WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Gottverlassen: Ostdeutschland – die ungläubigste Region der Welt

Deutschland Gottverlassen

Ostdeutschland – die ungläubigste Region der Welt

Freier Autor
Ein nachhaltiges Erbe der SED: Nirgendwo sonst gibt es so wenige Menschen, die einer Religion angehören. Wie ist es dazu gekommen? Eine Reise durch den Osten Deutschlands auf der Suche nach Antworten.

In der Augustinerkirche zu Erfurt ist es bitterkalt. Das scheint die kleine Gemeinde nicht zu stören, die sich zu einem Festgottesdienst eingefunden hat. Die „Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden“ feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Ausgerechnet in der Kirche des Augustinerklosters, wo Martin Luther vor einem halben Jahrtausend als Mönch lebte und wo nach der von Luther ausgelösten Revolution der letzte Mönch 1556 starb, wird der Gedanke des Ordenslebens wiederbelebt. Zwar leben die Ordensbrüder nicht als Mönche, wohl aber wollen sie sich einer „körperlichen und seelischen Zucht“ unterwerfen, um Gottes Werk in der Welt zu tun.

Die Ordensbrüder ziehen gemessenen Schrittes in die Kirche ein, angeführt vom „Großkomtur“ Ulrich Schacht. Der Schriftsteller, Dichter und Publizist wurde im DDR-Frauengefängnis Hoheneck geboren, studierte in Rostock und Erfurt evangelische Theologie und wollte Diakon werden, wurde aber 1973 festgenommen und wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Haft verurteilt. 1976 wurde er von der Bundesrepublik freigekauft.

Sein göttlicher Zorn ist nicht verraucht. Im Orden versammeln sich so manche zornige Weggenossen von damals. Sie operieren wie früher der Deutsche Orden im Feindesland: Denn der Osten Deutschlands ist das gottloseste Land der Welt. Nirgendwo gibt es einen höheren Prozentsatz von Atheisten (52 Prozent), nirgendwo außer in Japan glauben weniger Menschen an einen persönlichen Gott (acht Prozent); Konfessionslosigkeit ist in der ehemaligen DDR auch ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall die Regel, nicht die Ausnahme, und sie nimmt weiter zu.

„Der Welt verfallenen Kirche den Kampf ansagen“

Schachts Ordensbrüder tragen eine Art Fantasieuniform, halb Kutte, halb Cape, und soclange sie unter sich sind, tragen sie auch Fantasienamen. An diesem Abend etwa werden Udo Große und Sverre Schacht feierlich in den Orden aufgenommen; fortan heißen sie mit Ordensnamen „Udo von Meißen“ und „Sverre von Bremen“. Es gehe, sagt Ordensurgestein „Peter von Raben-Steinfeld“, der im bürgerlichen Leben Peter Voß heißt, um das „aristokratische Prinzip“, um eine neue „Aristokratie des Geistes“ inmitten der geistlichen und geistigen Verwüstungen, die der gottfeindliche Kommunismus und der gottvergessene Kapitalismus angerichtet haben und anrichten.

Der Kreuzgang der Erfurter Augustinerkirche
Der Kreuzgang der Erfurter Augustinerkirche
Quelle: picture alliance / dpa

Wir sitzen nach dem gut lutherischen Gottesdienst beim Festmahl, das der „Truchsess“ des Ordens im gotischen Kapitellsaal des Klosters den Brüdern und ihren Gästen bereitet hat. Es gibt Bouillabaisse, Rote-Beete-Carpaccio in Balsamico mit gehobeltem Parmesan, Ragout vom Lamm in Cognac-Thymian-Soße an gebackenem Hokkaido-Kürbis, Mousse au Chocolat, dazu Müller-Thurgau und Chianti.

Um „Entweltlichung“ gehe es dem Orden, so hat es Schacht – „Ulrich von Wismar“ – beim Gottesdienst gesagt. Man müsse einer „der Welt verfallenen Kirche den Kampf ansagen“, so wie es der große Reformator vor einem halben Jahrtausend mit dem Kampf gegen den Ablasshandel getan und wie es in unseren Tagen Benedikt XVI. gepredigt hat. Luther und den Papst zusammendenken: Solche Provokationen liebt Schacht.

Auch der ins „Noviziat“ aufgenommene Bundeswehroffizier „Johannes von Singen“, der in seiner Ansprache die Bedeutung von Hierarchie, Ordnung und Gehorsam beim Militär und beim Orden betont hat, bezieht sich auf den deutschen Papst. Die drei „Leitbilder“ des Ordens seien Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer und Joseph Ratzinger. Manche munkeln, Schacht wolle den von ihm gegründeten Orden in die katholische Kirche führen. Dafür, dass es nicht so weit kommt, steht der „Spiritual“ der Bruderschaft Thomas A. Seidel, der gegenüber dem Landesbischof für die evangelische Rechtgläubigkeit des Ordens einsteht.

Kein zweites Opus Dei

Von „Entweltlichung“ ist beim Festmahl zwar nichts zu spüren. Aber so genau muss man das alles nicht nehmen. Der Orden stehe einerseits „in der Tradition vorprotestantischer Gemeinschaften wie dem Deutschen Orden“, andererseits „in der Tradition protestantischer Kritik solcher Modelle“, hat Seidel in einem Vortrag ausgeführt: „Das bedeutet, dass die Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder zur Armut nicht radikale Besitzlosigkeit, zum Gehorsam nicht gewissensferne Unterwerfung und zur Keuschheit nicht sexualitäts- oder eheloses Leben verlangt.“

Ein zweites Opus Dei ist der Georgs-Orden nicht. Dennoch wird er in manchen Kreisen der evangelischen Kirche misstrauisch beäugt. Und auch der freundlich gesinnte Beobachter nimmt mit Befremden wahr: Indem er eine Kaderorganisation schuf, mit Orgnamen, radikaler antikapitalistischer Ideologie – Seidel wettert gegen „turbokapitalistische, massenmediale Formen totalitärer Gleichschaltung“ – und Uniformen, hat Schacht, der selbst gern eine schwarze Mao-Jacke trägt, getreu die Formen der Partei nachgebildet, die ihm und dem Land so viel Leid angetan hat. Die Brüder beziehen sich auf den evangelischen Theologen Stählin; aber im Augustinerkloster geht an diesem Abend auch der Geist des Klosterschülers Stalin um.

Im Osten sind drei von vier konfessionslos

Anzeige

Als die Forschungsgruppe „General Social Survey“ im vergangenen Jahr die neuesten Ergebnisse ihrer Langzeitstudie über den Glauben an Gott in verschiedenen Ländern veröffentlichte, waren hierzulande viele schockiert. Während etwa in den Philippinen 94 Prozent und in Westdeutschland 54 Prozent der Befragten angaben, sie hätten immer an Gott geglaubt und würden es weiterhin tun, waren es in der früheren DDR nur 13 Prozent – von denen ja viele offensichtlich nicht an den persönlichen Gott der christlichen Glaubensbekenntnisse glauben, der Gebete erhört und am Leben jedes Einzelnen Anteil nimmt. In Westdeutschland hingegen glauben noch 32 Prozent, also fast die Hälfte der Konfessionsgebundenen, an den persönlichen Gott, den ihre Kirchen verkünden; nur neun Prozent bekennen sich als Atheisten.

Grafik Gottglauben
Die Ergebnisse der General Social Survey über den Glauben an Gott
Quelle: Infografik Welt Online

Einer, den die Ergebnisse der Studie nicht schockiert haben, ist Professor Gert Pickel, der an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig Religionssoziologie lehrt. „Die Ergebnisse sind nicht neu“, sagt er. „Seit 1981 werden diese Daten erhoben, ich arbeite auch mit ihnen, und sie belegen konstant einen weltweiten Trend, den wir Säkularisierung nennen. Diese Entwicklung ist in Ostdeutschland besonders stark ausgeprägt, aber sie findet fast überall in der Welt statt. Übrigens sind die Ergebnisse für China und Vietnam etwa noch schlimmer.“

Je jünger und je gebildeter die Befragten sind, desto weniger religiös seien sie, das gelte auch für den Osten der Republik: „Das interpretieren die amerikanischen Autoren der Studie so, dass die Menschen mit zunehmendem Alter religiöser werden. Eher spricht das dafür, dass die Religiosität weiter sinkt, dass also der Prozess der Säkularisierung auch nach der Wiedervereinigung im Osten und im Westen weitergeht.“ Mittlerweile sprechen Soziologen von einem „stabilen Drittel der Religionslosigkeit“ in Deutschland, die aber ungleich verteilt ist: In Westdeutschland ist jeder Sechste konfessionslos; in Ostdeutschland sind es drei von vieren.

„Religiös unmusikalisch“

Dabei ist die Konfessionslosigkeit im Westen rasant gewachsen. Noch bis in die 1960er-Jahre hinein gehörten über 90 Prozent der Bundesbürger einer Kirche an. Seit 1980 hat sich die Zahl der Konfessionslosen verdreifacht. Und das, obwohl „in Westdeutschland der Übergang zur Konfessionslosigkeit ein Schritt ist, der gegen die vorherrschende Kultur der Konfessionsmitgliedschaft vollzogen werden muss“, während „Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland ein Verharren in einem weitverbreiteten und legitimierten Zustand darstellt“, so Pickel.

Ein später und nachhaltiger Sieg der SED-Führung. Die Mauer fiel, die Planwirtschaft verschwand, die Partei musste sich verstellen, die von den Alliierten zerbombte Frauenkirche in Dresden und die von den Kommunisten gesprengte Universitätskirche in Leipzig wurden mit viel Geld wiederaufgebaut. Aber die Bevölkerung blieb und bleibt „religiös unmusikalisch“. So beschreibt der westdeutsche Philosoph Jürgen Habermas sein eigenes Nicht-Verhältnis zum Glauben.

Im Gespräch mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger hatte Habermas, der so unreligiös nicht ist, eingeräumt, dass „in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden“ seien. „Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist.“

Palmsonntags-Prozession in Eichsfeld
Palmsonntags-Prozession in Eichsfeld
Quelle: dpa

Das kann man auf dem Gebiet der ehemaligen DDR etwa im Eichsfeld besichtigen. Das Gebiet südlich des Harzes liegt mit vier Fünfteln seiner Fläche und Bewohner in Thüringen und einem Fünftel in Niedersachsen. Die Eichsfelder sind demonstrativ katholisch. Sonntags sind die Kirchen voll, und das waren sie auch zu DDR-Zeiten. Bei Prozessionen und Wallfahrten ist in den schmucken Städten und Dörfern alles auf den Beinen. Weder der preußische Kulturkampf gegen die katholische Kirche noch die Nazis noch das SED-Regime konnten die Treue der Eichsfelder zu ihrem Glauben, ihren Ritualen und Bräuchen erschüttern.

Zerstörung oder Aufbruch?

Anzeige

Es könnte also scheinen, als wäre der Katholizismus ein Bollwerk gegen die Säkularisierung oder, böser formuliert, als würde der Protestantismus der Entchristlichung Europas Vorschub leisten. Und so böse hat es der konservative katholische Schriftsteller Martin Mosebach erwartungsgemäß auch formuliert. In der „Welt“ schrieb er kurz nach der Veröffentlichung der Studie, dass „der Protestantismus mit seinem Hang zur Säkularisierung fast notwendig zur Schwächung des Glaubens geführt hat. Sonst hätte der Kommunismus den Glauben dort nicht so nachhaltig zerstören können.“

Ebenso erwartbar war die Reaktion Margot Käßmanns, die als Beauftragte der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) für das Lutherjahr 2017 in „Chrismon“ ausrief: „Einspruch, Herr Mosebach!“ Mit konkreten Zahlen gab sich Reformationsbotschafterin Käßmann nicht ab. Stattdessen meinte sie: „Wer heute durch den Osten Deutschlands fährt, entdeckt eine Kulturlandschaft, die einem großen religiösen Aufbruch in die Freiheit Raum verschaffte.“ Was auch immer das bedeuten mag: Wie kann eine Landschaft einem Aufbruch Raum verschaffen? Und gibt es, was wichtiger ist, im Osten tatsächlich einen „großen religiösen Aufbruch“?

Wittenberg ist voller Touristen und Wallfahrer

Schauen wir nach. Zum Beispiel in Wittenberg, der Wiege der Reformation, wo Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche anschlug. An einem kalten Dienstagmorgen wirkt die Stadt wie ausgestorben. Nur wenige Einheimische sind auf den Beinen. Ein wenig verloren irren zwei Busladungen Koreaner zwischen Lutherhaus und Melanchton-Haus umher. Die Innenstadt wurde in Pastellfarben renoviert, die DDR-Tristesse ist geblieben.

Der Marktplatz von Wittenberg mit der Stadt- und Pfarrkirche St. Marien
Der Marktplatz von Wittenberg mit der Stadt- und Pfarrkirche St. Marien
Quelle: picture alliance / ZB

Johannes Block ist Pfarrer an der Stadtkirche St. Marien. Dort hat Luther an die 2000-mal gepredigt. In St. Marien wurde 1521 zum ersten Mal ein Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten und das Abendmahl „in beiderlei Gestalt“ – Brot und Wein – der Gemeinde gereicht. Die Luther-Tradition empfindet Block, ein offen dreinschauender Mittvierziger aus Hameln in Niedersachsen, als „Würde und Bürde“.

Wittenberg sei so etwas wie ein „Evangelischer Vatikan“, sagt Block. Hier sitzen eine Außenstelle der EKD und der Evangelischen Akademie, die Landeskirche mit ihrem Predigerseminar und die Luther-Gedenkstiftung. Viele Häuptlinge, wenige Indianer. Die Stadtkirchengemeinde hat 3800 Mitglieder. Im ganzen Stadtgebiet sind es sechs- bis siebentausend Christenmenschen, weniger als ein Siebentel der Bevölkerung.

Trotzdem brummt die Luther-Industrie: Luther-Bier und Luther-Brot, Luther-Vorträge und Luther-Führungen. In der „Saison“ zwischen Ostern und dem Reformationstag ist Wittenberg voller Touristen und Wallfahrer. Und wenn ein prominenter Gastprediger die Kanzel der Marienkirche schmückt, zählt Block zuweilen drei- bis vierhundert Leute im Gestühl seiner Kirche. „An einem verschlafenen Wintersonntag sind es dann achtzig.“

Das Misstrauen sitzt tief

Die Überfülle von Festivals, Konzerten, Kanzelreden und dergleichen, die im Zuge der Luther-Dekade über die Stadt kommt, empfinden die Wittenberger wohl eher als „Reformationsraumschiff“, meint Block, beeilt sich aber hinzuzufügen, dass er das „nicht kritisch“ meint. Man nimmt hier leicht krumm. Es gibt neben dem Misstrauen gegen die mit dem Raumschiff eingeschwebten Kirchen-Aliens und gegen Block als Wessi – 2004 kam er als Assistenzprofessor nach Leipzig, erst seit 2011 ist er in Wittenberg – auch Animositäten zwischen den in der DDR bedrängten Christen und den Konfessionslosen, die sich größtenteils auch nach dem Untergang des atheistischen Staats selbstbewusst als Atheisten bezeichnen.

„Die Grenzen werden flüssiger“, glaubt Block, aber auch das bringt Probleme mit sich, etwa wenn eine Lehrerin, die vor der Wende strikt darauf geachtet hat, dass die Kinder in die FDJ gingen, nun ihr kirchliches Engagement hervorkehrt. Das Misstrauen sitzt tief.

Am Ostgiebel der Stadtkirche prangt die „Judensau“. Eine mittelalterliche Plastik, die den Gott Israels als Sau darstellt, an deren Zitzen die Juden saugen und in deren Hintern ein Jude nach Weisheit forscht. Luther hat mit großer Begeisterung dieses Kunstwerk gedeutet und auch in der Stadtkirche immer wieder gegen die Juden gehetzt. Auch deshalb hielten 1933 die antisemitischen und nazifreundlichen „Deutschen Christen“, zu denen zeitweise ein Drittel der evangelischen Pfarrer in Deutschland gehörte, ihre Nationalsynode in Wittenberg ab.

Die Nazis, einerseits dem heidnischen Erbe der Germanen zugetan, andererseits bemüht, das christliche Erbe für sich zu beanspruchen, benannten die Stadt 1938 in „Lutherstadt Wittenberg“ um. Die Kommunisten, einerseits einem militanten Atheismus zugetan, andererseits auch bemüht, das christliche Erbe für sich zu beanspruchen, behielten den Namen bei.

Warum war gerade der Protestantismus so wehrlos?

Blocks Gemeindebüro befindet sich in der Jüdenstraße, die 1937 in Wettiner Straße umbenannt wurde, zu DDR-Zeiten den Namen des sowjetischen Spions Richard Sorge trug und seit der Wiedervereinigung wieder an die Wittenberger Juden erinnert, die freilich nicht mehr vorhanden sind. Pfarrer Block referiert die Geschichte der Stadt, um die kulturellen Verheerungen des 20. Jahrhunderts erklärlich zu machen, die aber nicht erst mit den Nazis begonnen hätten.

In Mitteldeutschland habe es schon länger in Teilen der organisierten Arbeiterschaft und des aufgeklärten Bürgertums eine „Reserviertheit“ gegenüber der Kirche gegeben. Warum aber war gerade der Protestantismus so wehrlos gegen diese Diktaturen? Block legt die Stirn in Falten. Mit der Reformation, sagt er dann, sei die Kirche Volk geworden. Der Protestant wurde Staatsbürger, in Deutschland eben auch Deutscher, mit allen Versuchungen. Protestantische Entkirchlichung bedeute auch, dass den Kirchenmitgliedern in einer Diktatur die Instanz außerhalb des Landes fehle, die den Katholiken helfe, mit ihrer religiösen Identität auch Distanz zum Regime zu wahren, wie das etwa in Polen der Fall war. Das klingt nicht viel anders als bei Mosebach, nur weniger gehässig.

Andererseits, sagt Block, dürfe man nicht vergessen, dass die friedliche Revolution in der DDR zu großen Teilen eine protestantische Revolution gewesen sei, gerade in Wittenberg. Friedrich Schorlemmer, Prediger an der Schlosskirche, ließ beim Kirchentag 1983 im Lutherhof ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden, obwohl das Regime die Losung der Friedensbewegung verboten hatte. Da habe die Kirche Farbe gezeigt.

Westkirche in Wahrheit obrigkeitshöriger?

Macht die evangelische Kirche zu wenig aus ihrer revolutionären Tradition? Das meint jedenfalls Jacqueline Boysen. Die Historikerin arbeitet für die Evangelische Akademie in Berlin. Von ihrem Büro aus kann sie den Gendarmenmarkt sehen, wo der Deutsche und der Französische Dom die tolerante Tradition Preußens symbolisieren und das Schauspielhaus daran erinnert, dass schon im 19. Jahrhundert für viele aufgeklärte Bürger Kunst und Literatur an die Stelle der Religion traten.

Vor dem Fall der Mauer habe die EKD eine „Günter-Gaus-Haltung“ gegenüber der Opposition eingenommen, meint Boysen, womit sie auf den ehemaligen Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR anspielt. Man habe aus dem Westen zwar Geld für den Freikauf von Häftlingen und für die Instandhaltung von Kirchen gegeben, sei aber fixiert auf die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu den Mächtigen gewesen und habe „sehr gnädig“ über deren Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen. Die Westkirche sei in Wirklichkeit „obrigkeitshöriger“ als die Ostkirche gewesen und habe das Widerstandspotenzial im Osten nicht erkannt.

Wenn man fragt, warum die Protestanten nicht mehr und nicht eher Widerstand geleistet haben, verweist Boysen auf Unterdrückung und Flucht. Dafür stehe stellvertretend etwa ein Uwe Johnson, der 1959 in den Westen ging und in seinem Erstlingsroman „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ den Kampf der Kommunisten gegen die Junge Gemeinde an einem Gymnasium in der mecklenburgischen Provinz schilderte. Der Roman wurde vom Suhrkamp-Verlag abgelehnt. Siegfried Unseld konnte nach eigenem Bekunden „mit der verschmockten Aufsässigkeit dieser Abiturklasse“ nichts anfangen. Die „vertrackte Provinzialität“ und „Fremdheit“ des Milieus taten ein Übriges, dem weltläufigen Verleger das Buch zu verleiden.

So sahen die Trümmer der Dresdner Frauenkirche 1993 aus – heute ist sie wiederaufgebaut
So sahen die Trümmer der Dresdner Frauenkirche 1993 aus – heute ist sie wiederaufgebaut
Quelle: picture-alliance/ ZB

In der Tat erschien die gesamte DDR vielen West-Intellektuellen fremd und provinziell; und das verstärkte sich noch mit der Zeit, da es gerade das Bürgertum war, das dem Arbeiter-und-Bauern-Staat massenhaft den Rücken kehrte; ebenjenes Bürgertum, das Träger einer selbstbewussten und trotzdem unaufdringlichen protestantischen Kultur gewesen war, wie sie etwa in Dresden mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche wiederentdeckt wird.

Für wen wird die Lutherdekade gemacht?

Boysen glaubt, dass die EKD-Spitze bis heute „keinen Blick für Ostthemen“ habe. „Warum sitzt sie ausgerechnet in Hannover? Warum ist sie nicht nach Wittenberg gegangen?“ Geradezu emblematisch findet die zornige Historikerin die Vernachlässigung des ehemaligen „Sprachenkonvikts“ in Berlin. Hier konnte man zu DDR-Zeiten eine kircheneigene Theologenausbildung absolvieren. „Das war – oder wurde – ein freies Haus für freie Gedanken.“ Der Konvikt wurde zur Kaderschmiede der friedlichen Revolution: Markus Meckel, Steffen Reiche, Richard Schröder, Wolfgang Ullmann und viele andere Protagonisten des Widerstands haben hier gelehrt oder gelernt. Und doch erinnert heute fast nichts an die große Vergangenheit des Gebäudes in der Borsigstraße, das heute von der Evangelischen Studentengemeinde genutzt wird und langsam verkommt, während die Luther- und Melanchthonhäuser in Wittenberg aufwendig renoviert wurden und im schönsten polierten Sichtbeton strahlen.

Für wen, fragt Boysen, wird die Lutherdekade gemacht? Jedes Jahr steht unter einem bestimmten Thema: Bekenntnis, Bildung, Freiheit, Musik, Toleranz, Politik, Bild und Bibel, Eine Welt. Und zu jedem Themenjahr werde ein Themenheft produziert. Das gehe jedoch nicht an die Mitglieder, an die Basis, sondern an „Entscheidungsträger“. Man klopft sich in der Hierarchie gegenseitig auf die Schultern. Ob man die Menschen erreicht, ist eine andere Frage.

Ein wenig wie Pfeifen im Wald

Mehr Erfolg hat die evangelische Kirche mit ihren Schulen. Im Bundesland Brandenburg etwa gibt es zahlreiche Schulneugründungen. Die neue Elite, oft genug die gewendete alte SED-Elite, schickt ihre Kinder ungern in die staatlichen Schulen, wo noch ein Großteil des Personals schon in der DDR unterrichtete. Boysen befürchtet, dass damit eine neue soziale Segregation vorangetrieben werde: „Die Eltern schicken ja ihre Kinder nicht zu uns, damit sie das Vaterunser lernen.“

Andererseits könnte man einwenden, dass die Kirche irgendwo anfangen müsse, verlorenes Terrain wiederzugewinnen und bürgerliches Leben wieder aufzubauen. Nur durch die Erinnerung an die glorreichen Tage der Revolution dürfte das kaum zu machen sein. Auch Pfarrer Block in Wittenberg meint, Christsein habe gerade heute in einer geistig verarmten, materialistischen Gesellschaft wie dem Osten etwas Widerständiges an sich. Blocks Konfirmanden würden sich „im Auftreten, in der Erziehung, im Fragepotenzial“ von anderen Jugendlichen unterscheiden.

Christsein sei eine Sache der Herzensbildung gegenüber dem marxistischen und marktkonformen Homo oeconomicus. Martin Luther sei der Stachel in einer Welt, in der nur Leistung zählt, „also Werkgerechtigkeit statt Rechtfertigung durch den Glauben“. Block ist ein sympathischer, nachdenklicher Mann. Aber seine Worte klingen ein wenig wie Pfeifen im Wald.

„Christ ist jeder, der sich für das Christentum interessiert“

Ganz anders kommt Felix Leibrock daher. Der Saarländer hat rein äußerlich eher etwas Katholisches an sich. Und ist doch Protestant. Das Unfrohe, Selbstquälerische und zuweilen Verbissene des deutschen Protestantismus ist aber seine Sache nicht. „Vieles ist so lustlos bei uns, wie der Soziologe Max Weber schon festgestellt hat, weil es immer um die innerweltliche Askese und die Leistungsethik geht. Man assoziiert den Protestantismus mit Peter Hahne und Schluss mit lustig.“

Bis vor Kurzem war Leibrock evangelischer Stadtpfarrer in Apolda an der Ilm, 15 Kilometer flussabwärts von Weimar. Dort sind gerade einmal 3000 der 24.000 Einwohner Protestanten. Trotzdem verkündet Leibrock, Kirche könne „wachsen gegen den Trend“. (Katholiken sagen „die Kirche“, wenn sie sich selbst meinen; Protestanten erkennt man daran, dass sie bescheiden oder verschämt den bestimmten Artikel weglassen: „Kirche muss auf die Menschen zugehen“, sagen sie, oder: „Auch ein Grillabend kann Kirche sein.“) 2007 kam der Wessi Leibrock, davor Stadtkulturdirektor in Weimar, „gegen den Willen vieler Einheimischer“ nach Apolda, wo von seinen 3000 Schäfchen anfänglich gerade mal zwanzig in den Gottesdienst kamen.

Wollte man zynisch sein, könnte man sagen, dass sich Leibrock die Situation schönredet. „Folgt man der Definition des großen Theologen Friedrich Schleiermacher, dann ist Christ jeder und jede, der sich für das Christentum interessiert“, schreibt er in einem Buch, das er über seine Erfahrungen als Stadtpfarrer geschrieben hat. „So gesehen, wage ich von 80 Prozent Christen in Apolda zu reden.“

Ausgefallene Aktionen

Wollte man unfreundlich sein, könnte man Leibrock einen Eventpfarrer nennen. Jedenfalls hat er mit ausgefallenen Aktionen auf sich und seine Kirche aufmerksam gemacht, zum Beispiel mit einem Fußmarsch nach Worms. Zehntausend Euro wollte er dadurch sammeln, die Hälfte für die Renovierung der überdimensionierten Lutherkirche in Apolda, die andere Hälfte für die Therapie eines schwer verletzten und traumatisierten muslimischen Mädchens aus Beslan. Mit wunden Füßen kam Leibrock in Worms an. Die letzten Kilometer musste er mit dem Fahrrad zurücklegen, gehen konnte er nicht mehr. Dreizehntausend Euro sind zusammengekommen.

Leibrock stellte fest, dass die im Westen selbstverständliche Teilnahme kirchlicher Vertreter an städtischen Veranstaltungen und Vereinsfeiern sich nach 40 Jahren SED-Herrschaft im Osten keineswegs von selbst versteht. „In Weimar zum Beispiel saß kein Pfarrer im Vorbereitungskomitee für den Weihnachtsmarkt. Als ich die Stadtoberen fragte, warum das so sei, haben sie meine Frage nicht verstanden. Was geht denn der Weihnachtsmarkt die Kirche an, haben die zurückgefragt.“

In Apolda stürzt sich Leibrock ins Geschehen. Auch bei einem Thüringer Bratwurstwettessen sitzt er in der Jury. Die renovierungsbedürftige Lutherkirche, „von den Deutschen Christen missbraucht“, wie Leibrock sagt, aber auch als Anlaufstelle der Opposition in der späten DDR benutzt, öffnet der Pfarrer auch für nicht religiöse Veranstaltungen: die Don Kosaken, Angelika Milster, das Weihnachtskonzert des örtlichen Gymnasiums. Er veranstaltet Literaturabende und macht aus dem alljährlichen Krippenspiel – oft ein Anlass zum Fremdschämen, an dem allenfalls die Eltern der beteiligten Kinder ihren Spaß haben – ein „Spektakel“ im Freien, mit Lagerfeuer, lebenden Schafen und einem echten Baby. In der Osternacht organisiert er eine Feier mit Taizé-Gesängen.

Außerdem hat er selbst religiöse Musicals – Leibrock nennt sie „Spirituals“ – geschrieben: 2012 wurde sein „Pop-Oratorium“ über die Zehn Gebote aufgeführt, 2013 gibt es ein Jesus-Spiritual, und 2017 wird Leibrocks Luther-Musical in Apolda uraufgeführt. Man kann jetzt schon die Vorhersage wagen, dass es ein Ärgernis sein wird, schon allein wegen der klaren Aussagen zu Luthers Antisemitismus.

Einbruch steht im Westen erst bevor

Das Ärgernis Leibrock ist die Kirche in Apolda freilich schon wieder los. Als die Kirchenoberen beschlossen, zwei Pfarrersstellen für 3000 Menschen seien eine zu viel, war auch für Leibrock Schluss mit lustig. Er kündigte. Nun sitzt er in München, wo er das Evangelische Bildungswerk leitet.

Von Bitterkeit ist allerdings bei ihm wenig zu spüren. So einer sieht vermutlich immer das Positive, auch in der Entkirchlichung des Ostens. Die Verfolgung durch die DDR-Behörden über anderthalb Generationen hinweg habe zwar zu einem Einbruch bei der evangelischen Kirche geführt, sagt Leibrock. Aber wer geblieben sei, habe sich oft umso mehr engagiert, etwa in der Jungen Gemeinde.

„Kirche“ sei in der DDR kein einheitliches Gebilde gewesen; da habe es in Weimar einen Pfarrer gegeben, der Ausreisewilligen Asyl in der Kirche gab, und einen Kirchenoberen, der sie auslieferte. Da habe es die „fragwürdige Zusammenarbeit“ eines Manfred Stolpe oder eines Horst Kasner mit dem Regime gegeben, aber auch den Märtyrertod eines Horst Brüsewitz und den Mut vieler oppositionellen Pfarrer im Vorfeld der Wende.

Freiheit sei für Protestanten ein zentraler Begriff, und die Freiheit eines Christenmenschen schließe nun einmal auch die Freiheit ein, sich in der Diktatur für die falsche Seite zu entscheiden. Nach dem Einbrechen der Mitgliederzahlen komme das Aufblühen; im Westen stehe aber den christlichen Kirchen das Einbrechen erst bevor.

Katholiken steht die schlechte Zeit noch bevor

Der Soziologe Gert Pickel würde vermutlich mit dem Befund übereinstimmen, dass es auch im Westen zu einem weiteren Abbröckeln der Kirchen kommt. Die Säkularisierung sei, so sagt er, ein weltweiter Trend, ein Begleitumstand der Modernisierung. Auch in überwiegend katholischen Ländern wie Litauen, Kroatien und Spanien, ja selbst in Polen gebe es nun starke Einbrüche, komme es zu einem Konflikt zwischen der älteren, kirchlich gebundenen Generation und einer Jugend, die ihr „innerweltliches“ Bedürfnis nach Sinngebung im Leben durch Arbeit und Konsum, Liebe und Familie, Kultur und Reisen befriedigt sehe.

Die Doppeltürme der katholischen Kirche Sankt Sebastian und zwei Skulpturen auf dem Dach des Justizzentrums in Magdeburg im Abendlicht
Die Doppeltürme der katholischen Kirche Sankt Sebastian und zwei Skulpturen auf dem Dach des Justizzentrums in Magdeburg im Abendlicht
Quelle: picture-alliance/ ZB

Pickel ist skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass auf den Einbruch im Osten oder im Westen ein Aufbruch folgen müsse. Man dürfe nicht davon ausgehen, dass es automatisch eine Nachfrage nach Religion gebe, nach Sinngebung aus der Transzendenz. Würden die Grundlagen nicht in der Jugend gelegt, durch Elternhaus und Schule, dann werde sich ein Bedürfnis nach Religion in den meisten Fällen auch nicht später entwickeln. Und die Religionsferne werde dann an die nächste Generation vererbt. Genau das habe man ja in der DDR gesehen.

Was den Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten angeht, so meint Pickel, die evangelischen Kirchen hätten „ihre schlechteste Zeit hinter sich“, der Katholischen Kirche in Deutschland stehe sie noch bevor. Bei den Protestanten sei das Verhältnis von Austritten zu Neu- oder Wiedereintritten drei zu eins. Das heißt, für jeden, der in die Kirche eintritt, treten immer noch drei aus. Bei den Katholiken aber sei das Verhältnis elf zu eins. Die Strategie der „Profilschärfung“ durch Papst Benedikt XVI. sei jedenfalls in Deutschland nicht aufgegangen. Vielleicht werde die Haltung des neuen Papstes eher verfangen: „Für die Unterdrückten und gegen den Kapitalismus, das ist nicht unmodern.“

Friede bekommt den Religionen nicht

Auch im Eichsfeld übrigens erlebt die katholische Kirche, die dem Kommunismus trotzte, dass der Kapitalismus ihr auf lange Sicht gefährlicher ist. Früher gingen jedes Jahr 75 Kinder zur Kommunion, von denen über dreißig Messdiener wurden, erzählte jüngst Hartmut Greller, Bischöflicher Kommissarius für das Eichsfeld, einem Reporter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Heute jedoch gingen nur noch 25 Kinder zur Kommunion, von denen acht Ministranten würden.

Paradoxerweise ist es möglicherweise das Fehlen des äußeren Drucks, das dem katholischen Milieu zu schaffen macht. Im Eichsfeld war man seit der Eroberung durch Preußen 1802 im Widerstand – gegen protestantisch-preußische Beamte, gegen Bismarcks antikatholischen Kulturkampf, dann gegen die ungeliebte und immer noch preußisch geprägte Weimarer Republik, gegen die heidnischen Nazis und die gottlosen Kommunisten. Nun fällt das alles weg und mit dem Widerstand auch der Kitt, der die Gemeinden zusammenhielt.

Das gilt ganz allgemein für den Osten Deutschlands, wie die eingangs zitierte internationale Langzeitstudie über den Glauben zeigt. Unter den über 68-Jährigen, die also in der DDR sozialisiert und einen Großteil ihres Lebens dort verbracht haben, beträgt der Prozentsatz derjenigen, die „sicher sind, dass Gott existiert“, 12,7 Prozent. Bei den Jugendlichen unter 28 Jahren, die also im vereinigten Deutschland groß geworden sind, beträgt er null Prozent. (Im Westen sind die Zahlen 36,4 und 17,8 Prozent.).

Auch diese Befunde überraschen Pickel nicht. Wo die Religion dauerhaft und in der Fläche „gegen den Trend wächst“, sei das eben nicht in erster Linie wegen charismatischer Persönlichkeiten wie Felix Leibrock oder wegen neuer Werbestrategien oder Liturgieformen und auch nicht wegen des Festhaltens an alten, traditionellen Ritualen, sondern weil es eine Konkurrenz-, Bedrohungs- oder „Marktsituation“ gebe.

Wie die Autoren der Langzeitstudie schreiben, gebe es „Anzeichen dafür, dass der religiöse Wettbewerb und/oder der religiöse Konflikt zu einem höheren Prozentsatz an Gläubigen führt“. Der Prozentsatz sei hoch in Israel, wo es ja einen scharfen Konflikt zwischen dem Judentum und dem Islam gibt, auf der Insel Zypern, die entlang religiöser und ethnischer Linien geteilt ist in einen griechischen und orthodoxen Süden und einen türkischen und muslimischen Norden, aber auch in Nordirland, wo der Dauerkonflikt zwischen Protestanten und Katholiken dazu führe, dass der Prozentsatz der Gläubigen viel höher sei als sonst im Vereinigten Königreich. (In Nordirland bekennen 45,6 Prozent einen „starken Glauben“ an Gott; in Westdeutschland sind es 26,7 Prozent, im restlichen Großbritannien 16,8 und in der früheren DDR 7,8 Prozent.)

Will man seine Schäfchen beisammenhalten, so könnte man zynisch sagen, treibe man sie in eine Konfliktsituation mit anderen Religionen hinein. Die Religionen mögen dem Frieden dienen, der Religionsfriede scheint ihnen aber nicht zu bekommen.

USA das gläubigste unter den entwickelten Ländern

Die Alternative bildet das „Marktmodell“ der USA. Obwohl auch in Amerika die Zahl der Gläubigen in den letzten Jahren leicht – um etwa einen Prozentpunkt – abgenommen hat, bleiben die Amerikaner das gläubigste Volk unter den entwickelten Ländern und zugleich das einzige vorwiegend protestantische Land mit einem so hohen Prozentsatz an tiefgläubigen Menschen. (Bezeichnenderweise hat Reformationsbotschafterin Margot Käßmann bei ihrer Erwiderung auf Martin Mosebach die USA nicht erwähnt.)

80,8 Prozent der US-Bürger geben an, „immer an Gott geglaubt“ zu haben; in Großbritannien sind es 36,7, in Frankreich 28,9 und in Ostdeutschland 13,2 Prozent. „In den USA gibt es kaum offenen religiösen Konflikt“, heißt es in der Langzeitstudie, „aber einen intensiven religiösen Wettbewerb sowohl zwischen den wichtigsten Religionen als auch zwischen den großen Konfessionen innerhalb des Christentums.“ Konkurrenz, so scheint es, belebt auch das religiöse Geschäft.

Das sieht auch Felix Leibrock so. In München ist der Bau einer großen Moschee geplant. Dagegen machen Bürgerinitiativen mobil. Leibrock aber meint: „Wir gläubigen Christen stehen dem gläubigen Muslim doch näher als einem Menschen, der an nichts glaubt. Ich jedenfalls habe keine Angst vor der religiösen Konkurrenz.“ Freilich fragt sich Gert Pickel, ob ein muslimischer Anteil von fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung (und ein Anteil der christlich-orthodoxen von nicht einmal zwei Prozent) tatsächlich eine „Marktsituation“ herbeiführen könne. Im Osten zumal gibt es zwar Dönerbuden und Asylantenheime, aber keine Moscheen.

„Es war ein Suchen zu spüren“

Noch jedenfalls kaum. In Heinersdorf, im Nordosten von Berlin, steht die erste Moschee, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR errichtet wurde. „Kurz vor der Autobahnauffahrt sehen Sie rechts ganz groß Kentucky Fried Chicken“, sagt Muhammad Asif Sadiq. „Dahinter sind wir.“ Das klingt schön marktmäßig und multikulturell: Im Land der Goldbroiler weisen ein Colonel aus den Südstaaten der USA und seine Hähnchen den Weg zu Allah.

An der TU studiert Sadiq physikalische Ingenieurwissenschaft mit Schwerpunkt Umweltschutz. „Sie wissen schon, Windräder und solche Dinge.“ Außerdem betreut er ehrenamtlich die Öffentlichkeitsarbeit der Ahmadiyya-Moschee. Deren silberne Kuppel taucht nun wie versprochen hinter der „KFC“-Werbesäule und einem Autoteile-Lager auf. Das Tor zum Moschee-Gelände ist geöffnet, kein Polizist nirgends.

Feierliche Einweihung der Ahmadiyya-Moschee am 16. Oktober 2008
Feierliche Einweihung der Ahmadiyya-Moschee am 16. Oktober 2008
Quelle: dpa

Das war nicht immer so. Als die islamische Reformgemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat nach zehnjähriger Suche das Grundstück in Heinersdorf erwarb, gab es Proteste der Einheimischen. Eine Bürgerinitiative machte mobil gegen das „Terrorprojekt an der Autobahn“ und fragte, warum die Muslime ausgerechnet unterhalb der Einflugschneise des Flughafens Tegel ihre Moschee bauen wollten. Wer wisse schon, was sich alles unter Kuppel verberge! Vielleicht eine Funkstörungsanlage? Außerdem würde der Moscheebetrieb Lärmbelästigung und Parkplatznot bringen, die Gemeindemitglieder würden massenhaft nach Heinersdorf ziehen und ihre Kinder die Schulen überschwemmen, die Deutschen würden wegziehen und ihr Immobilienbesitz an Wert verlieren.

Im Wahlkampf meinte der damalige Kandidat der CDU für das Berliner Abgeordnetenhaus, René Stadtkewitz, die Bürger würden schließlich keine Mülldeponie, kein AKW oder Gefängnis bei sich dulden, man könne sie also auch nicht zwingen, eine Moschee zu ertragen. Im März 2006 gingen drei- bis viertausend Bürger unter der Parole „Wir sind das Volk!“ gegen die religiöse Zumutung auf die Straße. Freilich habe sich der CDU-Baustadtrat Martin Federlein sehr korrekt verhalten und den Bau nach den geltenden Gesetzen genehmigt. „Und als die Leute gesehen haben, dass unsere Moschee ziemlich klein ist, und dass wir ihnen die Parkplätze nicht wegnehmen und ihre Schulen nicht überrennen, hat sich alles schnell beruhigt“, sagt Imam Abdul Basit Tariq. „Wir gehen auch am Neujahrstag auf die Straßen und fegen das Feuerwerk auf, das die Leute in der Umgebung abgebrannt haben. Das imponiert ihnen. Sie merken, dass wir dazugehören wollen.“

Im Gemeindebüro der Moschee spendiert der Imam Kaffee und Kekse und sinniert über die besondere Situation der Religion in der ehemaligen DDR. „1990 habe ich als Imam in 25 Städten gesprochen, in Frankfurt an der Oder, Leipzig, Halle, Erfurt, Bitterfeld, Brandenburg und so weiter. Ich habe Büchertische in den Innenstädten aufgebaut, habe Zeitungsinterviews gegeben. In Cottbus habe ich sogar zwei Vorträge in der katholischen Marienkirche gehalten. Da gab es die DDR noch. Die Leute hatten großes Interesse. Es war ein Suchen zu spüren, es fehlte ihnen etwas, aber sie wussten nicht, was.“

Insgesamt ist die Stimmung schwieriger geworden

Ein Suchender, der in dieser Zeit zur Gemeinde stieß, ist der Moscheediener Enrico Isamusa Menzel aus Großenhain bei Riesa. Er sei, so erzählt er im sanften sächsischen Dialekt, „ohne Gott aufgewachsen“. In seiner Klasse habe es nur einen Christen gegeben. Von Ängsten, Fragen und Träumen gequält, habe er sich zuerst dem Christentum zugewendet, die Bibel gelesen, aber auch die hinduistische Bhagavad-Gita und das Tao Te King. Zeitweise habe er davon fantasiert, Hebräisch zu studieren, nach Jerusalem zu fahren und die Juden zum Christentum zu bekehren.

Schließlich habe er im Islam Frieden gefunden. Das habe die Eltern zuerst geschockt, schließlich hätten sie sich damit abgefunden, „weil ich dadurch ja auch ein besserer Mensch geworden bin“. Wie sagte Pfarrer Block? Religion ist auch Herzensbildung.

Bei Menzels Erzählung hat der Imam zuweilen ein wenig gequält gelächelt. Er weiß, dass die Begeisterung des Bekehrten auf Außenstehende nicht unbedingt anziehend wirkt. Ein paar Hundert Konvertiten gebe es in Deutschland, sagt Tariq, aber von Missionierung wolle man nicht reden. Das Wort habe seit der Zeit der europäischen Missionierung in Afrika, Asien und Lateinamerika einen schlechten Beigeschmack. Damals habe man die Armut und Unwissenheit der Leute ausgenutzt.

„Kein Zwang sei in der Religion“, habe der Prophet gesagt. Doch die Ahmadiyya-Gemeinde ihrerseits werde in ihrer pakistanischen Heimat von muslimischen Eiferern als Sekte verfolgt. Deshalb seien sie nach Europa gekommen, nicht um zu missionieren. Die Verfolgung freilich habe dazu geführt, dass die Bewegung mittlerweile in 198 Ländern Gemeinden hat. Und wenn Außenstehende nun Geschmack an der Botschaft finden, werden sie ja nicht zurückgewiesen. Und sie würden das ja weitererzählen, „wie die Hausfrau, die im Laden etwas besonders Gutes entdeckt hat“.

Inzwischen sei die Stimmung im Osten schwieriger geworden. „Es gibt Arbeitslosigkeit, Armut, Enttäuschung, ein Gefühl, Unrecht erlitten zu haben. Und das schlägt dann um in Aggression gegen Ausländer.“ Dennoch werde man bald in Leipzig mit dem Bau einer Moschee beginnen, und danach in Dresden und Erfurt.

In Erfurt. Dort, wo diese Reise durch den gottlosen Osten begonnen hat, beim Georgsorden in Martin Luthers Augustinerkloster. Schwer vorstellbar, dass man eines nicht so fernen Tages auf der Krämerbrücke oder in der alten Synagoge, die an die wiederholt vertriebene und schließlich vernichtete jüdische Gemeinde der Stadt erinnert, nicht nur die Kirchglocken, sondern auch den Ruf des Muezzin hören könnte. Für manche, nicht nur in der Georgsbruderschaft, sicher ein Gräuel. Und doch vielleicht – Stichwort Marktmodell – Teil der List der Geschichte, in der, wie alle Religionen glauben, der Atem Gottes immer zu spüren ist.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema