WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Kopf des Tages
  4. Boris Jelzin: Um die Demokratie zu retten, ließ er das Parlament beschießen

Kopf des Tages Boris Jelzin

Er ließ ein Parlament zusammenschießen, um die Demokratie zu retten

Die KPdSU ermöglichte dem Bauernsohn eine ungeahnte Karriere. Als sich Boris Jelzin aber an die Spitze der Reformer stellte, wurde er abgesetzt – um als erster frei gewählter Präsident Russlands zurückzukehren. Seine letzte Amtshandlung war ein fataler Fehler.
Leitender Redakteur Geschichte
Russische T-80 Panzer eröffnen am 4. Oktober 1993 das Feuer auf das Moskauer Parlamentsgebäude. In Moskau hatte die nationalkommunistische Opposition unter Führung des "Gegenpräsidenten" Alexander Ruzkoi am 3. Oktober einen Putschversuch gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin unternommen. Nach bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen am Weißen Haus, dem Sitz des Parlaments, und schweren Kämpfen am Fernsehzentrum stürmen Jelzin-treue Eliteeinheiten der Armee am 4. Oktober das besetzte Parlamentsgebäude und schlugen den Putsch nieder. Foto: Velenguri dpa (Archivbild zu dpa Korr.-Bericht "Im blutigen Bruderkrieg 1993 hielt sich Jelzin an der Macht" vom 01.10.2003) +++ dpa-Bildfunk +++ Russische T-80 Panzer eröffnen am 4. Oktober 1993 das Feuer auf das Moskauer Parlamentsgebäude. In Moskau hatte die nationalkommunistische Opposition unter Führung des "Gegenpräsidenten" Alexander Ruzkoi am 3. Oktober einen Putschversuch gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin unternommen. Nach bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen am Weißen Haus, dem Sitz des Parlaments, und schweren Kämpfen am Fernsehzentrum stürmen Jelzin-treue Eliteeinheiten der Armee am 4. Oktober das besetzte Parlamentsgebäude und schlugen den Putsch nieder. Foto: Velenguri dpa (Archivbild zu dpa Korr.-Bericht "Im blutigen Bruderkrieg 1993 hielt sich Jelzin an der Macht" vom 01.10.2003) +++ dpa-Bildfunk +++
4. Oktober 1993: Auf Befehl von Boris Jelzin (1931–2007) eröffnen Panzer das Feuer auf das Moskauer Parlamentsgebäude
Quelle: picture-alliance / dpa/dpaweb

So geht wohl Ball Paradox in der Politik: Die Feinde der Demokratie verschanzen sich im Parlament, und deren – allerdings handfeste bis grobe – Verfechter lassen eben dieses Gebäude von Panzern in Brand schießen. So geschah es in Moskau Anfang Oktober 1993. Es war nach August 1991 der zweite offene Putsch von Altstalinisten nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks, der scheiterte.

Aus den beiden Niederlagen zog ein damals um die 40 Jahre alter Ex-Agent den Schluss, die ersehnte Rückkehr zum alten Imperialismus Russlands nicht durch einen Coup, sondern langsam von innen heraus anzugehen. Die Folgen sind bekannt. Doch im Herbst 1993 kannte kaum jemand den Namen Wladimir Putin, der zu dieser Zeit Leiter des städtischen Komitees für Außenbeziehungen in St. Petersburg war. Mit den Ereignissen in Moskau hatte er nichts zu tun.

Moscow, Russia - October 1993: Russian constitutional crisis, Political stand-off between the Russian president Boris Yeltsin and the Supreme Soviet of Russia concerning the shape of the country's political system. On 21st September President Boris Yeltsin dissolved the Supreme Soviet. In response, the Soviet impeached Yeltsin. The most important buildings in Moscow (the White House, Town Hall, the Ostankino TV centre) became a site of clashes between civil supporters of both sides of the conflict. The crisis was won by Yeltsin thanks to the army which became involved on his side. Pictured: president Boris Yeltsin (Photo by Wojtek Laski/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Jelzin während der Kämpfe in Moskau 1993
Quelle: Getty Images

Dort versuchte der seit dem August-Putsch 1991 mächtigste Mann der vormaligen Sowjetunion, Boris Jelzin, seinem Land mit harten Methoden eine bessere Zukunft zu eröffnen. Als Präsident Russlands war er der Erbe früherer Kremlherren, doch er stand vor schier unüberwindlichen Problemen. Russland war zwar rohstoffreich, aber völlig heruntergewirtschaftet.

Gestützt auf Verfechter eines schnellen und tief greifenden Umbaus der russischen Gesellschaft, ging Jelzin daran, die Wirtschaft schnell zu privatisieren, begleitet von einer umfassenden Demokratisierung. Doch der Prozess stockte bald, auch weil sich ein tiefer Spalt zwischen (relativ wenigen) Profiteuren und der Masse der Menschen auftat, die verarmten.

Als einzig stabile Kraft erwies sich das organisierte Verbrechen, das schon in den Jahrzehnten des Poststalinismus’ in der damaligen UdSSR immer stärker geworden war und sich nun mit dem früheren KGB zum eigentlichen Rückgrat des riesigen Landes verband.

Parallel mit dieser verdeckten Entwicklung stellte sich im Sommer 1993 der Kongress der Volksdeputierten Russlands, der am 4. März 1990 gewählt worden war, gegen Jelzin und blockierte dessen Politik. Treibende Kräfte dabei waren gleichermaßen Alt-Kommunisten und rechtsextreme Nationalisten, darunter ein Mann namens Wladimir Schirinowski.

Am 21. September 1993 hatte Jelzin daraufhin den Volksdeputiertenkongress aufgelöst, aber das führte nur zu gewaltsamen Ausschreitungen auf Moskaus Straßen, bei denen es erste Tote gab. Gegner des Präsidenten verschanzten sich im damaligen Gebäude des russischen Parlamentes, dem riesigen „Weißen Haus“. Wortführer war Russlands Vizepräsident Alexander Ruzkoi.

In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1993 befahl Boris Jelzin den Angriff auf das Parlament mit schweren Waffen. Panzer beschossen die oberen Geschosse des 119 Meter hohen Gebäudes mit mindestens zwölf Granaten, die daraufhin in Brand gerieten. Daraufhin flohen die Jelzin-Gegner und gaben den offenen Widerstand auf.

Soldaten der Elite-Einheit der russischen Armee gehen während des Kampfes um das Weiße Haus am 4. Oktober 1993 hinter einem ausgebrannten Bus in Deckung. In Moskau hat die nationalkommunistische Opposition unter Führung des "Gegenpräsidenten" Alexander Ruzkoi am 3. Oktober 1993 einen Putschversuch gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin unternommen. Nach bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen am Weißen Haus, dem Sitz des Parlaments, und schweren Kämpfen am Fernsehzentrum stürmen Jelzin-treue Eliteeinheiten der Armee am 4. Oktober das besetzte Parlamentsgebäude und schlagen den Putsch nieder. Mehrere hundert bewaffnete Oppositionsanhänger kapitulieren.
Soldaten einer Elite-Einheit der russischen Armee gehen während des Kampfes um das Weiße Haus am 4. Oktober 1993 hinter einem ausgebrannten Bus in Deckung
Quelle: picture-alliance / dpa

Panzer verteidigten also die Demokratie gegen ihre Gegner, indem sie auf den Sitz der Volksvertretung schossen. Dass ausgerechnet Boris Jelzin so einen Befehl erteilte, war nach seiner Biografie eigentlich höchst unwahrscheinlich. Geboren 1931 in einem Bauerndorf am Ural, stammte er aus ärmlichen Verhältnissen. Er wurde Bauingenieur und erwies sich als zupackender Macher.

Anzeige

Erst 1961, also mit 30 Jahren, trat er der KPdSU bei und begann eine Karriere als Parteifunktionär, als Apparatschik damit recht spät. Seit 1976 war er Parteichef seiner Heimatregion Swerdlowsk, im folgenden Jahr ließ er das erhaltene Haus abreißen, in dessen Souterrain Bolschewiki 1918 den letzten Zaren Nikolaus I. und seine Familie massakriert hatten. 1981 stieg er ins Zentralkomitee auf, den erweiterten Machtzirkel, und im Herbst 1985 übernahm er die Stelle als KPdSU-Chef von Moskau. Fortan war Boris Jelzin ein einflussreicher Politiker, denn damit war die Berufung ins Politbüro verbunden, wenngleich noch ohne Stimmrecht.

In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre trieb er Gorbatschows Reformpolitik schneller voran, als der Kremlherr das selbst wollte. 1987 wurde Jelzin von seinen Parteifunktionen entbunden und auf einen bedeutungslosen Posten abgeschoben. Er war so etwas wie ein parteiinterner Dissident. 1990 trat er öffentlichkeitswirksam aus der KPdSU aus.

Gegenpräsident Alexander Ruzkoi (r) und Oppositionsführer Ruslan Chasbulatow (l) rufen auf einer Pressekonferenz am 3. Oktober 1993 im Weißen Haus die Sicherheitskräfte auf, zu ihnen überzulaufen. Chasbulatow fordert außerdem die Stürmung des Kreml. In Moskau hat die nationalkommunistische Opposition unter Führung des "Gegenpräsidenten" Alexander Ruzkoi am 3. Oktober 1993 einen Putschversuch gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin unternommen. Nach bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen am Weißen Haus, dem Sitz des Parlaments, und schweren Kämpfen am Fernsehzentrum stürmen Jelzin-treue Eliteeinheiten der Armee am 4. Oktober das besetzte Parlamentsgebäude und schlagen den Putsch nieder. Mehrere hundert bewaffnete Oppositionsanhänger kapitulieren.
Gegenpräsident Alexander Ruzkoi (r.) und Oppositionsführer Ruslan Chasbulatow (l.) am 3. Oktober 1993
Quelle: picture-alliance / dpa

Als offener Kritiker Gorbatschows trat Jelzin bei der ersten Wahl eines russischen Präsidenten am 12. Juni 1991 an und gewann. Doch entscheidend war sein zupackendes Verhalten während des altstalinistischen Augustputsches 1991, als er – übrigens zusammen mit seinem damaligen Vertrauten Ruzkoi und vor dem „Weißen Haus“ – die Menschen auf den Straßen Moskaus mobilisierte.

Fortan war er der starke Mann Russlands, nach Gorbatschows Rückzug Ende 1991 auch offiziell. Der Erfolg gegen den Volksdepurtiertenkongress änderte allerdings nichts an den Problemen. 1996 wurde Jelzin wiedergewählt, wahrscheinlich war er da schon alkoholsüchtig. Doch spätestens seit 1997/98 war er seinen Aufgaben kaum mehr gewachsen.

Mittags am 31. Dezember 1999 übergab Jelzins die Funktionen des Präsidenten an den binnen weniger Jahre im Kreml-Apparat rasant aufgestiegenen Wladimir Putin, der erst seit wenigen Monaten als Ministerpräsident amtierte. Was zu dieser Entscheidung führte, ist umstritten – die britische Russland-Expertin Catherine Belton geht davon aus, dass es sich um ein abgekartetes Spiel des Geheimdienstes und des organisierten Verbrechens handelte. Jelzin soll selbst noch erkannt haben, dass er einen Tyrannen installiert hatte. Aber öffentliche Äußerungen dazu gibt es von ihm nicht.

Der nun ehemalige Präsident lebte nach seinem Rücktritt noch fast siebeneinhalb Jahre, doch es war mehr ein Vegetieren. Zu einem Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse beispielsweise mussten ihn seine Leibwächter tragen; er stand stocksteif am Verlagsstand, gab wenige Sätze von sich und signierte einige Bücher, um anschließend wieder weggetragen zu werden. Ob er schon in so einem Zustand war, als die Entscheidung für seinen Nachfolger fiel, ist unklar. Letztlich jedoch, daran besteht kein Zweifel, siegten damit die Putschisten, die Jelzin am 4. Oktober 1993 noch besiegt hatte.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Oktober 2022 veröffentlicht.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema