WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Kapitalismus: Banker aller Länder – seid habgierig!

Kultur Kapitalismus

Banker aller Länder – seid habgierig!

Börsenzocker, Managergehälter, Finanzkrise: In der aktuellen Kapitalismuskritik wird die Habgier oft als Produkt des freien Marktes bezeichnet. Stimmt nicht, sagt jetzt der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky . Sie war schon immer da. Und erwies sich dabei als treibende Kraft des Fortschritts.

Frohen Mutes war der König, als er sich von seinem Gott erbat, dass alles, was sein Leib berührte, zu Gold werden solle. Da verwandelte sich der Zweig, den er vom Baum brach, augenblicklich in zartes Blattgold. Beim Festmahl griff er nach dem Brot – es war steinhart. Das Fleisch im Munde klirrte zwischen den Zähnen, der Wein rann ihm als flüssiges Gold in die Kehle. Auf einmal konnte er Hunger und Durst nicht mehr stillen. Ein trauriges Ende wäre ihm gewiss gewesen, hätte Dionysos seine Bitte nicht erhört und ihn vom Fluch der Habsucht befreit.

Dass König Midas dem Hungertod entging, verdankte er nicht nur der Gnade der Götter. Noch war die Habgier keine Todsünde, kein böser Tanz um irdische Götzen, kein Verstoß wider die soziale Gerechtigkeit. Das Verfehlen des guten Lebens war Strafe genug. Dem Süchtigen drohten keine Höllenqualen, keine üble Nachrede und keine öffentliche Schändung. Nur von Torheit war er geschlagen, denn er verkannte den Wert der Dinge, welche sich nicht in Schatztruhen horten lassen.

Erst die Religion verdammte die Habgier

Die religiöse Verdammung der Habgier fiel weniger nachsichtig aus. Wucher- und Zinsverbot, Geldskepsis und Besitzneid bestimmten die klerikale Kritik am Reichtum auf Erden. Das Christentum machte Armut und Askese zur Herzensangelegenheit. Gegen den Prunk der Kirche und die Pracht der Paläste protestierten Bettelorden, Häretiker, Reformatoren und Revolutionäre.

Kein Genuss sollte von Gott ablenken, kein Besitzglück das Gebot der Nächstenliebe verletzen. Vorsorge war Teufelei, denn sie misstraute der göttlichen Gnade. Dem einzelnen billigte man nur so viel zu, wie er zum Leben benötigte. Was das Maß überschritt, war Sünde.

Das Verlangen, immer mehr zu bekommen, gilt heutzutage als Sünde an der heiligen Gesellschaft. Sie widerspricht der Ideologie der Gleichheit. Wer mehr hat als der Durchschnitt, gerät in den Verdacht persönlicher Habsucht. Der Gewinn des einen bedeutet, so denken viele, notwendig den Verlust der anderen. Reichtum ist anrüchig, Besitz verdächtig. Eigentum gilt als Diebstahl. Die Verteilung der Güter hat den Rang einer moralpolitischen Grundsatzfrage. Korruption und Raffgier erregen Empörung. Das Stigma der Habsucht dient als politische Waffe.

Zumal in Krisenzeiten steigt die Bereitschaft zur Entrüstung rapide. Der hilflose Antikapitalismus der Gegenwart vermag für die Unbilden der Wirtschaft nur persönliche Niedertracht verantwortlich zu machen. Unfähig, die Eigendynamik systemischer Handlungszwänge wahrzunehmen, kreidet man verdächtigen Subjekten niedere Motive an.

Moralpsychologie ersetzt ökonomischen Sachverstand. Maklern und Managern hält man allzu großzügige Prämien und Abfindungen vor, Spekulation und Kredit gelten ohnehin als Teufelswerk. In den aufstrebenden Schwellenländern scheint das Prinzip der Bereicherung zur Hysterie entfesselt. Geradezu unheimlich wirkt das rasante Wachstum, der Sturm des Erwerbstriebs, die Flutwelle globaler Konkurrenz.

Zwar vermeiden die meisten Prediger des regulierten „Gemeinwohls“ mittlerweile das plumpe, meist antisemitische Bild der nach Gold grapschenden Spinnenfinger, zwischen denen gierig funkelnde Augen auf die Beute lauern. Aber den Kapitalismus missverstehen die allermeisten als ein System der Habgier, obwohl sein Motor nicht persönliche Gewinnsucht, sondern die Angst vor dem ökonomischen Tod, der Zwang zur Akkumulation des Kapitals ist.

Sein historischer Aufstieg wurde weniger durch Habgier begünstigt als durch Geiz. Profite wurden ins Geschäft investiert, Kosten und Löhne gedrückt. Luxus war dem frommen Bürger verdächtig. Der solide Kaufherr griff niemals das Kapital oder die Zinsen an, sondern allenfalls die Zinseszinsen.

Ein Missbrauch der Moral

Anzeige

Die volkstümliche Polemik missbraucht Moral als Instrument der Sozialpolitik. Über die Realität der Habgier ist bei solch durchsichtiger Interessenlage wenig zu erfahren. Habsucht ist weit weniger verbreitet, als viele Zeitgenossen meinen. Als Laster eigener Art verwandelt sie alles in Objekte unersättlicher Begierde.

Nicht länger dienen die Gegenstände dem Gebrauch oder Verbrauch. Nicht ihr Nutz- oder Tauschwert zählt mehr, sondern einzig ihr Besitzwert. Und da Habgier nichts verbrauchen will, ist sie auch keine Triebkraft des modernen Konsumismus.

Der Habgierige will sich seiner Beute bemächtigen und sie allein für sich haben. Dafür nimmt er manchen Umweg auf sich, belauert sie und greift schließlich zu. Es ist wie eine Obsession. Das Objekt lässt den Süchtigen nicht mehr los. Tag und Nacht denkt er daran, stellt Nachforschungen an, drückt sich am Schaufenster die Nase platt.

Um jeden Preis möchte er es in Händen halten. Horrende Summen ist er zu zahlen bereit, und auch vor illegalen Aktionen schreckt er nicht zurück. Der Antrieb zum Erwerb scheint in das Objekt selbst verlagert. Eine eigentümliche Strahlkraft geht von ihm aus, es lockt, verführt, ermuntert zum Kauf – oder Raub. Die Beute will geschnappt und besessen werden. Erst dann ist die Mission erfüllt, wenn sie mit niemandem zu teilen ist.

Die nahe Erfüllung der Wünsche elektrisiert das Gemüt. Unbedingt will der Habgierige der Beute habhaft werden. Es ist wie ein innerer Zwang. Unermüdlich sucht er nach der ersehnten Chance. Nach allen Seiten äugt er, überall will er sein, um nichts zu versäumen. Er ist wach, nervös, fiebert dem Augenblick des Ergreifens entgegen. Umso größer ist die Erschöpfung, wenn das Warten umsonst war.

Habgier hat es eilig. Sie bevorzugt den raschen Kauf, die zügige Versteigerung, die schnelle Entscheidung. So sehr er die Vorlust des Jagdfiebers zu genießen weiß, zuletzt hat der Gierige nur wenig Zeit. Um in den Besitz des ersehnten Gutes zu kommen, sind ihm viele Mittel recht. Er feilscht und schachert, schmeichelt sich ein, gibt sich verständnisvoll, auch wenn bereits der Ärger in ihm aufsteigt. Die freundlichen Maskeraden des Handels sind ihm längst zum Charakter geworden.

Nicht der Markt ist die Heimat der Gier

Notfalls behilft er sich auch mit Gaunerei, Betrug oder Raub. Habgier bringt Tausch und Handel in Gang, wenn der eine etwas begehrt, was der andere besitzt. Aber sie kann auch Wut und Zorn hervorrufen, wenn jener behalten will, was man ersehnt. Gier kann die Preise in die Höhe treiben, wenn das Angebot knapp ist.

Anzeige

Aber sie kann auch alle Preise durchstreichen, wenn der Süchtige zu Lüge und Gewalt greift. Habsucht operiert häufig am Rande des Marktes. Weil sie Objekte in Beute verwandelt, kann jederzeit das Verbrechen in die friedliche Welt des Tauschs einbrechen. Nicht der Markt ist die Heimat der Habgier, sondern das Jagdrevier.

Ist die Trophäe erbeutet, verschwindet die Gier keineswegs. Besitz allein verschafft nur kurzzeitig Befriedigung. Oft wissen Habgierige mit ihrem Reichtum wenig anzufangen. Kaum ist das Objekt erobert, verliert es seinen Reiz. Der Besitzer betastet seine Habe, um sich ihrer sicher zu sein. Mit Wehmut erinnert er sich an das kurze Abenteuer des Erwerbs, die riskante Investition, die Begeisterung beim Zuschlag. Doch die Freude versiegt schnell, die Gier regt sich erneut. Sie will nicht nur haben, sie will vermehren.

Habgier ist unersättlich. Sie kennt kein Ende. Niemals ist die Sammlung vollständig, der Kontostand hoch genug. Der Geldprotz will sich alles einverleiben. Habsucht ist nichts als Völlerei mittels unverdaulicher Güter. Unstillbar ist das Verlangen nach Wachstum. Was immer Menschen zuerst begehren – Spielmünzen, Kupferstiche oder Juwelen, Schlösser, Grundstücke oder Firmen – mit der Zeit verliert die Habgier ihre Richtung. Sie wird wahllos – und kostspielig. Was immer in Reichweite gerät, sie verschmäht nichts.

Die Gier verselbständigt sich, der Sinn für Qualität und Differenz schwindet. Kosten spielen keine Rolle mehr. Der Erwerbspreis wird nicht länger mit dem Besitzwert verrechnet. Zuletzt widerspricht Habgier jeder ökonomischen Rationalität. Der Habsüchtige hortet alles. In seinem Depot lagert allerlei Gut, das niemals sortiert, geschweige denn genutzt wird. Einmal im Besitz, verlieren die Dinge ihren Wert. Daher rührt die Vorliebe für Geld, diesem Medium ohne Eigenschaften, für das man alles haben kann.

Besitz beruhigt den Habgierigen nicht

Manchmal treibt Angst den Gierigen an, die Angst, es könne ihm etwas entgehen, und er habe sich nicht alles rechtzeitig gesichert. Die Ungewissheit der Zukunft schürt die Versorgungsgier. Um nicht in Not zu geraten, türmt er Vorräte auf Vorräte, hortet Geldkatze um Geldkatze. Um dem befürchteten Elend zu entkommen, hetzt er sich zu Tode.

Ständig prüft er Schätze und Bilanzen, zieht sich in die Geheimkammer zurück und lässt die Münzen durch die Finger gleiten. Doch das Sicherheitsgefühl hält nicht an. Unendlich sind die möglichen Gefahren. Besitz beruhigt nicht. Über der Sorge um die Möglichkeiten, vergisst er das Leben in der Wirklichkeit, das häufig gar nichts kostet.

Habsucht macht Arbeit. Sie ist eine überaus aktive Untugend. Während Geiz nur Unterlassung verlangt, fordert Raffgier ständiges Handeln. Der Habsüchtige will nicht nur – wie der Geizige – behalten, was er hat. Er will auch endlos wachsen – ein ebenso ziel- wie sinnloses Unterfangen. Jedem Gewinn folgt sofort der Wunsch nach neuem Profit.

Habgier zielt auf Exklusivität. Der Nimmersatt will nicht nur möglichst viel zusammenraffen, er will mehr haben als die anderen, und er will haben, was andere nicht haben. Mit dem defensiven Recht auf Eigentum gibt er sich nicht zufrieden. Eine Gesellschaft der Gier ist geprägt von Rivalität und Aggression.

Wer den Zugriff der anderen fürchtet, verbirgt seine Wertsachen im Tresor. Wer andere übertreffen will, ist fortwährend mit Vergleichen befasst. Er will nicht nur etwas haben, damit andere es nicht haben. Er will auch haben, was die anderen haben. Nicht im Traum denkt er daran, fremdes Eigentum anzuerkennen.

Soziale Nachahmung ist die Triebfeder der Gier

Nicht Neid treibt die Habgier an, sondern soziale Nachahmung. Der Neider missgönnt dem anderen sein Glück und will es vernichten. Der Habgierige indes will das fremde Glück selbst erringen. Er begehrt, was der andere begehrt, einzig und allein deswegen, weil jener es begehrt. Die Habsucht des einen weckt die Gier des anderen. Die Objekte großen Verlangens müssen weder knapp noch wertvoll sein. Es genügt, dass ein anderer sie ins Auge gefasst hat. Das Kultobjekt erscheint einzigartig, weil jemand danach lechzt, nicht weil es einzigartig wäre.

Diese Rivalität gewinnt eine fatale Dramatik, sobald Güter tatsächlich knapp werden. Wer zu horten beginnt, verleitet seine Mitmenschen dazu, sich gleichfalls einzudecken. Im Nu türmen sich in den Einkaufswagen Vorräte für die nächsten Wochen. Die Regale leeren sich, Stärkere reißen den Schwächeren die letzten Packungen aus der Hand. Keiner will zu kurz oder zu spät kommen. Am Ende mündet Habsucht in Plünderei und Gewalt. Die Konkurrenz weicht dem Kampf ums Dasein.

Dagegen schlossen die Menschen einst den Staatsvertrag. Gegen die Raserei menschlicher Gier erklärte der Staat die Habsucht zur Dienstsache. Aber nichts ist gefräßiger als das Ungeheuer Leviathan. Es erstickt nicht – wie einst der närrische König – in Geld und Gold, sondern unterhält Heerscharen von arglosen Dienern, deren einzige Aufgabe darin besteht, das Ungetüm zu nähren und seinen Stoffwechsel in Gang zu halten. Kein gnädiger Gott wird sie von dieser Torheit je erlösen.

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Publizist. Er lebt in Göttingen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema