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Deutschland Aktenfund

Schrieb die Stasi bei Wallraffs "Ganz unten" mit?

Günter Wallraff steht seit Langem im Verdacht, für die Stasi gearbeitet zu haben. Er hat es stets bestritten, doch verborgene Akten lassen nun nicht nur ihn in zweifelhaftem Licht erscheinen.

Langley, Virginia: Es regnet, der Wind weht steif an diesem Frühlingsmorgen, der Himmel ist verhangen. Ein grauhaariger Mann in dunklem Anzug und weißem Hemd geht durch den Empfangssaal, seine Schritte hallen, als er über das große Siegel mit dem Weißkopfseeadler schreitet. Central Intelligence Agency steht darunter, CIA, einer der mächtigsten Geheimdienste der Erde. Alles, was die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Ausland wissen muss, wird von Tausenden Agenten weltweit hierher gebracht und ausgewertet. Vieles bleibt geheim.

Der Gast an diesem Morgen im April des Jahres 1993 kommt aus Deutschland, und auch er zählt im Nachrichtendienstgeschäft zu den wichtigsten Männern. Bernd Schmidbauer, 53 Jahre alt, ist der Geheimdienstkoordinator der Regierung Helmut Kohl (CDU). Seine Mission ist eine der heikelsten und schmerzlichsten der Nachkriegszeit für die deutsch-deutsche Geschichte. Die CIA hatte in den Jahren nach dem Mauerfall eine Liste erbeutet, die die Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten sehr beschäftigen wird.

Der Mann, den sie "008" nannten

Es ist die Liste, auf der die Namen aller Spione des DDR-Auslandsgeheimdienstes zusammengefasst sind, die noch kurz vor Mauerfall aktiv waren. Auch diejenigen, die als Bundesbürger für die Abteilung des legendären Spionagechefs Markus Wolf gearbeitet haben. Deutschland will diese Liste haben, und Schmidbauer soll sie holen.

Die Männer und Frauen entlarven, die die Vorzüge der Bundesrepublik genossen und gleichzeitig der Diktatur hinter dem Eisernen Vorhang konspirativ zu Diensten waren. Helmut Kohl vertraut in solchen Angelegenheiten nur seinem Mann fürs Geheime, von Feinden und Freunden wegen seiner vielen riskanten Missionen respektvoll auch "008" genannt.

Schmidbauer wird in diesen Tagen wichtige Vertreter des amerikanischen Auslandsnachrichtendienstes treffen. Die CIA ist in einer komfortablen Situation. Während in Deutschland fast alle Akten der Auslandsspionage-Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nach der Wende vernichtet wurden, sicherten sich die Amerikaner eine der wichtigsten Dateien.

Der Plan beider deutschen Regierungen, das Kapitel Spionage für alle Ewigkeit im Schredder zu schließen, schlug fehl. Die US-Agenten hatten die Datei mit den mikroverfilmten Karteien. Peinlich für die Bundesrepublik, dass sie über die Agenten so gut wie nichts wusste, deren Wirken in der CIA-Zentrale in Langley bis ins kleinste Detail analysiert wurde.

Die Aktion "Rosenholz"

Die Zeit sitzt Bernd Schmidbauer bei seinem Besuch im Nacken. Denn in Deutschland verjährt der Straftatbestand der "geheimdienstlichen Agententätigkeit" nach fünf Jahren. Bonn will die Verräter zur Rechenschaft ziehen.

Und vorbauen – denn es ist nicht auszuschließen, dass die CIA versuchen wird, Stasi-Agenten zu "drehen", also zu erpressen, um sie für eigene Interessen zu nutzen. Schließlich stimmen die Amerikaner zu, den Deutschen winzige Einblicke zu gewähren. Schmidbauer darf eine Delegation aus hochrangigen Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zusammenstellen, die die wichtigsten Dateien der bis zuletzt aktiven IM abschreiben können. Eine mühsame Arbeit.

Die Aktion wird später unter dem Namen "Rosenholz" bekannt. Sie führte mit zur Enttarnung hochkarätiger Ost-Agenten, die es in die sensibelsten Bereiche wie Militär, Politik, Medien und Wissenschaft gebracht hatten.

Die Enthüllungen der "Welt"

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In jenen Dateien steht auch der Name eines der bekanntesten Journalisten der Bundesrepublik: Günter Wallraff. Das wurde allerdings erst gut zehn Jahre später bekannt, als es unsere Tageszeitung die "Welt" enthüllte. Damals, im Jahr 2003, hatte Amerika die letzten Datenträger gerade an die Behörde für die Unterlagen der Staatsicherheit übergeben. Und nach einem anfänglichen Dementi musste die Behörde bestätigen, dass Wallraff dort in der IM-Kategorie "A-Quelle" (Abschöpfquelle) mit dem Decknamen "Wagner" auftaucht.

Hinweise auf eine aktive Tätigkeit als IM "Wagner", hieß es in der damaligen Pressemitteilung schließlich, "liegen für den Zeitraum 1968 bis 1971 vor". Günter Wallraff bestreitet dies.

Ein Schock. Wochenlang wurde anschließend in der Öffentlichkeit die Frage diskutiert, ob der kritische Journalist bei seinen Aktionen an der langen Leine des ostdeutschen Geheimdienstes gelaufen war. Günter Wallraff galt schließlich als der Enthüllungsautor, der sich für Unterdrückte engagierte und Missstände aufdeckte.

Eine Ikone des bundesrepublikanischen Journalismus. Und seine Art der Recherche, andere Identitäten anzunehmen, sich bei Industriebetrieben als Arbeiter anstellen zu lassen, als Türke "Ali" bei verschiedenen Firmen oder als "Hans Esser" bei der "Bild"-Zeitung einzuschleichen, hatte ihm auch international Anerkennung eingebracht.

Das Verb "wallraffa" bzw. "wallraffe"

Sein Buch "Ganz unten", das Menschenrechtsverletzungen und Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik der frühen 1980er-Jahre an den Pranger stellte, hatte sich allein in Deutschland mehr als vier Millionen Mal verkauft und war in mehr als 30 andere Sprachen übersetzt worden. In Schweden und Norwegen wird seitdem gar das eigene Verb "wallraffa" bzw. "wallraffe" verwendet, es wurde in die Ausgabe der Wortliste der Schwedischen Akademie aufgenommen.

"Ganz unten" avancierte zur Standardlektüre in Schulen. Auch der Film zu dem Buch fand weltweit Beachtung und gewann zahlreiche Preise. Günter Wallraff wurde zum Vorbild für Generationen junger Journalisten. Er ist es, in gewisser Weise, bis heute geblieben.

Trotz des Verdachtes einer Zusammenarbeit mit der Staatsicherheit, der schon Anfang der 1990er-Jahre zum ersten Mal aufgekommen war, durch Artikel in den Zeitschriften "Focus" und "Super". Und sogar trotz der Aufdeckung von 2003, die um die Erwähnung Wallraffs in den Rosenholz-Dateien kreiste und wenig Zweifel an einer Nähe Wallraffs zur DDR-Staatsicherheit ließ.

Verbindung zur "Zentrale": Ein Schreiben, das die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme für den IM "Fischer" auflistet
Verbindung zur "Zentrale": Ein Schreiben, das die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme für den IM "Fischer" auflistet
Quelle: bstu
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Tatsächlich gibt es nun Hinweise, die diese Nähe einmal mehr bestätigen. Sie stammen aus zahlreichen Akten und Unterlagen, die jahrzehntelang in den Archiven der Stasi-Unterlagen-Behörde verborgen lagen. Sie lassen nicht nur Günter Wallraffs Verhältnis zur DDR und deren Staatssicherheitsdienst in einem sehr zweifelhaften Licht erscheinen, sondern auch und vor allem – ausgerechnet – das erfolgreichste Buch des Autors: seinen Bestseller "Ganz unten". Und sie legen nahe, dass es bei Weitem nicht nur um den "Zeitraum von 1968 bis 1971" geht.

IM "Wagner" und IM "Hajo"

Berlin, 1975: Günter Wallraff ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten der Bundesrepublik. Seine Reportagen über seine Erfahrungen als Arbeiter in deutschen Großbetrieben haben ihn berühmt gemacht.

Im Jahr zuvor hat er über die Grenzen der BRD hinaus Aufsehen erregt, als er sich im Protest gegen die griechische Militärdiktatur in Athen an einen Laternenpfahl kettete und anschließend verhaftet wurde. Das entsprechende Buch erscheint nun. Ein Konzern, in dem Wallraff zwei Monate als Bote gearbeitet hatte, strengt gerade einen Prozess gegen den Autor an.

Und die HVA – die Hauptverwaltung Aufklärung, also der Auslandsnachrichtendienst der DDR, Abteilung X "Aktive Maßnahmen" –, bei der Wallraff als IM "Wagner" verzeichnet ist, beschäftigt sich mit dem Umfeld des Autors, auch dem privaten. Zu dem gehört offenbar auch ein wichtiger weiblicher IM mit dem Decknamen "Hajo".

Nach den vorliegenden Unterlagen hat "Hajo" eine beginnende Beziehung zu dem West-Schriftsteller. Just, als die Sache ernster wird, beginnt sich die Abteilung X für die Frau zu interessieren, das geht aus einem Bericht in ihrer Stasi-Akte hervor. Der Staatssicherheitsdienst drängt sie dazu, die Beziehung zu beenden. Er wollte offenbar unter keinen Umständen eine Ost-West-Beziehung von zwei als IM geführten Personen zulassen.

Sollte ein nachrichtendienstliches Juwel geschützt werden?

"Es wird vorgeschlagen, auf die IM dahingehend einzuwirken, den Kontakt zu W. zu beenden, indem sie auf den lockeren Lebenswandel von W. und die zu erwartende Enttäuschung hingewiesen wird." An anderer Stelle wird ergänzt: "Zusätzlich wurde durch die Abteilung X bekannt, dass Hajo sich mit […] trägt und von ihrer Arbeitsstelle vor die Alternative gestellt wurde, entweder die Beziehung zu W. zu lösen oder aus dem Palast der Republik auszuscheiden."

Dort war "IM Hajo" hauptberuflich beschäftigt. Die Stasi kommt im Dezember 1975 zu dem Ergebnis, vorerst die Zusammenarbeit mit "Hajo" zu beenden. Dafür werden verschiedene Punkte genannt. Einer von ihnen: "Drittens sei ihre selbst gewählte Bindung zu dem westdeutschen Schriftsteller Wallraff eine operativ hemmende Verbindung, die Probleme unserer Zusammenarbeit aufwirft, die vorerst unlösbar erscheinen."

Sollte hier ein nachrichtendienstliches Juwel geschützt werden? Befürchtete die Stasi, dass der Kontakt zu "Hajo" ihre Beziehung zu Wallraff beeinflussen könnte? Die ehemalige IM "Hajo" möchte sich heute nicht dazu äußern. "Mein damaliger Kontakt zu Herrn Wallraff war eine absolut persönliche Sache", sagt sie. Eine Privatangelegenheit, über die sie nicht spreche.

Deckname "Herbert Hildebrandt"

Günter Wallraff selbst hatte aber offenbar in diesen Jahren weitgestreute Interessen. Denn aufgetaucht ist auch ein Brief von dem Leiter der Stasi-Hauptabteilung XX an den Chef der für Desinformation zuständigen Abteilung HVA X, der ebenfalls im Archiv der Behörde lag und jetzt erstmals an die Öffentlichkeit kommt.

In dem Schreiben vom 31. März 1981 wird Bezug genommen auf Wallraff, der auch dort als "erfasst für HVA X" genannt wird. Es geht um eine Information, die ein IM mit dem Decknamen "Herbert Hildebrandt" – ein Bezirksverordnetenvorsteher aus Berlin-Charlottenburg – erfahren haben will.

Der IM will damals von einem britischen Agenten gehört haben, dass sich Wallraff einige Jahre zuvor beim US-amerikanischen Geheimdienst CIA beworben habe, was allerdings abgelehnt worden sei. Der ehemalige Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer, der Mann also, der damals in Virginia die Abschrift der "Rosenholz-Dateien" anstieß, findet diesen Aktenfund sehr interessant. "Warum sollten zwei wichtige Abteilungsleiter des Ministeriums für Staatssicherheit im Jahr 1981 sich miteinander über Günter Wallraff verständigen, wenn er für sie keine operativ wichtige Rolle spielte?"

Auf Lesereise in der DDR

Aber es ist nicht nur die sehr wahrscheinliche Nähe zu Geheimdiensten, die vermuten lässt, dass Günter Wallraff ein eher freundschaftliches Verhältnis zur DDR hatte. Einige Jahre später, im Frühjahr 1987, fuhr er mit seinem berühmten Buch "Ganz unten" auf Lesereise in die DDR.

Dabei war er Ende März im Suhler Kulturhaus "7. Oktober" zu Gast, wo er in einem Podiumsgespräch das Buch und den dazugehörigen Film vorstellte. Die DDR-Zeitung "Freies Wort" war damals durchaus angetan von dem Besuch: "Erste Station der Lesereise Günter Wallraffs durch einige Städte dieser Republik war diese Woche Suhl.

Wie wir bereits berichteten, fand das Podiumsgespräch zu Buch und Film 'Ganz unten' im Kulturhaus 7. Oktober großes Interesse." Dazu stellte das Blatt auch ein Kurz-Interview mit Günter Wallraff zu seinen Eindrücken in der DDR unter der Überschrift "Hier gelten wirkliche Werte des Menschseins".

Wallraff wird darin unter anderem mit folgenden Sätzen zitiert: "Ich möchte zuallererst die wirklichen Werte im Zusammenhang der Menschen nennen. Der Umgang mit einander ist aggressionsfrei, freundlicher als bei uns. Was das Klima bei uns vergiftet, ist hier nicht vorhanden. Diese Werte kann man nicht genug propagandistisch darstellen." Natürlich war auch die Staatssicherheit mit von der Partie, ein entsprechender Bericht liegt vor.

Bevorzugte Behandlung

Die DDR-Behörden hatten damals einiges dafür getan, dem Schriftsteller die Reise möglichst reibungslos zu gestalten. So war dafür gesorgt, dass der Schriftsteller bei der Einreise in den Arbeiter-und-Bauern-Staat eine Sonderbehandlung erhielt.

Laut einer Grenz-Avisierung aus dem März 1987 sollte Günter Wallraff am 22. März über den Bahnhof Friedrichstraße ein- und am 31. März 1987 wieder ausreisen. Der ostdeutsche Geheimdienst wies schriftlich an, dass Wallraff "betont höflich und bevorzugt, ohne Zollkontrolle und vom Mindestumtausch und den Visa-Gebühren" befreit die DDR betreten durfte.

Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte er sein Buch "Ganz unten" in der Akademie der Künste in der DDR vorgestellt. In einem Vermerk des Ministeriums für Staatssicherheit heißt es: "Das Vorhaben ist durch die Leitung der Akademie der Künste mit zentraler Stelle abgestimmt." Die DDR-Medien seien zugelassen worden, die westlichen allerdings nicht. "Die Veranstaltung wird durch operative Mitarbeiter sowie IM/GMS abgesichert."

Der Top-Spion

"Ganz unten" hat auch in der DDR Erfolg. Wie überall. Die erste Auflage war im Oktober 1985 erschienen, Wallraff hatte zuvor zwei Jahre lang dafür recherchiert, undercover. Hatte als Türke "Ali" verkleidet unter anderem in einem Fast-Food-Restaurant gearbeitet, auf einer Großbaustelle und bei Thyssen – und dabei täglich Demütigung und Hass selbst erlebt, wie er schrieb.

Allein in den ersten Wochen wurden Hunderttausende Exemplare des Buches verkauft. Aber schon zwei Jahre später fiel auch der erste Schatten auf den Erfolgsautor und sein Werk. Zwei junge Türken, die ihn bei der Arbeit an dem Buch unterstützt hatten, gaben dem "Spiegel" Interviews, in denen sie Wallraff als "Mann mit einem Doppelgesicht" beschrieben, der sich seinen Mitarbeitern gegenüber ganz und gar nicht wie der Menschfreund verhalte, als der er sich in der Öffentlichkeit darstellte. Ganz im Gegenteil.

Ali Levent Sinirlioglu, der Wallraff damals auch seine Identität geliehen hatte, fand unmissverständliche Worte: Ungleicher und undemokratischer als Wallraff könne man seine Mitarbeiter nicht behandeln, sagte er dem Magazin. Tatsächlich war allein die Existenz dieser "Mitarbeiter" nicht jedem bekannt gewesen. Sinirlioglu erzählte damals im Interview, dass nicht alle Erfahrungen "Alis" von Wallraff selbst erlebt worden wären. Und er war nicht der Einzige, der das sagte.

Der Journalist Uwe Herzog etwa erklärte ebenfalls, Wallraff sei längst nicht der alleinige Autor von "Ganz unten" gewesen. Neben sich selbst führte er als einen wichtigen Mitautor auch den Journalisten Frank Berger an. Jenen Frank Berger aber weisen Stasi-Akten als mutmaßlichen Agenten des DDR-Geheimdienstes aus. Er wurde bis zuletzt, bis zur Wende als IM geführt. Als IM, dessen Berichte offenbar so wichtig waren, dass sie bis an Erich Honecker gingen. Ein Top-Spion.

Günter Wallraff bedankt sich

1987, BRD/DDR: Die Dresdener Auslandsaufklärung der Stasi führt Frank Berger in ihren Unterlagen als IM "Fischer". In einer Kurzauskunft zu "Fischer" vom 6. Oktober 1987 heißt es in den Akten: "Im Zusammenhang mit der Herausgabe des Buches 'Ganz unten' im September/Oktober 1985 war der IM innerhalb der Bearbeitung verschiedener Fälle der Arbeit mit Leih-Arbeitern in der BRD selbst mit eingesetzt, bediente sich dabei auch 'wallraffscher' Methoden (Arbeit mit anderen Namen, äußerliche Veränderungen, Arbeit mit Leih-Arbeitsverhältnissen). Er schrieb selbst einige Kapitel dieses Buches."

IM "Fischer": Auszug aus der Stasi-Akte zu Frank Berger, der seit 1978 von der Dresdener Auslandsaufklärung geführt wurde
IM "Fischer": Auszug aus der Stasi-Akte zu Frank Berger, der seit 1978 von der Dresdener Auslandsaufklärung geführt wurde
Quelle: bstu

Tatsächlich bedankt sich Günter Wallraff in seinem Buch "Ganz unten" gleich auf den ersten Seiten bei Frank Berger. Und Berger selbst veröffentlichte später das Buch "Thyssen gegen Wallraff – Chronik einer politischen Affäre". Er schrieb darin: "Ich habe diese Auseinandersetzung von Anfang an miterlebt, zunächst als 'Betroffener', später als Zeuge und Informant.

Seit Februar 1984 – Günter Wallraff befand sich seit einem Jahr in seiner Rolle als Türke Ali – war ich an der Vorbereitung des Buches 'Ganz unten' beteiligt, als juristischer Zeuge auf einer Kölner Großbaustelle und auch einige Wochen bei Thyssen. […] Denn eines hat die Auseinandersetzung um das Buch 'Ganz unten' ganz sicherlich deutlich gemacht: Kritischen Journalismus brauchen wir heute mehr denn je […]" Und die Staatssicherheit weiß noch mehr zu berichten: "Für Oktober 1987 bis ca. Oktober 1988 will er gemeinsam mit G. Wallraff bei Kiepenheuer und Witsch einen zweiten Teil von 'Ganz unten' herausbringen." Es erscheint tatsächlich eine zweite Auflage von "Ganz unten" mit einer Dokumentation der Folgen, die laut Buch unter Mithilfe von Berger verfasst wurde. Dort wird Berger darüber hinaus auch als juristischer Berater Wallraffs bezeichnet. Laut Stasi-Akte wurde Berger für seine Mitarbeit bei "Ganz unten" auch bezahlt. Von wem bleibt offen.

Frank Berger hatte bereits 1983 zusammen mit anderen Autoren das Buch "Wenn BILD lügt – kämpft dagegen" verfasst. Das Vorwort schrieb damals Günter Wallraff. Bereits zu dieser Zeit war Frank Berger laut der Stasi-Akten als IM verzeichnet. Schon seit einigen Jahren.

Karten mit grünem Kugelschreiber

1977 soll er demnach bei einem Urlaub mit seiner Frau von einem Stasi-Pärchen angesprochen und ein Jahr später geworben worden sein – zunächst offenbar unter der Legende, dass sie für den Ministerrat der DDR arbeiten würden. In einer internen Stasi-Auskunft aus dem Jahr 1986 heißt es, dass die Stasi den IM "Fischer" 1978 geworben hatte.

Die Einschätzung des IM fällt durchweg wohlwollend aus: "Fischer hält Konspiration und Geheimhaltung ein, kann mit operativen Legenden arbeiten. Treffdisziplin und Zuverlässigkeit in unpersönlichem Verbindungswesen sind sehr gut ausgeprägt", steht in der Kurzauskunft. Und IM "Fischer" versteht sein Handwerk offenbar. Dass der Beziehungspartner hier die Stasi war, müsste Berger klar gewesen sein. Laut der Unterlagen wurden Verstecke in Zugtoiletten, Geheimschreibmittel, Deckadressen, Chiffre und Geheimcodes eingesetzt.

In schwierigen Lagen etwa sollte der IM bestimmte Botschaften übermitteln. In einem Verbindungsplan des IM "Fischer", der am 13. April 1984 in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Dresden verfasst wurde, heißt es beispielsweise: "Im Falle von Gefahrensituationen, die zur zwischenzeitlichen Einstellung bzw. Unterbrechung der operativen Arbeit führen, kann der IM inhaltlich belanglose Karten mit grünem Kugelschreiber an […] senden. Ansichtskarte – aus beruflichen oder anderen Gründen (keine Sicherheitsgründe) muss IM die Verbindung vorübergehend einstellen. Geburtstagskarte – Schwierigkeiten, aus Sicherheitsgründen momentan keine Aktivitäten möglich. Klappkarte – große sicherheitsrelevante Probleme, jegliche Aktivitäten operativer Art eingestellt. Bei Abbruch der Verbindung nimmt der IM nach Klärung der Lage selbst wieder den Kontakt auf."

Die meisten Unterlagen wurden vernichtet

Helmut Müller-Enberg, einer der wichtigsten Forscher der Stasi-Unterlagen-Behörde und Enthüller der Stasi-Tätigkeit des West-Berliner Polizisten, der den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, hat sich ausführlich mit der Ausstattung von Agenten beschäftigt. Vergleicht man seine Erkenntnisse über die Ausstattung von Stasi-Agenten mit nachrichtendienstlichen Hilfsmitteln mit den Unterlagen, die zu IM Fischer vorliegen, so muss man zu dem Schluss kommen, dass IM Fischer alle konspirativen Werkzeuge zur Verfügung standen, die der DDR-Geheimdienst zu bieten hatte.

Wie der Großteil der Spionageakten, wurden wohl auch die meisten Unterlagen zum IM "Fischer" vernichtet. In denen, die überliefert sind, wird allerdings nicht nur seine Zusammenarbeit mit Wallraff beschrieben. Es finden sich auch zahlreiche sehr relevante Informationen zur politischen Landschaft der Bundesrepublik.

Allein in den der "Welt am Sonntag" vorliegenden Akten sind mehr als 50 elektronisch überlieferte Berichte von IM "Fischer" vorhanden, etliche davon so bedeutend, dass sie bis an die Staatsspitze und Erich Honecker weitergereicht wurden. So lieferte er unter anderem Auffassungen führender SPD-Funktionäre zu der Raketenstationierung in der BRD, insbesondere zum Beschluss des SPD-Parteitages 1979. Außerdem gab er Einschätzungen zur Entwicklung des innenpolitischen Kräfteverhältnisses in der BRD, Positionen von SPD-Bundestagsabgeordneten zum Treffen zwischen Helmut Schmidt mit Erich Honecker, und spionierte die Aktivitäten der Jungsozialisten gegen den Axel Springer Verlag aus.

Frank Berger, der heute als Dozent für Journalismus arbeitet, war für eine Stellungnahme trotz mehrfacher Versuche nicht zu erreichen.

Ein "altes Stasi-Gerücht"

Wenn aber ein Mitarbeiter Wallraffs ein mutmaßlicher Top-Spion des DDR-Regimes war – was bedeutet das für den Bestseller "Ganz unten"? Hatte der DDR-Geheimdienst seine Hände mit ihm Spiel bei der Entstehung des Buches – und anderer? Kann es wirklich sein, dass Günter Wallraff nichts davon wusste, mit wem er da zusammenarbeitete? Und in welcher Beziehung stand Günter Wallraff selbst zum MfS, als er "Ganz unten" veröffentlichte?

Günter Wallraff selbst sagt dazu, es habe mit Frank Berger nie eine publizistische Zusammenarbeit gegeben. Berger habe lediglich für ihn recherchiert. Und von dem Stasi-Verdacht gegen Berger habe er keine Kenntnis gehabt. Und er sagt, er habe nie "wissentlich und willentlich" mit der Stasi zusammengearbeitet. Er sei abgeschöpft worden. Und seine mutmaßliche Bewerbung bei der CIA sei ein "altes Stasi-Gerücht".

Der ehemalige Ex-Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer ist sich sicher: "Das Puzzle fügt sich trotz zahlreicher vernichteter Akten zusammen und ergibt eine völlig neue Sicht auf die damalige linke Bewegung in der Bundesrepublik." Er bleibt vorsichtig. Und dennoch sind für ihn Wallraffs Erfassung auf der Rosenholz-Datei und dazugehörigen Unterlagen ein klares Indiz für eine konspirative Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit: "Rosenholz hat nie gelogen."

Hilfe von westdeutschen Bürgern

Auch Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, sagt: "Die Aufarbeitung des Wirkens der Stasi ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Selbst die nur lückenhaft vorhandenen Unterlagen zur Westarbeit der Stasi zeigen immer wieder, wie wichtig es der DDR war, auf die westdeutsche Politik in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen. Dazu hat die Stasi die Hilfe westdeutscher Bürger gesucht und immer wieder auch Helfer gefunden. Es ist wichtig, dass die, die beteiligt waren, die als Mitarbeiter der Staatssicherheit oder die unter der Regie der Stasi gehandelt haben, zur Aufarbeitung beitragen und ihre Karten auf den Tisch legen."

Aber die Klarheit der Indizien ist immer eine Frage der Perspektive. Vergleichweise eindeutige Hinweise gab es bereits 2003. Stets von Günter Wallraff selbst bestritten, sollten sie sich bereits vor zwei Jahren erhärten.

Es ging damals auch um eine Reise ins dänische Kopenhagen, bei der sich Günter Wallraff mit dem DDR-Bürger Heinz Gundlach getroffen hatte – laut Aktenlage der Stasi-IM "Friedhelm", der laut Auskunftsbericht als Instrukteur des Schriftsteller agierte. Um diese Reise ging es auch in dem auf die Berichterstattung in der "Welt" folgenden Rechtsstreit zwischen Günter Wallraff und der Axel Springer AG. Im Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichtes aus dem Jahr 2006, in dem auch dieser Zeitung untersagt wurde, Wallraff als IM zu bezeichnen, heißt es: "Die Umstände des Treffens des Klägers mit Dr. Gundlach am 17. Dezember 1971 in Kopenhagen stützen […] – mehr als alle anderen Indizien – den Verdacht, dass der Kläger als IM mit dem IM Dr. Gundlach konspirativ zusammengearbeitet hat, reichen aber dennoch nicht aus, auch die subjektive Seite dieser Zusammenarbeit auf Seiten des Klägers zu beweisen." Was dem Gericht in ebendiesem Jahr allerdings noch nicht vorlag, waren die Ergebnisse einer Observation des dänischen Nachrichtendienstes PET, der auf das Treffen zwischen Günter Wallraff und dem DDR-Bürger Heinz Gundlach an diesem Tage in Dänemark angesetzt worden war.

Journalisten aus Ost und West

Kopenhagen 1971: Zwei Männer treffen sich am frühen Nachmittag im Kopenhagener Hotel "Regina". Beide sind Journalisten. Der eine heißt Heinz Gundlach, kommt aus Rostock und ist mit falschen Papieren unter dem Namen Heinz Guntermann hierher gereist. Der andere heißt Günter Wallraff.

Er wird später stets versichern, sich zwar mit dem Journalisten der "Ostsee-Zeitung" getroffen zu haben, allerdings zu einem Gespräch, das keinen konspirativen Charakter gehabt habe. So schrieb Wallraff etwa 1998 an die Stasi-Unterlagen-Behörde in einer Gegendarstellung zu einem 1976 verfassten Auskunftsbericht seines mutmaßlichen Führungsoffiziers Heinz Dornberger: "Bei dem Gespräch in Kopenhagen, übrigens in Beisein meines dänischen Verlegers und einer schwedischen Kollegin, ging es unter anderem um ein Interview für die 'Ostsee-Zeitung' und ein geplantes Theaterstück für das Berliner Ensemble der Helene-Weigel (Nachspiele II) und eine eventuelle Inszenierung von H. A. Perten im Rostocker Volkstheater."

Journalisten aus Ost und West unterhalten sich über kulturelle Angelegenheiten, und das im Beisein von Freunden – diese Version wiederholte Wallraff auch im erwähnten Prozess gegen den Springer-Verlag. Dabei hatte bereits damals der mutmaßliche Stasi-Instrukteur Heinz Gundlach von einem Treffen zu zweit gesprochen. Und es spricht einiges dafür, dass es diese Version der Geschichte ist, die stimmt.

Wallraff traf sich keineswegs in größerer Gesellschaft

Denn das Treffen in Kopenhagen blieb nicht unbeobachtet. Die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden hatten den dänischen Nachrichtendienst PET gebeten, Wallraff zu beobachten, weil er damals im Verdacht stand, die Rote-Armee-Fraktion (RAF) zu unterstützen. Den Wissenschaftlern Thomas Wegener Friis und Helmut Müller-Enbergs gelang es vor drei Jahren erstmals, die entsprechenden Dokumente des PET einzusehen.

Informationsaustausch "zwischen Genossen": Der Brief mit dem Hinweis, Günter Wallraff habe sich ohne Erfolg beim US-Geheimdienst beworben
Informationsaustausch "zwischen Genossen": Der Brief mit dem Hinweis, Günter Wallraff habe sich ohne Erfolg beim US-Geheimdienst beworben
Quelle: bstu

Das Observationsergebnis der Agenten: Wallraff traf sich keineswegs in größerer Gesellschaft, sondern allein mit dem Rostocker Heinz Gundlach. Die dänischen Nachrichtendienstler hielten laut den Aufzeichnungen der Wissenschaftler fest, dass sich beide Männer zwischen 14.22 und 16.26 Uhr allein in Zimmer 9 des Hotels "Regina" aufhielten.

Was dort tatsächlich besprochen wurde, konnten die westdeutschen Sicherheitsbehörden schon wenige Tage später genau rekonstruieren. Denn Heinz Gundlach, der angeblich harmlose Journalist aus der DDR, wurde einen Tag nach dem Treffen in Hamburg verhaftet. Bei ihm fanden Ermittler schriftliche Aufzeichnungen und offenbar von Wallraff übergebenes Material zu aktuell wichtigen Themen.

Die Bewertung des Hanseatischen Oberlandesgerichts

Das Hanseatische Oberlandesgericht wertete bereits 2006 für Wallraff belastend "insbesondere die Tatsachen, dass der Kläger einen Brief mit dem Hinweis auf einen Kellner, der Helmut Schmidt bedient hatte, dorthin mitnahm, und das Dr. Gundlach diesen Brief auf der Rückreise bei sich hatte sowie der den Brief betreffende wechselnde Vortrag des Klägers […] Gestützt wird ein Verdacht der Konspiration hingegen durch den im Postskriptum des Briefs enthaltenen Hinweis auf einen möglichen Kontakt, der öfter Helmut Schmidt bedient hat; denn schon nach allgemeiner Lebenserfahrung war anzunehmen, dass eine derartige Kontaktmöglichkeit in das soziale Umfeld des damaligen Verteidigungsministers der Bundesrepublik den Geheimdienst der DDR interessieren würde."

Dass es sich tatsächlich um ein konspiratives Gespräch handelte, wird wiederum durch Aktenfunde gestützt.

Gundlach hatte vor Gericht das Treffen zu zweit zwar bestätigt, dort und in einem Zeitungsbeitrag der "Ostsee-Zeitung" im Jahr 2004 aber bestritten, jemals Stasi-Mitarbeiter gewesen zu sein. Tatsächlich aber heißt es in einem Schreiben der Staatssicherheit zur Verleihung der Verdienstmedaille der NVA in Silber: "Genosse Dr. Gundlach unterstützt in seiner Tätigkeit vorbehaltlos unter Wahrung der Konspiration auf vielfältige Art und Weise das MfS bei der Realisierung sicherheitspolitischer Probleme und politisch-op. Einzelaufgaben. Dabei entwickelt er Eigeninitiative und informiert über operativ-relevante Sachverhalte selbstständig das MfS. Gen. Dr. Gundlach war IM der HVA. Im Dezember 1971 weilte er im Auftrag des MfS in der BRD. Am 18. 12. 1971 wurde er in Hamburg verhaftet und am 28. 3. 1972 wieder entlassen. Von dem zuständigen Mitarbeiter der HVA wurde die Zusammenarbeit mit Gen. Dr. Gundlach positiv eingeschätzt."

Der Offizier im besonderen Einsatz

Die Akten sprechen im Fall Heinz Gundlach also eine durchaus klare Sprache. Und das tun sie auch in Bezug auf Günter Wallraff in einem Auskunftsbericht aus dem Jahr 1976, der zu Wendezeiten von der Stasi bereits zerrissen worden war, aber wieder zusammengesetzt werden konnte.

"Als im April 1968 eine operativ günstige Situation vorhanden war, wurde W. direkt angesprochen und zur Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst der DDR geworben." In diesem Dokument der Stasi wird auch detailliert auf die Rolle eines IM "Friedhelm" im Fall Wallraff verwiesen. Auch wenn Gundlach es bestreitet – aus denen von der Stasi-Unterlagen-Behörde herausgegebenen Akten geht hervor, dass Heinz Gundlach als IM "Friedhelm" geführt wurde.

Und es wird beschrieben, dass dieser "Friedhelm" 1970 folgende Einschätzung gegeben hat: "W. ist mir seit vier Jahren bekannt. In dieser Zeit hat er sich zu einem wertvollen und zuverlässigen Verbündeten entwickelt. Er hat gelernt, in der Zusammenarbeit mit uns eine echte Möglichkeit zur Veränderung von Verhältnissen in WD (Westdeutschland, Anmerkung der Redaktion) zu sehen. […] In seinen Urteilen, die grundsätzliche Probleme betreffen, nähert er sich immer mehr unseren Standpunkten."

An anderer Stelle heißt es, dass "Friedhelm" Wallraff im Herbst 1966 kennengelernt habe. "Nach ersten Abklärungen zur Person, Besuchen von ,Friedhelm' im Operationsgebiet wurde er im November 1967 mit Hilfe einer operativen Kombination an den OibE (Offizier im besonderen Einsatz, Anmerkung der Redaktion) Oster und IM ,Richter' zur weiteren Bearbeitung und Vorbereitung der Werbung übergeben. […] Infolge eines eigenen Hinweises von "Wagner" (Deckname von Wallraff in den Stasi-Akten, Anmerkung der Redaktion) wurde ,Friedhelm' dem Vorgang wieder zugeordnet, der ihn bis zu dessen Festnahme in der BRD im Dezember 1971 als Instrukteur steuerte. In der Zusammenarbeit bis Dezember 1971 lag der Schwerpunkt auf der Lancierungstätigkeit."

"Ein Unterstützer der Terrortruppe RAF"

Warum wurde gegen Wallraff nicht schon damals, zu diesem Zeitpunkt, wegen des Verdachts der "geheimdienstlichen Agententätigkeit" ermittelt?

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schreibt beispielsweise am 15. September 2003 dazu: "Es gehört mittlerweile zu Wallraffs Standardreplik auf die Stasi-Vorwürfe, dass deutsche Fahnder 1971 nach seinem Treffen mit einem Stasi-Helfer in Kopenhagen nicht gegen ihn ermittelt haben, ihn nie verhört, ihm nie den Prozess gemacht haben. 'Weil es keinen Tatverdacht gab', behauptet Wallraff: 'Hätte ich mich damals strafbar gemacht, dann hätten mich die Behörden doch unweigerlich anklagen müssen.' Einleuchtend, aber falsch. Denn was 1971 geschah, ist eine Groteske aus einer ziemlich neurotischen Ära der Republik.

Offenbar haben die Ermittler den Stasi-Verdacht seinerzeit nur beiseitegeschoben, weil sie glaubten, Wallraff etwas ganz anderes anhängen zu können: Ein Unterstützer der Terrortruppe RAF sollte er sein, nach damaligen Maßstäben ein richtiger Staatsfeind also, und weitaus gefährlicher, als wenn er für den Osten als Spion im Einsatz gewesen wäre. Es war dieser Verdacht, der in den folgenden Jahren zur fixen Idee der Ermittler wurde, der ihnen sogar so wichtig war, dass sie Wallraffs Treffpartner aus Kopenhagen laufen ließen – trotz erdrückender Stasi-Hinweise."

Die Verbindungen zu IM "Wagner"

Die Bundesanwaltschaft wertete schon Anfang der 90er-Jahre das Treffen Wallraffs mit Gundlach in der Anklageschrift gegen führende Stasi-Offiziere – unter anderem gegen den Leiter der für Desinformation zuständigen Abteilung HVA X Rolf Wagenbreth – als belastend für den Schriftsteller.

"Dass Günter Wallraff bei Hingabe der vorgenannten Informationen und Materialien nicht gewusst haben sollte, dass Dr. Gundlach diese für das MfS entgegennahm, erscheint kaum vorstellbar: Ein Zusammenhang der gelieferten Auskünfte und Unterlagen zu dem von Günter Wallraff als Gegenstand des Treffgesprächs bezeichneten Theaterprojekt ist ersichtlich nicht gegeben. Auch mit Recherchen über Vorgänge aus der NS-Zeit haben die angeführten Lieferungen offenkundig nichts zu tun. Die Überlassung des Briefs des Studenten […] ist die typische Tip-Lieferung auf eine Person, deren nachrichtendienstliche Ansprache lohnenswert erscheint."

Es ist nur der Auszug aus einem von zahlreichen Dokumenten, in denen Wallraff mit IM "Wagner" in Verbindung gebracht wurde. Und die aufgefundenen Unterlagen zeigen, dass die IM-Erfassung Wallraffs in der Abteilung X der HVA bis zur Wende aufrechterhalten wurde. Der Forscher Helmut Müller-Enbergs sagt dazu: "Gewöhnlich wurden Vorgänge, die als beendet galten, archiviert und als gesperrte Ablage in den Karteien vermerkt."

Diese Erfassung bis zur Wende lässt zumindest den Verdacht zu, dass Wallraff durchgängig für die Stasi von großem Interesse war. In den Unterlagen findet sich schließlich auch ein Schreiben vom 3. Juli 1984 an den Abteilungsleiter "Fahndung", wonach Günter Wallraff als sogenanntes Fahndungsobjekt "auf den Genossen Major Dornberger, HVA / X /, Telefon 27396 umzuschreiben" sei. Dornberger? Das ist laut Aktenlage ebenjener Stasi-Offizier, der für den Vorgang Wallraff alias "Wagner" verantwortlich zeichnet. Fahndungsobjekte waren in der DDR jene Personen, die beispielsweise nicht einreisen sollten, aber auch IM, deren bei der Stasi unangekündigten Einreisen sofort der zuständigen Dienststelle mitgeteilt werden mussten.

Er hört zu, er ist freundlich, er überlegt

Bad Saarow, 2012: Es regnet, der Wind weht steif an diesem Frühlingsmorgen, der Himmel ist verhangen. Ein grauhaariger Mann im Trainingsanzug steht auf der Holzveranda seines Hauses mit Seeblick. Seine Schritte sind schlurfend, aber seine Augen sind hellwach.

Es ist Rolf Wagenbreth, der ehemalige Chef der für Desinformation zuständigen Stasi-HVA X, bei der Günter Wallraff jahrelang als IM "Wagner" geführt wurde. Er hört zu, er ist freundlich, er überlegt. Aber dann lächelt Wagenbreth und sagt: "Ich mach's doch nicht Jungs, ich möchte über die alten Zeiten nicht reden." Dann geht er mit seiner Frau zurück ins Haus, dreht sich aber noch einmal um. "Wir hatten viele dieser Wallraffs." Die Tür fällt ins Schloss, und der Regen lässt nach.

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