Wenn man versucht, sich an die Kinder zu erinnern, mit denen man in der ersten Klasse die Schulbank gedrückt hat, wer fällt einem als Erstes ein? Holger Wiese von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena würde sagen: eher der Junge mit den Segelohren als das Mädchen mit der süßen Stupsnase.
Der Psychologe ist Experte für Gesichtserkennung. In seiner jüngst veröffentlichten Studie zeigt er zusammen mit seinem Forschungsteam, wie Attraktivität das Wiedererkennen von Gesichtern empfindlich stören kann. Forscher nahmen lange Zeit einfach an, dass attraktive Gesichter besser erinnert werden als unattraktive – wohl, weil Menschen sie gern und deshalb auch länger ansehen, als sie das bei unattraktiven Gesichtern tun.
Überprüft wurde diese Hypothese aber bislang nicht. Holger Wiese tat genau das jetzt zusammen mit seinen Kollegen Carolin Altmann und Stefan Schweinberger. Sie zeigten ihren Testpersonen im Labor Fotos von Gesichtern, die zuvor jeweils zur Hälfte von unabhängigen Beobachtern als eher attraktiv oder eher unattraktiv beurteilt worden waren. Jedes Gesicht blitzte für wenige Sekunden am Bildschirm auf und die Probanden wurden aufgefordert, sich jedes genau einzuprägen.
Überraschende Entdeckung danach
In einer anschließenden Testphase wurden ihnen einzelne der zuvor präsentierten Gesichter wieder gezeigt – vermischt mit solchen, die die Probanden noch nicht gesehen hatten. Bei der Analyse der Daten machten die Forscher dann eine überraschende Entdeckung, wie sie jetzt im Fachjournal „Neuropsychologia“ berichten. Denn tatsächlich konnten sich die Versuchsteilnehmer weitaus besser an die unattraktiven Gesichter erinnern als an die attraktiven.
Holger Wiese nimmt an, dass der Lernprozess womöglich dadurch gestört wird, dass ein attraktives Gesicht eine unmittelbar positive emotionale Reaktion hervorruft und diese das Einprägen unterbricht. Dafür sprechen auch die EEG-Daten, die die Forscher während des Versuchs von den Teilnehmern aufzeichneten.
Doch die Studie brachte noch ein überraschendes Ergebnis: Die Probanden erinnerten sich häufiger falsch an attraktive Gesichter. Das bedeutet, dass sie glaubten, ein Gesicht zu erkennen, obwohl sie es vorher gar nicht gesehen hatten. Dieser Effekt war bei attraktiven Gesichtern stärker ausgeprägt als bei unattraktiven.
Erinnerung nur wegen der Attraktivität
„Offensichtlich neigen wir gelegentlich dazu, zu glauben, dass wir ein Gesicht wiedererkennen, einfach weil wir es attraktiv finden“, so die Vermutung von Wieses Team. Attraktive Gesichter, so die Wissenschaftler, seien sehr häufig besonders symmetrisch und eher durchschnittlich.
Auch dies könnte die Verwechslung durchaus begünstigen. Der Zusammenhang zwischen Attraktivität und guter Erinnerung besteht aber dennoch – nur gilt er nicht so uneingeschränkt wie von den Forschern zunächst vermutet. Denn attraktive Gesichter mit besonderen Kennzeichen, etwa einem Leberfleck wie bei Cindy Crawford oder außergewöhnlich großen Lippen wie bei Angelina Jolie, bleiben tatsächlich besser im Gedächtnis haften.
Ihr Wiedererkennungswert ist so groß, dass sie normal attraktive und normal unattraktive Gesichter diesbezüglich ausstechen. Und unattraktive mit besonderen Kennzeichen, etwa – ohne ihm zu nahe treten zu wollen – das von Gérard Depardieu? Um das zu klären, dürfen wir gespannt auf die nächste Studie warten.