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„Pille danach“ – Sturmlauf gegen Minister Gröhe

In den meisten Ländern Europas ist die "Pille danach" rezeptfrei zu kaufen, nur in Deutschland, Italien und Polen besteht Verschreibungspflicht In den meisten Ländern Europas ist die "Pille danach" rezeptfrei zu kaufen, nur in Deutschland, Italien und Polen besteht Verschreibungspflicht
In den meisten Ländern Europas ist die "Pille danach" rezeptfrei zu kaufen, nur in Deutschland, Italien und Polen besteht Verschreibungspflicht
Quelle: Infografik Die Welt
Der Bundestag diskutiert die Rezeptpflicht der „Pille danach“. Gesundheitsminister Gröhe will sich dem Expertenrat widersetzen und den Rezeptzwang beibehalten. SPD, Grüne und Apotheker sind verärgert.

13 Prozent der erwachsenen Frauen haben schon einmal die „Pille danach“ genommen. Das ist eine überraschend hohe Zahl. Folgt die Entwicklung dem bisherigen Trend wird der Anteil der Frauen weiter steigen. Denn die Einnahme des Medikaments ist im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. Seit 2010 kam die „Pille danach“ 342.000 Mal in Deutschland zum Einsatz, in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres allein 395.904 Mal. Auch um dieser Entwicklung nicht noch weiter Vorschub zu leisten, will Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) an der Rezeptpflicht des Medikaments festhalten.

„Wir brauchen einen zügigen, diskriminierungsfreien Zugang zur „Pille danach“, und wir brauchen eine gute Beratung. Das ist am besten gewährleistet, wenn es bei der Verschreibungspflicht bleibt“, sagte Gröhe der „Welt am Sonntag“.

Grünen schimpfen über Gröhes „Blockadepolitik“

Die Opposition ist nicht eben begeistert und wirft der Union Blockadepolitik vor. Schließlich hatte ein Expertenausschuss des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zuvor empfohlen, den Rezeptzwang für das Präparat „Levonorgestrel“ aufzuheben. Auch der Bundesrat hatte das im vergangenen Herbst gefordert. Es hätte also kein Gesetz für die Freigabe der Pille danach gebraucht, nur eine Ministerverordnung. Die Entscheidung hing ganz von Gröhes Votum ab. Dementsprechend ist auch der Koalitionspartner empört.

„Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass die Pille danach dazu beiträgt, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern“, sagt Hilde Mattheis, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-​Bundestagsfraktion, der „Welt“. Sie forderte den Gesundheitsminister auf, das Votum des Expertenausschusses für Verschreibungspflicht und die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern bei seiner Entscheidung einzubeziehen und die Rezeptpflicht des Verhütungsmittels aufzuheben.

Katja Dörner, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, rief die Union dazu auf, „ihre Blockadehaltung“ aufzugeben und im Sinne der betroffenen Frauen zu entscheiden. „Es gibt keinerlei sachlichen Gründe, die rezeptfreie Abgabe der „Pille danach“ abzulehnen“, sagte Dörner der „Welt“. „Es ist längst überfällig, auch in Deutschland Frauen zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft in Notfallsituationen einen selbstbestimmten, schnellen Zugang zur „Pille danach“ zu ermöglichen.“

Die Pille verhindert die Einnistung der Eizelle

Am kommenden Donnerstag wird sich der Bundestag mit dem Thema befassen. Gröhe warnte vor einer „Debatte mit Schaum vor dem Mund“. Es handele sich nicht um eine „Abtreibungspille“. Es gehe weder darum, vermeintlichen Sittenverfall zu bekämpfen, noch darum, die Selbstbestimmung von Frauen einzuschränken. „Es geht darum, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und die Frauengesundheit bestmöglich zusammenzubringen“, betonte der Minister. Bei der „Pille danach“ handele es sich um einen Wirkstoff, der in Einzelfällen auch schwerere Nebenwirkungen habe.

Das Medikament, das den Zwist auslöst, heißt Levonorgestrel und wird bereits seit 40 Jahren in Deutschland verschrieben. Es enthält Progesteron, also ein Gelbkörperhormon. Derselbe Wirkstoff ist auch in der Antibabypille enthalten. Die Wirkung ist abhängig von der Dosis und dem Zeitpunkt der Einnahme. Als Bestandteil der Antibabypille verhindert Levonorgestrel den Eisprung. Die Konzentration des Progesterons in der „Pille danach“ ist höher. Dadurch werden zusätzlich die Umbauvorgänge in der Gebärmutterschleimhaut gestört. In den fruchtbaren Tagen ist die Gebärmutterschleimhaut hoch aufgebaut und soll eine Art „Bett“ für die Eizelle bieten.

Die Einnahme Levonorgestrels ist bis zu 72 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr möglich. Innerhalb dieser Zeit kann natürlich die Verschmelzung von Eizelle und Spermium bereits stattgefunden haben. Die Einnahme des Medikaments führt zu einer Blutung. Mit ihr wird die Eizelle aus dem Körper der Frau herausgespült. Ob sie bereits befruchtet war oder nicht lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Selbst ein Bluttest gibt in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft kein zuverlässiges Ergebnis.

Fest steht nur: Je eher die Pille nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen wird, desto besser wirkt sie. Bei einer Einnahme innerhalb von 24 Stunden liegt die Schwangerschaftsrate bei 0,4 Prozent, am zweiten Tag bei 1,2 % und am dritten Tag bei 2,7 %.

Rezeptzwang gibt es noch in Polen und Italien

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Die Weltgesundheitsorganisation hat die Notfallverhütung mit Levonorgestrel als eine sichere und gut verträgliche Methode bewertet. Als Nebenwirkungen von Levonorgestrels sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Bauchschmerzen und Zwischenblutungen möglich.

In den meisten Ländern Europas ist die „Pille danach“ rezeptfrei zu kaufen. Außer in Deutschland besteht innerhalb der EU nur in Polen und in Italien eine Verschreibungspflicht. Die Pille kostet rund 20 Euro. Zahlen muss die Kundin das Medikament in jedem Fall selbst, ob mit oder ohne Rezept. Hat sie keins, bleibt noch, sich die Pille über eine in England ansässige Online-Apotheke auf dem Express-Weg liefern zu lassen.

„Meistens sind es junge Frauen, die die Pille danach in Anspruch nehmen“, sagt Dr. Anette Voigt, leitende Frauenärztin der Abteilung Gynäkologie des Gemeinschaftskrankenhauses Witten Herdecke. „Von daher ist es immer eine schwierige Einzelsituation, die Pille danach zu verordnen, obwohl die Eltern nichts davon wissen. Ich denke, es ist bereits ein Zeichen, dass die Frauen Verantwortung übernehmen, wenn sie den Weg in die Praxis geschafft haben.“

Jeder Frauenarzt entscheidet individuell, ob er etwa auch einer 14-jährigen Patientin das Medikament verschreibt, ohne die Eltern einzuschalten. „Klar, wenn da ein junges Mädchen kommt und sagt, bitte, ich hab solche Angst, nach Hause zu gehen, dann ist das immer eine Zwickmühle“, sagt Voigt. Sie ist für eine Abschaffung der Verschreibungspflicht, sieht aber auch die Gefahr, dass ein barrierefreier Zugang zur „Pille danach“ zu einem sorgloseren Umgang mit unverhütetem Sex kommen könnte. „Dass Minderjährige ungewollt schwanger werden, finde ich aber viel schlimmer, als dass ein paar Paare zu lax damit umgehen“, sagt Voigt. „Man muss natürlich aufklären, dass es sich bei der Pille danach um kein herkömmliches Medikament handelt und über eine andere Form der Verhütung nachgedacht werden muss.“

Apotheker wollen eine größere „heilberufliche Rolle“

In der Schweiz ist Levonorgestrel seit 2002 frei zugänglich. „Wir haben hier keine schlechten Erfahrungen gemacht“, sagt Dr. Angelika Kuck, Chefärztin der gynäkologischen Abteilung am Paracelsus-Spital in Richterswil. „Die Apotheker haben eine strikte Aufklärungspflicht und dürfen das Medikament an Patientinnen ab 16 Jahren verschreiben, sofern keine Schmerzen vorliegen. Sie raten Patientinnen nach der Einnahme zu einer Kontrolluntersuchung beim Frauenarzt. Zu mir kommen die Patientinnen also erst zur Nachuntersuchung.“ Kuck kann sich an keine Patientin erinnern, die die Einnahme der „Pille danach“ bereut hätte. „Ein Schockzustand ist bei einer ungewollten Schwangerschaft wesentlich größer“, sagt sie.

Der Gesundheitsminister betont, dass die Beratung in Deutschland auch künftig in der „vertraulichen Atmosphäre einer Praxis“ erfolgen solle, nicht im Notdienst der Apotheke an der Fensterklappe. Die deutschen Apotheker sehen das anders. „Die wohnortnahen Apotheken mit ihrem niedrigschwelligen und flächendeckenden Nacht- und Notdienst können die Patienten kurzfristig versorgen, inklusive der notwendigen Beratung“, sagte Dr. Andreas Kiefer, Apotheker aus Koblenz und Präsident der Bundesapothekerkammer der „Welt“. „Apotheker können die Arzneimittelsicherheit gewährleisten und Verantwortung dafür übernehmen, dass Medikamente nicht missbräuchlich angewendet werden.“

Die Apotheker diskutieren ohnehin derzeit ihr Leitbild. Sie möchten ihre „heilberufliche Rolle der öffentlichen Apotheken aktiv gestalten“ und offensichtlich auszuweiten. Anders ausgedrückt: Die Apotheker wollen sich verstärkt als eine Alternative zum Arztbesuch anbieten. Rezeptpflichten aller Art stehen diesem Plan naturgemäß im Wege. Im kommenden Herbst soll das neue Leitbild auf dem Apothekertag vorgestellt werden.

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