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Literatur Giorgio Agamben

Der Denker mit dem bösen Blick

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, Jahrgang 1942 Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, Jahrgang 1942
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, Jahrgang 1942
Quelle: Alberto Cristofari/A3/contrasto/laif
Er will uns Gott und die Welt erklären: Der Philosoph Giorgio Agamben gilt als Meisterdenker der Gegenwart, der die Stichworte der Kulturkritik liefert. Das Resultat: Verschwörungstheorien.

Im Jahr 1995 veröffentlichte Giorgio Agamben ein bald berühmtes Buch „Homo sacer“, das 2002 in deutscher Sprache erschien. „Homo sacer“ begründete Agambens Ruf als einer der großen philosophischen Meisterdenker der Gegenwart. Seit den späten Neunzigerjahren wird der 1942 in Rom geborene Jurist und Philosoph weltweit als ein brillanter Krisendiagnostiker gefeiert, der eine grundlegend neue Deutung der gegenwärtigen Weltlage, speziell der tiefen Identitätskrise Europas, biete.

Zum großen Ruhm trug bei, dass Agamben seit „Homo sacer“ eine bewundernswerte literarische Produktivität an den Tag legte. Neben zahlreichen Texten zu aktuellen Debatten veröffentlichte Agamben seit 1995 mehr als zwanzig Bücher: über „Mensch und Tier“, die „Idee der Prosa“, die „Engel“ als „Beamte des Himmels“, die „Kirche und das Reich“, „Profanierungen“, und immer wieder die Sprache, die Kontingenz des Lebens, das Schöne, den Leib, das Leiden und den Tod. Auch legte Agamben 2000 einen Kommentar zum Römerbrief vor.

Von Pier Paolo Pasolini zu Arendt und Heidegger

Agamben hat sich einen ganz eigenen Kanon ihm wichtiger Klassiker entworfen. In jungen Jahren beeinflusste ihn Pier Paolo Pasolini, in dessen berühmtem Film „Il vangelo secondo Matteo“ (Das 1. Evangelium nach Matthäus) er die Rolle des Apostels Philippus spielte. Auch suchte der Student die Nähe Ingeborg Bachmanns und knüpfte Kontakt zu Hannah Arendt. 1966 und 1968 nahm er an zwei Seminaren Martin Heideggers über die Philosophien Heraklits und Hegels teil. Starkes Interesse an Fortschreibung von Heideggers dunkler Seinsrhetorik bildet eine wichtige Konstante in Agambens Denken.

Seit 1978 gab Agamben eine italienische Ausgabe der Schriften Walter Benjamins heraus, auch mit von ihm entdeckten, bis dahin als verloren geltenden Texten des großen deutschjüdischen Melancholikers. Im Warburg Institute in London erschloss er sich 1974/75 die Ikonologie Aby Warburgs und seiner Schule. Zudem bemüht er immer wieder Marx, Nietzsche und Kierkegaard.

Ungleich stärker als andere Philosophen der Gegenwart sucht er die einst von den Theologen der Alten Kirche geführten Debatten um Gott, den allmächtigen Schöpfer, und die von ihm gestiftete Ordnung alles Geschaffenen ernst zu nehmen. Der für Agamben wichtigste Denker ist, neben Aristoteles, der brillante katholische Rechtsintellektuelle Carl Schmitt, der radikal antiliberale Vordenker von Ausnahmezustand und Freund-Feind-Denken.

Pathetische Behauptungen und steile Vermutungen

Zwar war Agamben mit einer Dissertation über die französische existentialistische Philosophin Simone Weil promoviert worden. Auch liest er intensiv französische Heideggerianer wie Levinas und Derrida. Aber sein intellektueller Kosmos wird sehr viel stärker durch deutsche Denker als durch französische Traditionen geprägt. Nicht Aufklärung durch rationale Klarheit und begriffliche Prägnanz prägen seinen Denkstil, sondern die Beschwörung von geheimem Sinn, unvordenklichem Sein, bisher verschlossener Tiefe und noch gar nicht gesehenen großen Zusammenhängen. Agamben liebt pathetische Behauptungen und steile Vermutungen. Skepsis und methodisch kontrolliertes Abwägen sind ihm fremd. Alles und jedes wird mit allem Möglichen in Zusammenhang gebracht, durch fantastische Ideenassoziation und in einem oft autoritären Ton des Raunens.

Dabei erhebt Agamben einen hohen politischen Anspruch: Alle philosophische Reflexion müsse durch ein besseres Verständnis des Menschen und seiner Welt einer Kritik des politischen status quo dienen. Der Intellektuelle will eine falsche Politik verabschieden und in Zeiten einer globalen Fundamentalkrise den Weg in eine bessere Welt vorzeichnen. So tritt der charismatische Geistgaukler gern als Mahner, Bußprediger und Kathederprophet auf. Souverän beherrscht er die Kunst der polemischen Zuspitzung und der Reduktion von Problemkomplexität durch moralisierende Vereinfachung.

Gegen pervertierte Machtverhältnisse

„Homo sacer“ bildete den Auftakt eines auf vier Bände angelegten „Projekts“, das die „Krise der Gegenwart“ durch eine „Archäologie“ ihrer bestimmenden Strukturen und Machtverhältnisse erleuchten soll. Mit dem von Foucault übernommenen Begriff der „Archäologie“ will Agamben ein Spezifikum des genuin europäischen Weltverhältnisses betonen: Anders als geschichtslose Asiaten oder Nordamerikaner, deren „way of life“ nur ein „posthistorisches Vegetieren“ sei, könne „der Europäer“ nur durch die immer neue Auseinandersetzung mit seiner Geschichte, durch gegenwartsbezogene Arbeit an der Vergangenheit, zur Wahrheit seiner selbst gelangen. Eine Identität eigne den Europäern nur durch aktualisierende Erinnerung vergangener Lebenswelten. So will Agamben im „Homo sacer-Projekt“ durch geistesarchäologische Tiefenbohrungen in jene Seinsstrukturen vorstoßen, die die pervertierten Machtverhältnisse der Gegenwart prägten.

In seiner „Politischen Theologie“ hatte Carl Schmitt programmatisch erklärt: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ So konzentriert sich Agamben in seiner Geneaologie der Gegenwartsmacht bevorzugt auf einst von Theologen geführte Diskurse. Nun gibt es in italienischen Universitäten, anders als in Deutschland, keine Theologischen Fakultäten, also keine kritisch arbeitenden Universitätstheologen mit Deutungskompetenz fürs Christliche. Deshalb kann Agamben ohne Einsprache akademischer Experten hier Deutungsangebote ersinnen, die oft ebenso naiv wie hanebüchen sind. Hohe Gelehrsamkeit und die Kenntnis von Texten auch weniger prominenter Gottesgelehrter der Alten Kirche verbindet sich mit viel Mut zur Vereinfachung.

Alte Debatten um Gottes Allmacht

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In „Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung“, dem Teil II/2 des „Homo Sacer-Projekts“, zeichnet Agamben alte Debatten um Gottes „Allmacht“ nach. Dabei stellt er die triviale These auf, dass es zwischen dem Allmachtsdiskurs der Theologen und den juristischen Deutungen politischer Macht einen inneren Zusammenhang gegeben habe. Von den Kirchenvätern entworfene Begriffe der „Verherrlichung Gottes“ seien über die „politische Theologie“ des Abendlandes in moderne Machtkonzepte eingewandert.

Durch Theologie sei nicht nur der Unterschied von Herrschen und Regieren entwickelt worden. Vielmehr sei mit Blick auf Gottes Omnipotenz theologisch auch das Wesen überlegener Herrschaft vorgedacht worden, einer Form der Herrschaft, die sich souverän über alle Regeln von Natur und Recht hinwegsetzt.

Auch hier denkt Agamben zu kurz. Denn Generationen von christlichen Theologen haben sich an der Frage abgearbeitet, wie Gottes Allmacht so zu denken sei, dass sie nicht blanker Willkür gleiche. Immer ging es in christlicher Theologie auch um die Selbstbegrenzung Gottes, etwa in Gestalt seiner Inkarnation und im Kreuzestod Jesu von Nazareth. Das alles bedenkt Agamben nicht. So will er grundlegende Modelle moderner Politik von der Gewaltenteilung bis hin zur militärischen Doktrin des Kollateralschadens, vom Marktliberalismus der „invisible hand“ bis hin zum aktuellen Sicherheitswahn der US-Regierungen auf alte Vorstellungen der „Verherrlichung“ Gottes und speziell die Heilsökonomie der drei trinitarischen Personen zurückführen. Die alteuropäische theologische Rede von der oikonomia der drei göttlichen Personen habe dazu geführt, dass in der westlichen Welt die Macht vorrangig die Gestalt der kapitalistischen Wirtschaft angenommen habe.

Amerika spricht Europa Souveränität ab

So faszinierend einzelne Beobachtungen und die Konstruktion einiger Traditionslinien auch sind – im Kern läuft Agambens Geistesarchäologie moderner Macht auf eine äußerst platte, nicht selten autoritäre Zivilisationskritik hinaus. Alle Kritikmuster moderner Antimodernismen seit 1900 werden von Agamben gerade mit Blick auf die Vereinigten Staaten revitalisiert. In seinem schrillen Antiamerikanismus vergleicht er Guantanamo gern mit Auschwitz.

In den USA sieht er eine globale Militärmacht, die den großen europäischen Staaten die Souveränität abspreche und sie wie Protektorate behandele. Durch die neuen Erkenntnisse über das systematische Ausspähen zahlreicher europäischer Bürger und auch ihrer Regierungen dürfte sich Agamben darin bestätigt sehen, dass die USA, einst im Namen der gleichen Freiheit aller gegründet, im Kampf gegen den Terrorismus genau jene freiheitliche Ordnung von innen heraus zerstörten, die sie doch verteidigen wollten.

Flößt der globale Kapitalismus Angst ein, werden gern Kultur, Heimat und Tradition beschworen. In die Debatten um die europäische Staatsschulden- und Bankenkrise hat Agamben mit dem Vorschlag eingegriffen, nach dem Selbstmord des alten, durch den deutschen Hegemon rein ökonomisch definierten Europa ein neues lateinisches Reich zu schaffen. Statt der alles nivellierenden Wirtschaft müsse ein neues, primär von Frankreich geführtes Europa die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen und Glaubensweisen ernst nehmen, aus denen Europa seine eigentliche Kraft beziehe.

Ein „lateinisches Europa“

Mit der Rede vom „lateinischen Europa“ knüpft Agamben abermals an den in Russland geborenen Alexandre Kojève an, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem protestantischen Deutschland gewarnt hatte – es wolle, als demokratischer Musterschüler des US-Imperiums, mit seiner Wirtschaftsmacht nur den Kontinent dominieren. Für sein „lateinisches Reichs“ bemüht Agamben einen historischen Vergleich: „Indem sie die deutschen Städte bombardierten, wussten die Alliierten auch, dass sie die deutsche Identität zerstören konnten.

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In gleicher Weise zerstören Spekulanten heute mit Beton, Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen die italienische Landschaft. Damit wird uns nicht nur einfach ein Gut geraubt, sondern unsere historische Identität.“ Agamben verteidigt historisch gewachsene partikulare Identitäten gegen all jene dämonischen Mächte, die an Zerstörung verdienten. „Ganz offensichtlich sind heute in Europa Kräfte am Werk, die unsere Identität manipulieren wollen, indem sie die Nabelschnur zerstören, die uns noch mit unserer Vergangenheit verbinden.“

Das klingt nicht nur nach Verschwörungstheorie, sondern ist von Agamben auch so gemeint. In seiner Geistesarchäologie der gegenwärtigen Machtstrukturen will er nur den vergangenheitsromantischen Intellektuellen als Gegenmacht inthronisieren. Doch zu seinen vielen Vorträgen jettet der global gefragte Denker in all jenen modernen Fluggeräten, auf die er als „technische Maschinen“ dann seine Entfremdungssorgen zurückführt. Man kann das linken Öko-Heideggerianismus nennen. Oder einen Linksschmittianismus, der in den USA nicht den Gegner oder Konkurrenten, sondern wirklich den altbösen Feind sieht.

Friedrich Wilhelm Graf, geboren 1948, ist Professor für evangelische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist der Autor von „Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur“ (2007) und „Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen“ (2013, beides bei C.H.Beck).

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