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Kultur Raffaels Engel

Die berühmtesten Lümmel der Kunstgeschichte

Raffael, Sixtinische Madonna Raffael, Sixtinische Madonna
Quelle: pa/akg
Die Sixtinische Madonna zählt zu den meistinterpretierten Bildern der Welt. Über Ausdruck und Haltung der beiden Engel Raffaels, die in der Dresdner Sempergalerie zu sehen sind, hat die Kunstwissenschaft lange gerätselt. Heute zeigt sich: Die Botschaft der beiden Lümmel ist hochaktuell.

Hundehalsbänder, Schirmständer, Bettwäsche, Keksdosen, Toilettenrollenhüte, Regenschirme und natürlich Poesiealben. Gibt es irgendetwas, das noch nicht mit den beiden bekannten Engeln bedruckt wurde? „Wenn wir für jeden Abdruck nur einen Cent bekämen, unser Haus würde im Geld schwimmen“, sagt Martin Roth, der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden und Hausherr der beiden Wesen.

Aber die Engel bringen keinen einzigen Cent ein und noch nicht einmal die angemessene Aufmerksamkeit für ihr Museum. Obwohl Kunstsinnige das Gemälde ebenso bedeutend einschätzen wie Leonardos Mona Lisa, weiß kaum jemand, wo die beiden zuhause sind.

Meisterlich: Raffaels gebogene Gardinenstange

Die Engel sind Sachsen mit Migrationshintergrund. Seit 1754 halten sie sich mit kurzen Unterbrechungen in Dresden auf, seit der aufwändigen Sanierung vor wenigen Jahren in einem der schönsten Museen Europas: in der Dresdner Sempergalerie zwischen Zwinger und Semperoper. Doch selbst im Museum kann man sie trotz hervorgehobener Hängung leicht übersehen.


Denn den heutigen Weltstars war nur ein Dasein als Randerscheinungen zugedacht. Sie sind Dekor eines der Hauptwerke der Hochrenaissance, der berühmten Sixtinischen Madonna von Raffael.


Wer sich dem Marienbild nähert, erfährt zunächst eine profane Erscheinung. Über allem thront eine Gardinenstange – die auch noch durchgebogen ist. Angesichts Raffaels unerreichter Meisterschaft, feinste Lichtnuancen, plastische Faltenwürfe und subtile Mimik anzudeuten, darf man annehmen: Er hätte wohl auch eine gerade Stange hinbekommen, wenn er denn gewollt hätte. Er wollte aber nicht.

Pausbäckige Flügeljungs geben ein Rätsel auf

Die krumme Oberkante und der naturgetreue Vorhang halten uns im Diesseitigen, während unser Blick in die erhabene Sphäre der Madonna geleitet wird. Sie wird umgeben von einer Engelschar, die viele selbst dann nicht sehen, wenn sie direkt vor dem Bild stehen. Die Engel dienen als Wolken und tragen die Madonna. Damit tun sie das, was Knäblein (ital.: putti) zu dieser Zeit eben normalerweise taten: Sie arbeiten hart.

Auf früheren Madonnenbildern Raffaels tragen Putten Schriftrollen, frisieren, maniküren, bändigen Raubfische oder schleppen gar ganze Podeste. Der Künstler dürfte nichts dabei gefunden haben, Kinderarbeit zu verewigen. Er selbst begann sein Berufsleben mit elf Jahren. Womöglich ein erster biografischer Hinweis auf die wahre Botschaft der beiden Engel am Fuß des Bildes. Denn: Sie arbeiten eindeutig nicht – sie sind himmlische Vorboten einer anderen Zeit.

Obwohl die Sixtinische Madonna zu den meistinterpretierten Bildern der Geschichte zählt, geben die Engel bis heute ein Rätsel auf. Raffael selbst hinterließ kaum schriftliche Zeugnisse, so dass sich die kunstwissenschaftliche Nachwelt ihre eigenen Gedanken machen musste. Allerdings bislang vergeblich.

Besitzt Luther den Schlüssel zum Geheimnis?

Die anerkannte Kunsthistorikerin Patricia Emison resümiert 490 Jahre nachdem das Bild vollendet wurde in der wissenschaftlichen „Zeitschrift für Kunstgeschichte“: Die Kunsthistorie habe es bislang nicht geschafft, den Ausdruck der beiden Engel zu erklären. Und ihr nicht minder reputierlicher Kollege John Shearman stellt fest: „Niemand stellt triviale Fragen dazu, was die Engel machen.“

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Vielleicht ist genau das der Fehler. Es scheint, als sei es geradezu hinderlich, Kunsthistoriker zu sein, um das Offensichtliche zu erkennen: Die beiden Engel lümmeln. Schon der oberflächliche Vergleich mit der üblichen Körperhaltung eines repräsentativen Querschnitts heutiger Kinder – und häufig auch Erwachsener – lässt wenig Zweifel zu: Hier wird seit fast 500 Jahren himmlisch herumgelümmelt.

Nicht nur der erste Eindruck des kunsthistorisch unverbildeten Auges spricht dafür. Es gibt auch einen dünnen kulturgeschichtlichen Faden, den man zu den Lümmeln spinnen kann. Versetzen wir uns in die Zeit, als das Meisterwerk geschaffen wurde: Kurz nach dem Jahr 1500: Europäer sind in Amerika gelandet, der Buchdruck steht vor seinem Siegeszug. Machiavelli schreibt seine Herrscherfibel „Der Fürst“ und ein deutscher Mönch hat in Wittenberg sein so genanntes Turmerlebnis, das die Reformation begründen sollte: Gott ist gnädig. Nicht ausgeschlossen, dass Martin Luther, wie Raffael vom Jahrgang 1483, dem jungen päpstlicher Hofmaler bei einer Pilgerreise 1510 in Rom begegnet sein mag.

Antlitz der geliebten Bäckerstochter

Um diese Zeit entsteht das deutsche Wort „lümmeln“ und, nach dem Urteil des Grimmschen Wörterbuches, verkörpert Luther diese neue Haltung auf das Vorbildlichste. Ein Zeitgenosse ist dort zitiert: „Ich lobe mir des Luthers Beredsamkeit, wenn sie gleich in den Ohren unserer Höflinge ein wenig lümmelhaft klingt.“

Als der Malerhöfling Raffael die Sixtinische Madonna malt, steht er so hoch in der Gunst seines Auftraggebers, Papst Julius II., dass ihn der Hafer sticht. Als päpstliches Geschenk für den Hochaltar der Grabkirche des heiligen Sixtus in Piacenza gedacht, ist das Madonnenbildnis ein eher unerwarteter Rahmen für die Faxen des Raffael.

Der Meister will herausfinden, wie weit er gehen kann. Als erstes gibt er der Madonna Gesichtszüge aus dem Bekanntenkreis. Allerdings nicht von seiner Verlobten aus hochgestellten Kreisen, sondern von seiner Geliebten, einer römischen Bäckerstochter. Der heilige Sixtus bekommt die Gesichtszüge seines Auftraggebers – wenn auch ungekämmt mit einem wenig päpstlichen Zottelbart, den dieser bei Vollendung des Bildes schon nicht mehr trug.

Zwei Lümmel erzürnen den Papst

Die Engel sind schließlich der Höhepunkt seiner künstlerischen Unabhängigkeitserklärung. So souverän hat keine Putte je gelümmelt, geschweige denn ein Puttenpaar. In der strengen Symmetrie des Bildes wetteifern sie darum, wer sich lässiger auf der Fensterbank fleezt.

Den Ellenbogen aufgestützt knetet der linke Engel mit dem Ringfinger seine Unterlippe und wird wohl gleich brabbelnde Laute von sich geben, während sein Nachbar mit dem Kopf auf den Armen lümmelt und zerstreut die Augen verdreht.

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Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Engel erst aufgemalt wurden, als alles andere schon fertig war. Vielleicht nach der Freigabe durch den Papst, der lümmelnde Engel mutmaßlich nicht als Vorbild in einer Kirche sehen wollte.

Hochaktuelle Botschaft: "Mach's dir bequem!"

Raffael ist längst vollständig rehabilitiert, nicht nur durch die Anerkennung der Kunstgeschichtler, sondern auch durch die Orthopädie. Aktuelle Studien zeigen: Lümmeln ist gut für den Rücken, besonders wenn dabei gelegentlich die Position verändert wird – ganz wie bei den beiden Engeln.


So haben die Engel auch als global verbreiteter Nippes noch eine wertvolle Aufgabe. Jede Reproduktion der beiden himmlischen Boten sagt uns: Mach es dir erst einmal bequem.

*

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Vortrages aus der Serie „Im Auge des Betrachters“ der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Sebastian Turner ist Professor an der Universität der Künste in Berlin - aber kein Kunsthistoriker. Der Partner der Kommunikationsagentur Scholz & Friends lebte Anfang der 90er Jahre in Dresden.

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