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Hitlers kleines Bärtchen stammt aus Amerika

Freier Korrespondent
Adolf Hitler Nazi-Vergleich Politiker Chavez Gysi Adolf Hitler Nazi-Vergleich Politiker Chavez Gysi
Machte den Zweifingerbart untragbar: Adolf Hitler
Quelle: dpa
Fluchen ist böse und wird in US-Medien meist durch ein Piepen ersetzt. Doch es gibt noch größere Tabus: "Kann man heutzutage als Jude mit Hitlerbärtchen herumlaufen?", fragte sich ein New Yorker Intellektueller und stellte sich einem Selbstversuch.

Steven Pinker ist ein Psychologieprofessor in Harvard, ein Spezialist für Gehirnforschung und Meisterschüler von Noam Chomsky, mit dem er die Überzeugung teilt, dass die Sprache dem Menschen angeboren sei – Pinker redet von einem „Sprachinstinkt“ – und dass sie ihn vor den anderen Spezies dieses Planeten auszeichne. Jeder menschliche Dreijährige, so Pinker, sei ein solches Grammatikgenie, wie es auch ein ausgewachsener Schimpanse nie werden könne. Unterstellen wir für einen Moment, Pinker habe recht, dann bleibt immer noch die Fundamentalfrage: Wann fingen die Menschen an zu fluchen? Als sie begannen, an Gott zu glauben und Verträge zu schließen.

Fluchen und Gottlosigkeit

Angenommen, jemand will sich Geld leihen. Er verspricht hoch und heilig, dass er es zurückzahlen werde, kann aber keine Sicherheiten bieten – dann sagt er: „Gott möge mich blind werden lassen, wenn ich meine Schulden nicht begleiche.“ So entstand der englische Ausdruck „Blimey“, dem man etwa in den Harry-Potter-Romanen auf Schritt und Tritt begegnet. „Blimey“ ist eine Zusammenziehung von „God blind me“, Gott möge mich blenden.

Im Zuge der Säkularisierung, erklärt Steven Pinker in „The New Republic“, sei Gott durch anstößige Vokabeln ersetzt worden. Aus „I don't give a damn“, das noch deutlich theologisch imprägniert ist, wurde „I don't give a fuck“. Aus „Holy Mary“ wurde „Holy shit“. Der unfromme Wunsch „Damn you!“ verwandelte sich in das noch unfrommere „Fuck you!“. Die Rangordnung der anstößigen Vokabeln, die häufig Körperflüssigkeiten benennen, entspricht exakt der Reihenfolge, mit der man sich jener Körperflüssigkeiten in der Öffentlichkeit entledigen darf (Spucke geht gerade noch, Urin schon deutlich weniger; Exkremente sind überhaupt nicht erlaubt). Diese Abfolge wiederum entspricht der Gefährlichkeit der jeweiligen Substanz als Träger von Bazillen.

Was aber ist mit dem guten alten Sex? Warum wird er wenigstens in den angelsächsischen Ländern zu einer reich sprudelnden Quelle von Fluchwörtern? Weil es sich um eine risikobehaftete Tätigkeit handelt: Sex kann zu allen möglichen ungewollten Folgen führen (Kindern, Partnerschaften, Ansteckungen). Im amerikanischen Fernsehen werden schmutzige Wörter durch lautes Piepen übertönt; in den Zeitungen schreibt man sie nicht aus. Steven Pinker verteidigt diese Praxis, obwohl er kein Konservativer ist. Zwar könne das Fluchen, siehe Shakespeare, zu literarischen Meisterleistungen führen. Das menschliche Hirn sei aber so verdrahtet, dass man die Bilder und Gerüche, die Flüche in unserem Inneren hervorrufen, nicht ausschalten kann – und es sei fraglich, ob man seine Mitmenschen dazu zwingen sollte, an Urin, Exkremente oder Vergewaltigungen zu denken.

Deutsche Frauen gegen den Schrumpfbart

Wahrscheinlich gibt es nur eines, was noch schlimmer ist, als in der Öffentlichkeit zu fluchen: Man lässt sich ein Hitlerbärtchen wachsen. Just das hat Rich Cohen getan (in Deutschland würde ihm das wohl einen Konflikt mit dem Gesetz einbringen, in Amerika kann ihm das keiner verwehren). Als ordentlicher Rechercheur, der Cohen ist, hat er für „Vanity Fair“ die Geschichte des Zweifinger-Bartes ausgegraben. Offenbar handelte es sich ursprünglich um eine amerikanische Erfindung. Jene paar Haare, die man sich unter der Nase stehen ließ, waren die Erwiderung der USA auf die gewaltig ausgreifenden, die gewachsten Kaiser-Wilhelm-Bärte. Aus Amerika schwappte die Mode dann nach Europa hinüber. 1907 meldete die „New York Times“, deutsche Frauen seien zutiefst dagegen, dass jener Schrumpfbart den Platz des imposanten „Kaiserbartes“ usurpiere. Nichts Urdeutsches also! Man kann es auch anders ausdrücken: Das Zweifingerbärtchen gehörte Chaplin, bevor es Hitlers Eigentum wurde.

Rich Cohens Entschluss, sich unter der Nase nicht mehr zu rasieren, war nicht ausschließlich von schlechtem Geschmack diktiert. Er wollte ausprobieren, ob dieses Symbol wieder in den Zustand der historischen Unschuld zurückversetzt werden kann. Ist es möglich, als amerikanischer Jude mit einem Hitlerbärtchen sorglos durch New York spazieren zu gehen? Die Antwort lautet: Nein. Es ist wie bei den Assoziationen, die schmutzige Wörter im Gehirn dessen, der sie hört, unwillkürlich hervorrufen: Das Hitlerbärtchen hat zu viel Geschichte in sich aufgesogen. Es verhält sich wie mit dem Vornamen Adolf. Er ist kontaminiert, nicht mehr verwendbar. Immerhin hat Rich Cohen seinem fehlgeschlagenen Experiment aber eine einleuchtende geschichtliche Daumenregel abgewonnen: Wenn von zwei Staatsmännern einer einen Schnäuzer trägt, so postuliert er, dann wird wahrscheinlich der Bärtige einen Krieg anfangen – und diesen dann aus lauter Machismo verlieren.

Neue Ausreden der Neocons

Das Stichwort „Krieg“ führt uns pfeilgerade zu den „Neocons“. Jenes Kürzel für „neoconservatives“ ist ganz bestimmt eine Schmähung – aber wie es in der Geschichte der Politik so häufig geschieht, haben die Geschmähten sich das auf sie gemünzte Schimpfwort entwendet und mit Stolz wie eine Medaille ans Revers geheftet. So hielten es schon die „Sansculotten“ (die „Ohnehosen“), so hielten es bekanntlich die „Tories“ (Banditen) und die „Whigs“ (Pferdediebe). Als „Neocons“ wurden amerikanische Linksliberale beschimpft, die ungefähr seit der Präsidentschaft von Jimmy Carter mit ihren ehemaligen politischen Weggefährten brachen.

Die große Zeit der „Neocons“ war die Zeit Ronald Reagans. Anders als die gewöhnlichen Konservativen, die in der Sowjetunion nur ein weiteres mächtiges Land sahen, mit dem man ein Kräftegleichgewicht anstreben müsse, erblickten die „Neocons“ in der Sowjetunion einen totalitären Feind, den es zu besiegen galt – so wie einst Nazideutschland. Übrigens sind die „Neocons“ schon einmal für tot erklärt worden, wie Joshua Muravchik in „Commentary“ festhält, und zwar 1990. Kein Geringerer als Norman Podhoretz – der sozusagen der Inbegriff eines „Neocon“ ist – meinte damals allen Ernstes: Mission erfüllt, Kommunismus erledigt, abtreten. Aber dann kam der 11.September 2001, der weltweite Aufschwung islamischer Fanatiker, kurz und missverständlich gesagt: der nächste Totalitarismus.

Heute sind die „Neocons“ in Amerika nicht sehr beliebt, des blutigen Schlamassels im Irak wegen, für das man ihnen die Verantwortung zuschiebt. Zu Unrecht, findet Joshua Muravchik. Es gibt nur ein Argument gegen den Irakkrieg von 2003, das er gelten lässt: Man hätte sich statt um Saddams marodes Regime früher um den Iran kümmern müssen. (Dieses Argument stammt von Michael Leeden, der selbst ein „Neocon“ ist.) Muravchik erinnert aber daran, wie 2003 die Welt aussah: Es gab damals Grund zu der Hoffnung, dass sich im Iran die demokratische Opposition gegen die Mullahs durchsetzt – durch einen Militärschlag hätte man die Opposition wohl eher geschwächt. Und das irakische Regime hatte seit 1991 so gut wie alle Bedingungen des Waffenstillstandes verletzt, die ihm von den UN auferlegt worden waren. Mag sein, dass der Irakkrieg sich im Nachhinein als Fehler erweist, schreibt Muravchik, aber er war gewiss nicht schlimmer als die strategischen Fehler, die im Zweiten Weltkrieg gemacht wurden. Auf das Große und Ganze kommt es an.

Besuch bei einem Versehrten

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Nicht um das Große und Ganze, sondern um das Kleine und Gebrochene kümmert sich Christopher Hitchens: Er besuchte die Familie eines jungen Mannes, der sich als Freiwilliger für den Irak gemeldet hatte, nachdem er Kolumnen von Hitchens gelesen hatte. Mark Daily hieß er, und er starb im Januar, als eine Bombe seinen Jeep erwischte. Er war eher ein Linker (und Grüner) als ein Rechter, ein nachdenklicher Typ, der George Orwell las. Seine Familie trug Hitchens nicht nur nichts nach – sie lud ihn freundschaftlich zum Begräbnis ein. Hitchens dachte, als Mark Dailys Asche ins Meer gestreut wurde, an den Spanischen Bürgerkrieg – noch so ein gerechter Kampf, der gründlich danebenging. George Orwell hat darüber in „Mein Katalonien“ geschrieben. Und so dachte Hitchens an „die armseligen Politiker in Washington und Bagdad, die sich um den Vortritt zanken, während junge Menschen ihr Lebensblut vergießen, deren Stiefel zu putzen sie nicht wert sind“.

The New Republic, 8. Oktober
Vanity Fair, November 2007
Commentary, Oktober 2007

Hannes Steins Webblog unter:

welt.de/nyc

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