlich, dass längst nicht alle der an diesem Samstag befreiten Menschen überleben würden. Ohnehin lagen nach den vollkommen chaotischen letzten Wochen des größten Vernichtungslagers überall auf dem Gelände abgemagerte Körper herum, nicht alle von ihnen hatten noch Leben in sich.

Bei einer ersten Aufstellung registrierten sowjetische Sanitäter im Stammlager Auschwitz etwa 1200 kranke Gefangene, darunter hunderte Kinder; in Birkenau, dem gigantischen, doppelt eingezäunten Barackenfeld zwei Kilometer weiter nordwestlich, lagen 4000 Frauen und 1800 Männer meist teilnahmslos auf grob gezimmerten Pritschen; in Monowitz, dem Lager des Werkes der IG Farben, sechs Kilometer östlich waren es 600 Sklavenarbeiter, auf deren Abtransport die SS verzichtet hatte. Ungefähr jeder Zehnte konnte nicht mehr gerettet werden.

Auschwitz steht symbolisch für den Holocaust, für das größte konkrete Verbrechen der Weltgeschichte. Hierher wurden zwischen Mai 1940 und Januar 1945 mindestens 1.084.457 Juden aus mehr als einem Dutzend Länder Europas deportiert; ferner brachte die SS etwa 140.000 nicht-jüdische Polen, 21.000 Sinti und Roma sowie 40.000 nicht-jüdische Bürger anderer Nationalität hierher. Insgesamt erreichten also knapp 1,3 Millionen Menschen den dreiteiligen Komplex mit Dutzenden Außenlagern in näherer und weiterer Entfernung.

Knapp über 400.000 von ihnen wurden offiziell registriert, die übrigen brachte das Lagerpersonal sofort nach der Ankunft um. Von den Registrierten überstellten die Verantwortlichen etwas mehr als 220.000 Menschen in andere KZs, einschließlich der 56.000, die im Januar 1945 „evakuiert“ wurden. Die Gesamtzahl der Opfer summiert sich also auf etwa 1,1 Millionen in 57 Monaten. Eine unvorstellbare Zahl.

„Das Konzentrationslager Auschwitz war 1940 nicht mit dem Zweck gebaut worden, Inhaftierungsort oder gar Mordzentrum für die Juden Europas zu werden. Erst seit der zweiten Jahreshälfte 1941 veränderte sich die Funktion des Lagers allmählich“, schreibt der Klagenfurter Historiker Dieter Pohl in seinem Ende 2022 erschienenen neuen Buch „Nationalsozialistische Verbrechen 1939–1945“ (Klett-Cotta, Stuttgart. 408 S., 45 Euro). Der Band ist Teil der zehnten, völligen Neubearbeitung des „Handbuchs der deutschen Geschichte“, nach dem Herausgeber der Gründungsversion besser bekannt als „Gebhardt“. Seit 2001 erscheint die Reihe, von den geplanten 24 Bänden steht nur noch einer aus.

Im Gegensatz zu den früheren Auflagen ist die aktuelle Fassung des Handbuchs nicht rein chronologisch aufgebaut, sondern umfasst zusätzlich zentrale Themen einzelner Epochen systematisch in Einzelbänden – eben wie Pohls Werk. Denn zweifellos waren die zahllosen Verbrechen das entscheidende Charakteristikum des NS-Regimes; der antisemitische Rassenwahn bildete dabei den Mittelpunkt. „Tatsächlich ragt dieser Komplex in den nationalsozialistischen Massenverbrechen weit heraus“, schreibt Pohl. „Die Juden standen im Zentrum nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, ihre Ermordung wurde gar als Lösung aller Weltprobleme angesehen.“

Concentration Camp Auschwitz Women survivors in the barracks at Birkenau. Photo taken from a Soviet film about the liberation of the camp. The Soviet 1st Ukrainian Front entered Auschwitz on the afternoon of January 27, 1945, finding 7,650 surviving prisoners, 1,200 in Auschwitz I, 5,800 in Auschwitz II-Birkenau, and 650 in Auschwitz III- Monowitz-Buna. Poland. Date: February 1945 - (Photograph from the Bilderwelt Collection)
Frauen in einer Baracke in Auschwitz-Birkenau, aufgenommen Anfang Februar 1945
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi

Die neue Qualität dieses Vernichtungsprogramms zeigt sich zudem „in der absoluten Rigorosität der Ermordung nicht nur aller jener, die sich zum Judentum bekannten, sondern auch vieler, die lediglich jüdische Vorfahren hatten“, urteilt Pohl, der nach 15 Jahren als Forscher am Münchner Institut für Zeitgeschichte 2010 dem Ruf an die südösterreichische Universität am Wörthersee folgte.

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Treffend betont der Historiker: „Ein besonders hervorstechendes Merkmal ist die gezielte Ermordung der Kinder, die aus Sicht der Täter als für die Kriegswirtschaft wenig verwertbar oder gar als potentielle zukünftige Rächer galten.“ Im berüchtigten, wenngleich inhaltlich meist überbewerteten Protokoll der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942 heißt es zu den Überlebenden der geplanten „Vernichtung durch Arbeit“ lapidar: „Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“

So sehr der heute gewöhnlich als Holocaust oder Shoah bezeichnete millionenfache Judenmord typisch für das NS-Regime ist, so wenig darf und sollte man andere Opfergruppen der braunen Gewaltherrschaft vergessen. Denn die antisemitischen Massentötungen waren „nicht das einzige Großverbrechen, das rassistische Motive hatte“, erinnert Pohl: „Dies lässt sich ebenso bei der Ermordung der Sinti und Roma feststellen, mit Bezug auf den eugenischen Rassismus auch für die Krankenmorde, und schließlich – mit Blick auf einen kulturell-anthropologischen Rassismus – für die extreme Behandlung der Bevölkerung in weiten Teilen des östlichen Europa.“

Je nach Berechnungsmethode – auch hier sind alle Zahlenangaben vage – kamen zu den rund sechs Millionen Opfern der Judenverfolgung mindestens genauso viele Menschen, die durch nicht antisemitische, sondern anders motivierte NS-Gewalt ums Leben gebracht wurden. Darauf verweist der britische Historiker Alex Kay, der 15 Jahre jünger ist als Pohl und zur nächsten Forschergeneration gehört. Zufällig fast gleichzeitig mit dem Band in „Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte“ hat Kay sein Buch „Das Reich der Vernichtung“ in deutscher Übersetzung vorgelegt, ausdrücklich deklariert als „Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens“ (wbg-Theiss Darmstadt. 456 S., 38 Euro).

Jewish children survivors of Auschwitz with nurse behind barbed wire fence. Photo taken by soviet photographer during making of a film about liberation of the camp. Children were dressed up by the Russians with clothing from adult prisoners. Auschwitz, Poland. Date: February 1945 (Photograph from the Bilderwelt Collection)
Kinder, die das KZ Auschwitz überlebt haben
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi

„Im Rahmen von sieben großen Mordkampagnen tötete das nationalsozialistische Deutschland vorsätzlich 300.000 geistig und körperlich behinderte Menschen, bis zu 100.000 Angehörige der herrschenden Klassen und Eliten Polens, ungefähr 5,8 Millionen europäische Juden, 200.000 europäische Roma, mindestens zwei Millionen Einwohner sowjetischer Städte, bis zu 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, etwa eine Million unbewaffnete Zivilisten in überwiegend ländlichen Räumen im Zuge von Präventivterror-Operationen und Vergeltungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten und weitere 185 000 zivile Einwohner von Warschau“, zählt Kay auf. Er kommt damit auf zwölf bis 13 Millionen Opfer abseits von Kampfhandlungen und direkter Auswirkungen des nationalsozialistischen Krieges.

Die zwei Neuerscheinungen ergänzen einander und definieren gemeinsam den neuen Stand der Forschung. Beide müssen mit dem schwierigen Problem gefühlter oder tatsächlicher Opferkonkurrenz umgehen. Pohl stellt zu Recht fest, dass es bisher „nur wenige historische Interpretationen“ des Judenmords gebe, „die die Massenverbrechen in ihrer Gesamtheit in den Blick nehmen“ – eben weil die meisten Forscher bewusst oder unbewusst einer befürchteten Relativierung durch Parallelisierung keinen Vorschub leisten wollten.

Alex Kay greift dieses Problem frontal auf: „Den Genozid an den europäischen Juden parallel zu anderen nationalsozialistischen Massenmordkampagnen zu untersuchen, bedeutet natürlich, einem Großteil der Forschung zum Thema zuwiderzuhandeln.“ Das ist im Gegensatz zum gewohnten Reflex keine Verharmlosung: „Sich dem nationalsozialistischen Massenmord mit einem integrativen Ansatz zu nähern, widerspricht keineswegs der Sichtweise, dass der Holocaust, nicht zuletzt in seinem flächendeckenden und systematischen Charakter, ein beispielloses Phänomen war“, schreibt Kay. „Man kann aber durchaus die These vertreten, dass der Holocaust beispiellos war, und ihn gleichzeitig als Teil eines vom NS-Regime betriebenen umfassenderen Prozesses demografischer Rekonstruktion und rassischer Reinigung betrachten.“

In einer weiteren entscheidenden Frage, nämlich der nach der Genese des Vernichtungsprogramms, sind sich Pohl und Kay ohnehin einig. Der Klagenfurter Historiker schreibt in seiner Forschungsbilanz: „Eine genaue Planung der Verbrechen wie auch ihre souveräne Steuerung durch Hitler wird zusehends in Zweifel gezogen. Die eigentlichen ,Architekten’ des Massenmordes waren in verschiedenen Institutionen und auf vielen Ebenen aktiv.“ Die älteren, vielfach apologetisch motivierten Deutung von Hitler als Befehlsgeber, SS-Chef Heinrich Himmler und seinem Stellvertreter Reinhard Heydrich als Haupttätern sowie den eigentlich handgreiflichen Täter an den Tatorten wie etwa Auschwitz-Birkenau oft nur als Gehilfen ist schon von Raul Hilberg und Hans Mommsen widerlegt worden.

Nationalsozialismus: Konzentrationslager. Konzentrationslager Auschwitz (bei Oswiecim / Polen), nach der Befreiung durch sowjetische Truppen am 26.1.1945: Weibliche Häftlinge in einer Lagerbaracke. Foto, um Januar 1945.
Blick in eine Frauenbaracke in Auschwitz-Birkenau, aufgenommen Ende Januar 1945
Quelle: picture alliance / akg-images
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Die weiteren Forschungen seitdem haben gezeigt, dass die Suche nach einem direkten Befehl Hitlers zu kurz greift – in Alex Kays Worten: „Das NS-Regime schuf einen Rahmen, der es seinen Anhängern erlaubte, unter dem Deckmantel des Krieges Taten zu begehen, die unter anderen Umständen kaum vorstellbar gewesen wären.“ So sehr es natürlich zahlreiche seelisch Abartige unter den Tätern der nationalsozialistischen Massenverbrechen gab, so wenig traf das auf alle zu. Im Gegenteil waren sehr viele der Mörder psychisch unauffällig. „Sie als Sadisten abzutun oder, schlimmer noch, als Monster, hindert uns daran zu verstehen, wie Menschen solche Tiefpunkte erreichen können und es auch tatsächlich tun“, urteilt der britische Historiker treffend. Auch Dieter Pohl verweist auf den „quasi rechtsfreien Raum“, in dem die NS-Verbrechen geschahen: „Schließlich glaubte man, im Sinne des ,Führers’ zu handeln.“

Adolf Hitler ist niemals auch nur in der Nähe von Auschwitz gewesen; es spricht auch nichts dafür, dass er genauere Kenntnis über die dort praktizierten Mordmethoden hatte. Pauschal gebilligt aber hat er sie fraglos. In seinem „Testament“, diktiert fast auf den Tag genau drei Monate nach der Befreiung von Auschwitz, bekannte sich Hitler zum Massenmord. Er habe „keinen darüber im Unklaren gelassen“, dass der vermeintlich „eigentlich Schuldige“ für Krieg und Sterben, in der Logik von Hitlers Rassenwahn eben das „internationale Judentum“ war, das seine angebliche „Schuld zu büßen“ habe.

In einer angesichts der Fotos der Überlebenden von Birkenau noch einmal besonders zynischen Wendung behauptete Hitler, dies sei „durch humanere Mittel“ geschehen. Immer am 27. Januar, dem offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, sollte man sich der Schamlosigkeit solchen Denkens bewusst werden.

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