WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Bühne und Konzert
  4. Nachruf: Otto Sander – die „Zwetschge der Untröstlichkeit“

Bühne und Konzert Nachruf

Otto Sander – die „Zwetschge der Untröstlichkeit“

Der große Schauspieler Otto Sander ist tot. Er spielte in den Klassikern „Der Himmel über Berlin“ und „Das Boot“und war eine der Stützen der Berliner Schaubühne in ihrer legendären Zeit.

Es heißt, er sei der „berlinische Schauspieler überhaupt“. Weil er einen Stammplatz habe in der Paris Bar, mit Namensschild aus Messing, womit man endgültig zum harten Kern zähle der hiesigen Gesellschaft, was wiederum, wie er gestand, seiner „Neugier und Umtriebigkeit“ entspräche. Berlinisch aber auch, weil Otto Sander durch die Ewigkeit in Wim Wenders Traumfilm „Himmel über Berlin“ geistert als schweigsam entrückter Zauberengel Cassiel; wobei allerdings Schweigen und Entrücktheit eher nicht Berlintypisch sind.

Und weil er unter Peter Stein zum Stammpersonal der Schaubühne gehörte, dem damals besten Theater der Welt. Und vor allem, weil er, wie es sich ziemt für jeden echten Berliner sowie fast jeden, der hier berühmt wurde, ein Zugereister ist. Mit Quartier in Wilmersdorf, 270 Quadratmeter, Jenaer Straße, seit drei Jahrzehnten. – Und nun, zwangsweise, der Umzug. Die letzte Reise nach dem langwierigen Auf und Ab einer schweren Krankheit: Otto Sander starb am Donnerstag mit 72 Jahren in Berlin – wo sonst?

Die lässig zärtliche Seite von Berlin

Ein berlinischer Spieler, nun ja. Jedenfalls das deftig Boulettenhafte, das dröhnende Hau-Druff und unverfrorene Hier-bin-ick war er nie. Aber die feine Schnoddrigkeit, die schlurfige Gelassenheit, sein scheu gegrummeltes, höheres „Det wird schon“, seine alles Daseinstragödische lax mit Komik wegwischende Art, das passte schon sehr zu Berlin. Wenn berlinisch, dann verkörperte Sander – in seiner Kunst wie auch privat – die lässig leise, zärtlich traurige, ja transzendente Seite dieser grellen, ruppigen, tapferen Stadt, die immerhin für eine Lebensauffassung steht.

Dazu passte auch sein „zusammengestürztes Gesicht“, wie der ihm sonderlich zugetane Dichter Botho Strauß befand. Diese „Zwetschge der Untröstlichkeit“ (übrigens ein gefundenes Fressen für jede Filmkamera). Und dazu passte, dass diesem auf der Bühne so hinreißend zu Herzen spielenden Mann „die Schüchternheit ein stetiger Begleiter“ war. „Als junger Mensch hatte ich Angst, unter die Leute zu gehen, konnte die Blicke nicht ertragen. Daher viel Einsamkeit. Ich war zart, blass, mit blauen Augen und roten Haaren. Da bleibt einem nur, Intellektueller zu werden oder Spaßvogel.“ Otto Sander wurde beides.

Das Bittersüße machte sein Leben aus

Und Melancholie, ohne die das eine, das Denken, die Schwere, wie das andere, das Lächeln, das Leichte, kaum zu ertragen sind, und Melancholie, Bittersüße, die Zwetschge eben – das alles macht sein Wesen. Ist der Stoff, aus dem er seine vielen, meist wundersamen oder wunderlichen, sanft abgründigen, verlegen sperrigen, gelegentlich zart anarchischen Figuren formte. Etwa den traurig täppischen, kränkelnden älteren Herr Jelke im Strauß-Stück „Der Kuss des Vergessens“, der mit der fesch frischen, deutlich jüngeren Ricarda (Anne Tismer) keck und ziemlich unverschämt den, wie Strauß ein Menschenpaar nennt, „Vierfüßler“ gab am Zürcher Schauspielhaus.

Noch am Rande seines Grabs lechzte dieser tapfer an seiner moribund-krampfenden Schwerkraft Leidende mit der unverkennbar rauen Stimme nach „leichten Worten, entspanntem Gelächter“. Ein kleines Beispiel für Otto Sanders große Kunst, „mit minimalen Mitteln“, so sein Patentrezept, „maximale Wirkung zu erzielen“. Unvergesslich.

Wie geschaffen für Beckett

Wie auch zuletzt, vor ein paar Jahren erst zu den Ruhrfestspielen und im Berliner Renaissancetheater, sein alter Zausel Krapp. Ein abgedankter müder Mime mit hellen Augen, die verloren starren wie aus wund geröteten Höhlen. Sander spielte eine tiefe Resignation und einen großen Trotz gegen sich selbst in dieser verbitterten, niemals jedoch zynischen Erinnerung eines Greises an seine besseren Zeiten in Becketts herzensschwerem Monolog „Das letzte Band“.

Es ist noch nicht lange her, da sagte Sander in einem Interview; dass ihm „das Offene, Weiche, Zarte, Großäugige“, dass diese Kräfte der frühen Kindheit ihm lebenslang geblieben seien wie eben auch die so oft beschworene Schüchternheit – trotz „aller großen Erfolge“; trotz ehelicher Vierfüßlerei mit Kollegin Monika Hansen, großer Familie und glücklicher Ziehvaterschaft zweier wilder Künstlerkinder, nämlich Meret und Ben Becker.

Es sei mit ihm wie mit Chaplin: „Der läuft immer vor irgendwas weg; ist ständig auf der Flucht vor den Dicken und Großen, vor den Ordnungshütern. Der rennt vor den Menschen weg. Aus Angst. Und selbst am Schluss zahlreicher seiner Filme ist er nirgends angekommen, sondern watschelt sentimental eine Straße entlang. Ich werde lernen müssen, meine Angst zu formulieren, vielleicht gibt es dann was zu lachen.“

Anzeige

Es gab. Sehr sogar, aber eben auch nicht zu viel. „Komik muss balanciert sein, leicht und dabei unheimlich genau“, sagte Sander.

Unheimliche Genauigkeit

Das Leichte muss man wie selbstverständlich können. Sander konnte es wie kaum ein anderer und bezog sich da auf „Picasso am Ende, als er nur noch einen Strich malte, und alle wussten, was er meinte“. Die unheimliche Genauigkeit, das präzise Denken, das präzisem Spiel vorausgeht, das kann man lernen. Beispielsweise in München an der Uni und an der Falckenbergschule.

Also 1941 geboren in Peine in gutbürgerlichen Verhältnissen, aufgewachsen in Hannover und ausgebildet in München. Um zu lernen, was ein Spieler „machen muss und wie er denkt“, damit er ihn besser „anleiten“ kann. Denn Sander wollte zunächst nicht auf, sondern hinter die Bühne und gleich gar nicht zum Film. Er wollte Regisseur werden, Dramaturg. Glücklicherweise kam es anders.

„Man traut Rothaarigen nicht“

Botho Strauß hielt Otto Sander für ein Wunderding und nannte es „Greisenkindmensch“. In einer eigens für den Verehrten verfassten Szene (im besagten Stück „Der Kuss des Vergessens“) heißt es trefflich: „Wer ist dieser lächerliche Mann? Die Haare kreuz und quer und ziemlich aufgeregt, verdutzt, verwirrt, verzweifelt, eine rundherum verdächtige Erscheinung. Ein Bündel schwacher Nerven, gar ein Ausbund an schlechtem Gewissen, ein Mensch, ganz einfach, mit dem Rücken an der Wand. So steht er da. Den sehen Sie.“ – Und so liebten wir ihn, ganz einfach. Mit seinen Sommersprossen, den roten Haaren, dem roten Schnauzer.

„Man traut Rothaarigen nicht“, meinte Sander. „Doch dieses Vorurteil hab’ ich wettgemacht: Durch meine unschuldigen Augen.“

Diese Augen, dazu die dunkelsamtig knarzende, erotische Stimme (auch ein Markenzeichen und auf großartigen CD-Aufnahmen von Montaigne bis Ringelnatz für immer festgehalten), sein Sinn für Komik und schmerzlichen Aberwitz, seine Verlorenheitsgefühle und lustvolle Traurigkeit sowie seine lebenslang geschärfte Beobachtungskraft gegenüber dem allgemeinen Dasein und besonders gegenüber sich selbst – dies alles war Otto Sanders Kapital. Künstlerkapital. Lebenskapital, das ihm half, Lebensangst zu formulieren. Mithin gegen sie anzuspielen, was seine Figuren so verwundbar, so nachvollziehbar, so anrührend machte.

„Wo Otto ist, da ist Heimat“

Sein Beruf war ihm wie ein selbst auferlegtes Anrennen gegen ein scheues („doch ich blute nicht im Verborgenen“, meinte er trotzig), ein zur Schwermut und, auch das, ein zur Droge neigendes Ich. Ein Anspielen gegen innere Zwänge, freilich ohne je kraftmeierisch zu werden, keuchend, schweißtreibend. So erwuchs ihm sein so zartes wie eindringliches Schau-Spiel. Auch gab es dabei, wie er es wünschte, einiges zu lachen für uns. Wenn auch oft unter Tränen.

Anzeige

„Wo Otto ist, da ist Heimat“, sagte einst Heiner Müller, der dem Otto „ein guter Freund“ war. „Wir traten zusammen in einer Talkshow auf, es ging um Heimat. Plötzlich stand der Müller auf, küsste mich auf den Mund und sprach diesen Satz, dabei kann ich mit ‚Heimat’ gar nicht viel anfangen“, erinnerte sich Otto Sander.

Er war etwas schief im Leben bebaut

Dabei meinte Müller, der Metaphoriker, gewiss nichts Geografisches. Sondern vielmehr eine beruhigende Aura, die Sander ausstrahlte; eben das Greisenkindhafte, ein träumerisches Bei-sich-sein in poetischen wie seelischen Landschaften, von denen wir meinten, dass sie uns vertraut seien. Das hatte etwas Tröstendes, Schönes, Gutes. Verbindendes.

Seinem geliebten Ringelnatz-Abend gab Sander sehr absichtsvoll den Titel „Ich bin etwas schief ins Leben gebaut.“ Dieses jedermann vertraute Etwas-schief-Gebaute war es, das Otto Sander immerzu weh umspielte. Was ihn einzigartig machte.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema