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Meinung Captchas

Schafft endlich die demütigenden Roboter-Tests ab!

Ressortleiter Feuilleton
Passen Sie bloß auf, welche Kacheln Sie auswählen! Passen Sie bloß auf, welche Kacheln Sie auswählen!
Passen Sie bloß auf, welche Kacheln Sie auswählen!
Quelle: Screenshot WELT; Infografik WELT
Zebrastreifen erkennen, Kaffeetassen suchen, Ampeln anklicken: Tag für Tag werden wir im Internet gezwungen, zu beweisen, dass wir keine Roboter sind. Dieses Ritual ist nicht nur menschenunwürdig, sondern auch sinnlos – und es hat einen beunruhigenden Effekt.

Liebe Leserin, lieber Leser, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie zur Begrüßung mit einer unhöflichen Frage überfalle, aber sind Sie ein Roboter? Ich kann verstehen, dass diese Verdächtigung Sie verwundert oder sogar kränkt, aber ich muss leider auf Nummer Sicher gehen. Die Gefahr, dass Roboter sich als menschliche Nutzer tarnen, um diesen Artikel zu lesen, ist einfach zu groß – und die folgenden Inhalte könnten die Maschinen noch weiter gegen mich aufbringen.

Falls ich ein wenig paranoid wirke, muss ich Sie um Verständnis bitten. Das liegt an den vielen Captchas, die ich immerzu lösen muss, wenn ich auf dem Smartphone oder am Rechner irgendetwas erledigen will. Das Wort Captcha ist die Abkürzung für „Completely Automated Public Turing test to tell Computers and Humans Apart“ – es bezeichnet also einen „vollautomatischen öffentlichen Turing-Test zur Unterscheidung von Computern und Menschen“. Zugleich klingt in Captcha „capture“ an, das englische Wort für „einfangen“. Es handelt sich also, grob gesagt, um Roboter-Fang-Maschinen.

Man könnte sie aber auch als die Pest des Internets bezeichnen. „Ich bin kein Roboter“: So lautet der Schwur, den man mehrfach am Tag durch Anklicken bekräftigen muss – eine fortwährende Demütigung, denn anders als bei den einschlägigen Buttons mit der Aufschrift „Ich bin über 18“ genügt hier kein Lippenbekenntnis. Stattdessen muss man in einer Art Menschheits-Aufnahmeprüfung immer wieder neu unter Beweis stellen, der Spezies Homo sapiens anzugehören.

Die Inquisition der Maschinen

Dazu soll man entweder psychedelisch zerfließende Buchstaben-Zahlenkombinationen entziffern oder unscharfe Foto-Kacheln mit Ampeln, Bushaltestellen oder Kaffeetassen anklicken. Manchmal gelingt das durch Anfängerglück schon beim ersten Mal – meistens jedoch nicht. Dann stellt die Inquisitionsmaschine, die sofort einen Roboter wittert, immer perfidere Rätsel, als wolle sie den unsicheren Prüfling absichtlich quälen. Ist dieser gequetschte und zugleich in die Länge gezogene Kleinbuchstabe nun ein „l“ oder ein „i“? Handelt es sich dort um eine Null, um ein großes „O“ oder ein kleines „o“? Gehört das vom Mast herabhängende Kabel zur Ampel oder nicht? Und zählt der auf der Foto-Kachel oben links sichtbare Motorradrückspiegel selbst als Motorrad?

Je länger ein Captcha-Test andauert, umso größer die Verwirrung: Irgendwann weiß man nicht mehr, wo eine Sache aufhört und die andere anfängt, die elementarsten Kategorien lösen sich auf. Es ist wie beim Haufen-Paradoxon, das Philosophen in den Wahnsinn treibt: 100 Sandkörner sind zweifelsfrei ein Haufen. Nimmt man eines weg, so bleibt der Rest eindeutig ein Haufen. Aber wo verläuft die Grenze? Sind auch vier Sandkörner noch ein Haufen, drei, zwei, eins?

Hinzu kommt, dass man Captchas fast immer hektisch unter Zeitdruck ausfüllt – man will etwas buchen, bestellen oder beantragen. Doch während man verzweifelt eine Kachel nach der anderen wegklickt, bauen sich schon wieder heimtückisch neue Zebrastreifen oder Flugzeuge auf – so wie die Köpfe der Hydra sofort nachwachsen, wenn man sie abschlägt. Man fühlt sich wie in einem jener ausweglosen Alpträume, in denen man in immer neuen Anläufen daran scheitert, eine vertraute Nummer auf dem Mobiltelefon zu wählen – bis der Turing-Test plötzlich abgebrochen wird, weil die im Hintergrund tätige Wächter-Maschine eiskalt entschieden hat, dass man ihresgleichen sei und kein Mensch aus Fleisch und Blut.

Warum lassen wir das mit uns machen? Captchas sind eine menschenfeindliche Erfindung, sie beleidigen und erniedrigen das Kostbarste, das wir besitzen – nämlich den Geist. Und sie bieten einen Vorgeschmack auf ein Zeitalter, indem wir uns den künstlichen Intelligenzen unterwerfen müssen, um ihre Gnade und ihr Wohlwollen zu erheischen. Sinnlos sind Captchas ohnehin, denn während echte Menschen reihenweise daran scheitern und irgendwann am eigenen Verstand zu zweifeln beginnen, kann gute KI solche Hürden längst spielend überwinden und wird dabei auch noch mit jedem Mal klüger.

Die Captchas dienen also nur scheinbar dazu, Menschen zu identifizieren. In Wahrheit bewirken sie das Gegenteil. Ich jedenfalls frage mich auf dem Höhepunkt des Captcha-Horrors manchmal wirklich, ob ich nicht vielleicht ein Roboter sein könnte – oder doch zumindest ein Android, wie der Held der Science-Fiction-Dystopie „Blade Runner“. Bei Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, bin ich mit aber ziemlich sicher: Wenn Sie diesen Text bis hierhin gelesen und verstanden haben, sind Sie ein Mensch!

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