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Literatur Diktaturen

Folterer quälen freiwillig. Es macht ihnen Spaß

Die Lust an der Grausamkeit ist größer als alle moralischen Hemmungen. Drei neue Studien gehen dem Ursprung des Bösen nach.

Was ist das Böse, eine Gesinnung, eine Absicht, eine Handlung oder deren Konsequenz? Entspringt es einem Mangel an Gutem oder einem Übermaß an Gutherzigkeit? Ist es eine selbständige Kraft, die nie Gutes will und stets nur Übles schafft? Oder ist es lediglich eine verzeihliche Antwort auf Widrigkeiten und Misshelligkeiten, auf Elend und Unglück?

Ist das Böse klug oder dumm, verschlagen oder wahrhaftig? Verfolgt es einen Zweck oder hat es seinen Sinn in sich selbst? Ist das Böse ein ebenbürtiger Widersacher des Guten oder nur eine Hilfskraft in dessen Ordnung? Und wie groß ist das Heer der unerkannten Monstren und normalen Bösewichte, der üblen Gesellen und der Tugendwächter, die Böses tun, weil sie das Beste wollen?

Leidenschaft, die nur sich selbst kennt

Für Eugen Sorg, den weitgereisten Reporter mit psychiatrisch belehrtem Blick, ist die Antwort klar. Das Böse ist eine Leidenschaft, die nur sich selbst kennt. Es ist keine Folge pathogener Zustände, keine Ausgeburt von Verzweiflung und keine Rache für erlittenes Unrecht. Das Böse ist auf der Welt, seit Menschen sich dazu entschließen, Böses zu tun.

Die Übeltäter wissen genau, dass ihre Untaten unrecht sind. Aber der Spaß an der Grausamkeit ist größer als alle Hemmnisse. Bosheit ist durch keine Zivilisation zu tilgen. Menschen sind gewalttätig, nicht weil sie müssen, sondern wenn sie dürfen. Nicht soziale, seelische, politische oder kulturelle Umstände produzieren Gewalt. Sie eröffnen nur Gelegenheiten, welche die Subjekte allzu gern nutzen.

Das Böse und die Gewalt sind allgegenwärtig

Die Fratzen des Bösen sind vielfältig. Da ist der Krankenpfleger, der 24 Insassen mehrerer Seniorenheime ermordet, da sind fünf junge Berufsschüler, die zum Freitzeitvergnügen Passanten die Schädel einschlagen. Da sind die Vollstrecker, die Befehle ausführen, die gar nicht erteilt wurden, die eigenmächtigen Quälgeister, die Sorg einmal mehr in den serbischen Konzentrationslagern wiedergefunden hat.

Da sind die Marodeure in Somalia, im Südsudan, in Afghanistan, die Schlächter in Algerien, die islamistischen Selbstmordattentäter und ihre Auftraggeber. Und da ist der katholische Priester in Ruanda, der die betenden und weinenden Tutsi in seiner Kirche einschloss, einen Trupp Machetenträger zusammentrommelte und mit ihnen zum Gotteshaus zurückkehrte.

Spaß an der Schikane und Eigeninitiative

Sorgs Belege für die brutalen Potenzen des Gattungswesens sind erdrückend. Umso stärker ist sein Zorn auf die Verleugnung des Bösen, auf die Torheit falscher Hoffnung, die den medialen und akademischen Diskurs bestimmt. Sorgs Buch steht in der besten Tradition einer Kritik der Illusionen und Klischees. Der populäre Therapiekult glaubt beharrlich an die Heilbarkeit des Bösen.

Aber wer Gewalt auf die Autoritätsbindung williger Befehlsempfänger zurückführt, unterschlägt den Spaß an der Schikane und die Eigeninitiative der Mörder. Wer auf biografische Defizite oder soziale Umstände setzt, streicht die Verantwortung von Tätern, die sich ihre Gelegenheiten kaltblütig und planmäßig selber schaffen.

Und wer voller Empathie Terror und Attentate für die Sprache von Verzweifelten hält, der will nicht wahrhaben, dass die meisten Mörder weder arm, ausgegrenzt, ungebildet noch neurotisch sind. An religiösen Ideen berauscht sich kein Täter, aber fromme Ideen taugen zur Rechtfertigung des Gewaltrauschs.

Klammheimliche Bewunderung für Gotteskrieger

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So eröffnet der real existierende Islam der Gewalt ein weites Betätigungsfeld. Arglose Geister, die Politik als Gruppengespräch und Religionskritik als Sakrileg empfinden, werden Sorgs Befunde einmal mehr als "Panikmache" diffamieren. Gewiss ist die Politik der Grausamkeit keine islamische Spezialität.

Aber die Freudendemonstrationen nach den Anschlägen des 11. September 2001 reichten von Nigeria über Gaza bis zu den Philippinen. Die offene oder klammheimliche Bewunderung für Gotteskrieger grassiert in vielen Gesellschaften. In Algerien kostete der Kleinkrieg zwischen Militär und selbsternannten Religionskriegern 200.000 Tote.

Fast alle muslimischen Staaten sind folternde Diktaturen. Und die oppositionellen Geheimgesellschaften verfolgen eine bewegliche Vierfachstrategie: Beschwichtigung der ungläubigen Umwelt; Unterwanderung der Eliten, Wohlfahrtspolitik für die verarmten Massen; Terroranschläge zur Verbreitung von Unsicherheit und zur Festigung des Glaubens. Das Massaker ist ein Bekenntnis, mit dem Tod beginnt für den Täter das gute Leben unter dem Segen des Allmächtigen.

Gegenüber Sorgs Ermittlungen nehmen sich die Erläuterungen des Tübinger Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Günter geradezu beschwichtigend aus. Sie repräsentieren den therapeutischen Gewaltdiskurs nahezu in Reinkultur. Gewalttätigkeit ist danach keine Aktion, sondern eine Reaktion auf diverse psychische Notlagen.

Günters Materialbasis sind einige kurze Fallgeschichten sowie eine tiefenpsychologische Interpretation populärer Filmwerke wie "Sleepers", "Terminator" oder "Uhrwerk Orange". Immer sucht er nach dem seelischen Antrieb des Bösen, ohne indes über einen Begriff von Grausamkeit zu verfügen.

Gewalt gilt ihm durchweg als Abwehr unliebsamer Gefühle von Unterlegenheit, Schuld, Wertlosigkeit oder Verlassenheit. Die Attacke auf anderer Personen Leben oder Unversehrtheit erscheint als defensive Maßnahme des Selbstschutzes. Diese Erwägung ist von gespenstischer Akrobatik.

Wenn Aggression zum Schutzmanöver wird

Der Täter wird zum Opfer umgetauft, zum unverstandenen, ausgegrenzten, gedemütigten oder missachteten Außenseiter, der sein Gleichgewicht nur zu erlangen vermag, indem er andere malträtiert, schikaniert, quält und tötet. Überall sieht der therapeutische Diskurs unbewusste Abwehrmechanismen am Werke und verfällt doch selbst einem wohlvertrauten Reflex: der Verkehrung ins Gegenteil.

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Aggression wird zum Schutzmanöver erklärt, Schädigung zur Selbstheilung, Bosheit zum Appell an gütliche Fürsorge. Als überschritten jugendliche Gewalttäter die Grenze zum Bösen nur deshalb, weil sie sehnsüchtig darum betteln, dass ihnen jemand liebevoll Grenzen setzt. Und als verübte ein junger Brandstifter einen Anschlag gegen Ausländer, weil er durch die Avancen eines Teenagers zuvor in seiner Männlichkeit verunsichert worden sei.

Von unbewussten Konflikten geleitete Film-Helden

Auch Film- und Comic-Helden sieht Günter von unbewussten Konflikten geleitet. Der gelassene Rächer "Mundharmonika", alias Charles Bronson, in dem Western-Klassiker "Spiel mir das Lied vom Tod" wehrt angeblich unerkannte Schuldgefühle durch eine Identifikation mit dem Aggressor ab.

Batman soll vom Wunsch nach Selbstüberhöhung getrieben sein, seine Maskerade ist kein Schleier des Inkognito, sondern ein narzisstischer Schutzpanzer. Und Joker, diese Karikatur grinsenden Machtwahns, hält Günter allen Ernstes für einen Psychotiker, gezeichnet von einem bösen Vater, verzehrt von der Liebe nach einer misshandelten Frau.

Für das Gerechtigkeitsprinzip der Vergeltung hat der Autor ebensowenig Sinn wie für die Zweckmäßigkeit vieler Gewalttaten. Der kategoriale Unterschied von Motiv und Funktion, Grund und Ursache, Gewalt und Aggression ist ihm ebenso fremd wie die Mannigfaltigkeit der Affektlagen.

Gewalt kann mit Wut und ohne Wut begangen werden, aus Liebe oder Hass, Geiz oder Gier, Eifersucht oder Gleichgültigkeit, Kontrollwahn oder Freiheitsdrang. Weil das Gattungswesen nicht festgelegt ist, gibt es keine seelische Standardsituation, die einen Menschen zum Bösewicht stempeln würde.

Die meisten würden nie zur Waffe greifen

Wie viele Menschen weisen ebenfalls biografische Wunden auf, ohne im Traum daran zu denken, auch nur die Hand zu heben? Nichts zwingt einen enttäuschten Jugendlichen dazu, schwerbewaffnet in eine Schule einzudringen und ein Massaker anzurichten.

Zu Recht betont Günter, dass sich die Einhegung der Gewalt häufig gewalttätiger Mittel bedient. Rigorose Disziplin und dichotome Weltbilder können brutale Schikanen rechtfertigen. Auch die gänzlich sinnlose Gewalt ist ihm keineswegs entgangen.

Aber einen rechten Reim vermag er sich darauf nicht zu machen. Der therapeutische Blick verleugnet die Gewalt als Aktivität, den Exzess, den Lustzustand jenseits der Grenze. Und er hat keinerlei Sinn für den Ablauf der Gewalttat, in der psychische und soziale Tatsachen geschaffen werden, die in keinem Verhältnis zur Vorgeschichte stehen.

Der übliche Diskurs kreist um die Täter. Welche Folgen ein Gewalteinbruch für den Alltag in einer Kleinstadt hat, berichtet der Journalist Jochen Kalka aus Winnenden, dem Tatort eines Amoklaufs, bei dem im März 2009 sechzehn Menschen getötet wurden. In einer Art Tagebuch zeichnet Kalka nach, wie nach der Panik und Schockstarre der ersten Tage die kollektive Verstörung anhielt.

Sie betraf nicht nur die Hinterbliebenen und die Schulkinder, welche die Tat miterlebt hatten. Der soziale Kreis der Leidtragenden umfasste auch die fernere Verwandtschaft, die Nachbarn, Freunde, Bekannten sowie einige Helfer und Amtsträger, die sich um die Traumatisierten bemüht hatten.

Das Weltvertrauen vieler kann lange erschüttert bleiben

Neben Tätern, Opfern und Zuschauern hinterlassen Untaten auch eine Gesellschaft von Ohrenzeugen, deren Affektlage keineswegs mit der Sentimentalität stellvertretenden Fernmitleids zu verwechseln ist. Auch wer nicht dabei war, dessen Weltvertrauen kann lange erschüttert bleiben.

Ein Schulkind kennt die Schwester eines erschossenen Jungen, ein anderes hat dem Mädchen Nachhilfeunterricht erteilt, wieder andere treffen es regelmäßig im Sportverein, beim Einkauf oder auf dem Schulweg. Obwohl wenig geredet wird, bleiben die Kontakte überschattet von dem tödlichen Ereignis. Menschen registrieren subkutan die Ängstlichkeit ihrer Umwelt und fürchten bei geringsten Anlässen die Wiederkehr des Bösen.

Es genügt ein Reizwort, ein Feuerwerkskörper, einer Polizeisirene oder ein Gerücht, um Weinkrämpfe, Zittern, Schreianfälle oder Panik auszulösen. Bis in die Albträume der Unbeteiligten reicht die Macht des Bösen. Schon der unvermeidbare Weg am Tatort vorbei kann Menschen zurückkatapultieren in die angstvolle Vorstellung des Unheils.

Zu Trauer und Wut gesellt sich absolute Hilflosigkeit

Im Zentrum des Gewalttraumas steht die Erfahrung der Ohnmacht. Zu Trauer und Wut kommt das Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Gewalt kann derart terrorisieren, dass Menschen sich auf Dauer ausgeliefert fühlen. Die akute Panik verfestigt sich zu einer Angst vor der Angst.

Damit mag es zusammenhängen, dass Kalkas Chronik der Gefühlslage häufig durchbrochen wird von entrüsteten Anwürfen gegen dickfellige Apologeten von Killerspielen und Waffengesetzen, gegen Schützenvereine, die Jugendlichen Schießkünste beibringen.

Die Anklagen vermitteln das Gefühl, noch etwas ausrichten zu können, obwohl nichts auszurichten ist. Bedenkenswert bleiben dagegen Kalkas Beobachtungen zum rituellen Trauerzwang. Anberaumte Gedenkzeremonien können massiv gegen das Bedürfnis nach psychischer Sicherheit verstoßen.

Die Veranstaltungen spenden kaum Trost und reißen die Wunden erneut auf. Wo das Böse am Werk war, ist ein altes Gesetz der Gemeinschaft aufgehoben. Geteiltes Leid ist nicht halbes Leid, sondern neues, wiedererwecktes Leid.

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