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Kultur „Schnurzegal“

Juncker spricht die deutsche Jugendsprache von 1830

Feuilletonredakteur
Blutige Wunden, wie man sie bei der Mensur empfing, mussten dem Burschen schnurz sein – das Wort stammt aus der historischen Studentensprache Blutige Wunden, wie man sie bei der Mensur empfing, mussten dem Burschen schnurz sein – das Wort stammt aus der historischen Studentensprache
Blutige Wunden, wie man sie bei der Mensur empfing, mussten dem Burschen schnurz sein – das Wort stammt aus der historischen Studentensprache
Quelle: picture-alliance/ Mary Evans Picture Library
Alle regen sich heute ständig über alles auf. Da ist es doch schön, wenn dem EU-Kommissionspräsidenten mal etwas egal ist. Um seine Indifferenz auszudrücken, benutzte Juncker ein altes Studentenwort.

Politiker, die sich mit aktueller Jugendsprache bei jungen Wählern anbiedern wollen, sind mega-uncool. Anders verhält es sich mit der Jugendsprache von gestern. Die ist mittlerweile oft so tief in die Umgangssprache eingedrungen, dass ihr jugendsprachlicher Hintergrund verblasst ist. Ein schönes Beispiel dafür bot jetzt Jean-Claude Juncker, der Kommissionschef der EU. Er hat einem Jugendwort des frühen neunzehnten Jahrhunderts zu frischem Ruhm verholfen. Als er darauf angesprochen wurde, ob es nicht undemokratisch sei, das Freihandelsabkommen mit Kanada ohne Abstimmungen in den nationalen Parlamenten zu verabschieden, antwortete er, rechtlich sei das nicht nötig: „Mir persönlich ist das aber relativ schnurzegal.“

Schnurz stammt aus „Der flotte Bursch“

Heute, wo sich jede vertrocknete Zimmerpflanze mit Facebook-Account 50-mal am Tag bis zur Gluttemperatur aufregt, ist es ja eigentlich äußerst sympathisch, mal einen Menschen zu erleben, dem überhaupt noch etwas egal ist. Junckers Wort schnurzegal wurde dennoch von allen Euroskeptikern als verräterisches Indiz für die Arroganz der Brüsseler Technokraten interpretiert.

Der Ausdruck stammt aus der historischen Studentensprache – genauso wie pumpen, Tumult, Pech, einen Kater haben und viele andere Vokabeln, die heute längst Allgemeingut geworden sind. 1831 taucht in dem Wörterbuch „Der flotte Bursch“, das Carl Albert Constantin von Ragocky zusammengestellt hatte, die Redensart Es bleibt sich schnurz auf, die mit „Es bleibt sich gleich“ übersetzt wird. Der Ursprung des Wortes ist unklar, im Grimm’schen Wörterbuch wird vermutet, dass es mit dem noch 1557 beim Dichter Jörg Wickram belegten schnarz „rauh, barsch“ verwandt sei.

Schnurzegal ist eine Tautologie

Früher war mehr egal. Hans Reimann zählt 1931 in seinem „Vergnüglichen Handbuch der deutschen Sprache“ viele Arten und Weisen auf, wie man ausdrücken kann, dass etwas keine Rolle spielt: „Statt ,es ist einerlei’ kann ich sagen: alles eins, egal, gehupft wie gesprungen, bleibt sich gleich, gleichgültig, Jacke wie Hose, rum wie num, piepe, piepegal, schnurz und piepe, spielt keine Rolle, tut nichts zur Sache, schnuppe, Gottlieb Schulze, wurscht.“

Junckers Wort schnurzegal ist also eine Tautologie, denn schnurz allein bedeutet ja auch schon „egal“. Solche Verdopplungen treten häufig auf, wenn die Bedeutung des ersten oder zweiten Teils einer Zusammensetzung nicht (mehr) geläufig ist. Beispiele dafür sind Guerillakrieg (guerilla heißt auf Spanisch „kleiner Krieg“) oder Düsenjet (das englisch jet bedeutet „Düse“). Bei einem Wort derart dunkler Etymologie, wie es schnurz ist, hielten auch Schriftsteller wie Vicki Baum oder Patrick Süskind die verdeutlichende Verdopplung für nötig. Sie hätten natürlich alle einfach nur egal schreiben können, aber schnurz bringt das Rotzige der beschriebenen Geisteshaltung lautmalerisch viel schöner zum Ausdruck.

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