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Die Mormonen und ihre heilige Unterwäsche

Freier Korrespondent
Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ wurde in den USA lange verfolgt. Doch nun könnte der Mormone Mitt Romney Präsident werden. Besuch in einem Mormonen-Gottesdienst.

Es ist leicht, sich über die Mormonen lustig zu machen. Da ist die verrückte Geschichte von Joseph Smith, einem Bauernbuben aus dem Norden des Staates New York, dem ein Engel erschien und den Ort zeigte, wo echt antike Goldplatten vergraben waren. Joseph Smith will jene Goldplatten dann übersetzt haben – naturgemäß aus dem "Altägyptischen", aus welcher Sprache denn auch sonst –, indem er sein Gesicht in einen Schlapphut steckte.

So entstand das "Buch Mormon", das sich über weite Strecken so liest wie eine Parodie auf die "King James Bible". Kostprobe: "And they also had horses, and asses, and there were elephants and cureloms und cumoms; all of which were useful unto man, and more especially the elephants and cureloms and cumoms."

Mormonen und ihre heilige Unterwäsche

Versuchen Sie jetzt nicht, "cureloms" und "cumoms" in Ihrem Englischlexikon nachzuschlagen, außerhalb des "Buches Mormon" wurden diese Urviecher noch nie gesichtet. Außerdem tragen die Mormonen heilige Boxershorts und Unterhemden. Zum Brüllen, oder?

An diesem Sonntagvormittag in Manhattan haben sich vielleicht hundert Männer und Frauen in einem schmucklosen Raum zum Gebet versammelt. Wir befinden uns genau gegenüber dem Lincoln Center, in dem die New Yorker Oper untergebracht ist – in einem riesigen weißen Steinquaderbau, auf dessen Dach das Symbol der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" auf Manhattan herunterschaut: der Engel Moroni, der in eine lange, geschwungene Trompete bläst.

Gottesdienst heißt ganz sachlich "meeting"

Keine Bilder an den Wänden, kein einziges Kreuz. Warum fehlen in diesem Andachtsraum die Kreuze? "Wenn meine Mutter erstochen worden wäre", erklärt mein Banknachbar mir, "würde ich mir doch auch kein Messer ins Wohnzimmer hängen. Wir ziehen es vor, uns an den lebendigen, hellen, strahlenden Jesus zu erinnern." Ein Gottesdienst heißt bei den Mormonen ganz sachlich "meeting", Treffen.

Eine junge Frau tritt ans Mikrofon und erzählt, welche Herausforderung es für ihren Glauben bedeutet hat, als ihre Schwester eine Frühgeburt erlitt. Ihr Ehemann erzählt, wie er sich bei ihrem zweiten Date, weil er verdorbene Nudeln gegessen hatte, prompt übergeben musste.

Es gibt keine Geistlichen, die das "meeting" leiten. Viele Paare, viele kleine Kinder sitzen im Publikum, zwischendurch kräht das eine oder andere Baby. Die meisten Männer tragen dunkle Anzüge, weiße Hemden und Krawatten.

Man sieht kaum schwarze Gesichter, aber es gibt ein paar; und in einem Land, in dem die meisten Kirchen immer noch nach Hautfarben getrennt sind, ist das die eigentliche Nachricht. Der Höhepunkt des "meeting" besteht darin, dass auf kleinen silbernen Tabletts Brot und Wasser herumgereicht wird (Mormonen dürfen keinen Alkohol trinken): Symbole für das Fleisch und das Blut Christi.

Keine Glaubensgemeinschaft spendet so viel wie die Mormonen

Am Schluss singt die Gemeinde ein Lied, in dem es heißt, Jesus liebe uns so sehr, dass es nun unsere Pflicht sei, diese Liebe weiterzugeben und gute Werke zu tun. "Das", sagt mein Banknachbar, "ist die Essenz des Mormonenglaubens." Tatsächlich zeigen Statistiken, dass keine andere Religionsgemeinschaft in Amerika mehr Geld für wohltätige Zwecke spendet und sich selbstloser für die Gemeinschaft einsetzt als diese verlachte Sekte.

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Im Anschluss an das "meeting" gibt es eine Bibelstunde. Eine blonde Frau sitzt in einem Klassenzimmer neben der Tafel auf der Bank und lässt lässig ein Bein baumeln. Gelesen wird aus dem "Buch Mormon", Kapitel Helaman. Was bedeutet es, dass Jesus all unsere Schuld auf sich nimmt?

Die Missionsreise ist die aufregendste Zeit

Mein Banknachbar zur Linken und mein Banknachbar zur Rechten stellen unterdessen fest, dass sie einen gemeinsamen Freund haben; dass sie beide den israelischen Botschafter cool finden; und dass sie beide Spanisch können, weil sie als junge Männer in Puerto Rico (linker Banknachbar) beziehungsweise in Venezuela (rechter Banknachbar) auf Missionsreise unterwegs waren.

Die Missionsreise ist der mormonische Übergangsritus, durch den junge Menschen – meistens im Alter von 19 Jahren – zu Erwachsenen heranreifen sollen. Immer zu zweit gehen sie in der Fremde von Tür zu Tür und werben um Konvertiten. Bei Männern dauert die Missionsreise geschlagene zwei Jahre, bei Frauen dauert sie immerhin 18 Monate, und viele beschreiben dies als die aufregendste Zeit ihres Lebens.

Dem Glauben fehlt alles Festliche

Was in dieser Religion beinahe vollkommen fehlt: das Ekstatische. Hier singen keine schwarzen Frauen mit gewagtem Hüftschwung im Chor wie in den amerikanischen Südstaaten; niemand tanzt ausgelassen mit der Heiligen Schrift auf der Straße wie am jüdischen "Tag der Gesetzesfreude".

Es gibt aber auch kaum Rituale: kein katholisches Weihrauchfass wird geschwenkt, kein Glöckchen erklingt zur heiligen Wandlung, es gibt kein Niederknien, keine Bischofstiara, keine religiöse Kleidung – außer eben der berühmten Unterwäsche, und die sieht niemand.

Jeder nüchterne protestantische Gottesdienst muss neben einem "meeting" der Mormonen wie eine Ausschweifung erscheinen: Diese Leute haben einen Glauben, aus dem alles Festliche und Zeremonielle herausgequetscht wurde wie der Saft aus einer Orange. Das Ergebnis ist mild und ein bisschen fade. Allerdings war ich nur in einem Andachtsraum, nicht in einem Tempel der Mormonen (dort haben nur Auserwählte Zutritt); in einem Mormonentempel mag es also weniger nüchtern zugehen.

Gibt es eigentlich auch Mormonen, die keine Republikaner sind? "Aber sicher doch", sagt Boyd Nelson. Er erinnert mich an Harry Reid, den Sprecher der Demokraten im Senat in Washington: ein überzeugter Obama-Anhänger, ein wütender Gegner von Mitt Romney, ein gläubiges Mitglied der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage".

Die Mormonen sind gegen Abtreibung und Homo-Ehe

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Allerdings gibt der Bischof dann bereitwillig zu, dass Mormonen in gesellschaftlichen Fragen stramme Konservative sind: gegen Abtreibung, gegen die Homo-Ehe, für religiöse Symbole im öffentlichen Raum. (In dieser Hinsicht unterscheiden die Mormonen sich also nicht von den mit ihnen verfeindeten Evangelikalen.)

Aber das bedeute noch nicht automatisch, sagt Boyd Nelson, dass man sich für eine der beiden großen amerikanischen Parteien entscheiden müsse. Wie würde sein "ward" reagieren, wenn er am nächsten Sonntag während des "meeting" eine Rede hielte, in der er zur Wahl von Mitt Romney aufriefe?

"Die Leute wären entsetzt", sagt der Bischof. "Politische Reden haben in einem religiösen Zusammenhang nichts zu suchen." Auch die Leitung der Kirche (die aus einem Präsidenten, seinen zwei Stellvertretern und zwölf Aposteln besteht) gibt offiziell keine Wahlempfehlung ab.

Der Mormonenglaube ist der einzige Glaube, der nicht nach Amerika importiert, sondern in Amerika erfunden (oder offenbart) wurde. Paradoxerweise sind die Mormonen ihren eigenen Landsleuten bis heute gleichzeitig seltsam fremd geblieben – jedenfalls außerhalb von Utah.

Polygamie ist längst abgeschafft

Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" ist die einzige Glaubensgemeinschaft, die in den Vereinigten Staaten je verfolgt wurde; nicht wegen der Vielehe, die übrigens längst wieder abgeschafft ist, sondern aus purer Intoleranz. In dem Jahrhundert, seit es sie gibt, haben die Mormonen eine echte Diasporamentalität, und das ausgerechnet in ihrem eigenen Land. Aber das ändert sich gerade eben gründlich.

Ja, es ist immer noch leicht, Witze über Mormonen zu machen. Ja, am Broadway läuft immer noch enormem Erfolg das respektlose Musical "The Book of Mormon". Ja, die Unterwäsche bleibt ein nie versiegender Quell des Humors.

Anti-Mormonismus ist nicht mehr salonfähig

Aber es gibt eine Form der Hetze, die in Amerika nicht mehr salonfähig ist: Früher las man gelegentlich Verschwörungstheorien, dass die Mormonen ihren Reichtum und ihre Macht heimlich für finstere Zwecke missbrauchen, dass sie das Weiße Haus übernehmen wollen, um in Amerika eine Theokratie zu errichten. Heute sind solche Verschwörungstheorien in der Öffentlichkeit genauso verpönt wie der Antisemitismus, an den sie übrigens stark erinnern.

Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" ist aus dem Schatten herausgetreten. Und im hellen Tageslicht sehen wir, wer die Mormonen sind: junge Paare, ältere Leute, quäkende Kinder. Viele Weiße, aber auch Schwarze und Latinos, die eine merkwürdige, sehr milde, etwas fade Theologie haben und einander mit "Brüder und Schwestern" anreden. Ganz normale Amerikaner.

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