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Lafontaine rügt Gabriel als "verkappten Trotzkisten"

Ex-Parteichef und Radikalrhetoriker Lafontaine kritisiert auf dem Marxistenkongress SPD-Chef Gabriel – und einen neuen Lieblingsfeind.

Die Systemfrage soll an diesem Abend gestellt werden. Zunächst aber werden auf dem Sportplatz im Berliner Stadtteil Kreuzberg ganz kapitalistisch T-Shirts verkauft. Sie zeigen Karl Marx , vierfach und bunt im Andy-Warhol-Stil, oder tragen Sprüche wie „Anti-Capitalist“ oder „Make Capitalism History“. Drinnen dann im Café des in die Jahre gekommenen Veranstaltungsgebäudes gibt es politisch korrekte Afri-Cola oder Rotwein, den gut gefüllten Becher für solidarische 1,50 Euro.

Der Titel des Kongresses, das Wortspiel „Marx is Muss“, flattert als Banner mit stilisierter Faust in den Abendhimmel, als Oskar Lafontaine die Bühne betritt. Für den Ex-Parteichef der Linken ist der Auftritt ein Heimspiel.

Fundamentalistische Gruppierung innerhalb der Linkspartei

Die rund 300 Menschen, die sich auf dem Platz drängen, gehören überwiegend zu jener fundamentalistischen Gruppierung innerhalb der Linkspartei, die sich „Marx21“ nennt und die viertägige Konferenz organisiert hat. Sie eint der Glaube, dass der Kapitalismus überwunden werden muss und jegliche Regierungsbeteiligung der Linken des Teufels ist.

Der Radikalrhetoriker Lafontaine wird entsprechend euphorisch empfangen. Er weiß um die Brisanz seines Auftritts. Marx21 steht in der trotzkistischen Tradition, die die Unterwanderung gesellschaftlicher Gruppen und Parteien zur Strategie erklärt hat.

Druck wegen der Antisemitismus-Debatte

Auch im Verfassungsschutzbericht wird die Gruppierung erwähnt. Hinzu kommt, dass die Linke wegen des Vorwurfs des Antisemitismus in den vergangenen Wochen stark unter Druck geraten ist. Auch die von Parteichefin Gesine Lötzsch ausgelöste Kommunismus-Debatte ist noch nicht vergessen.

Deshalb geht Lafontaine gleich zum Frontalangriff über: Kommunismus, Antisemitismus, Trotzkismus – das alles seien „Reizvokabeln“. Nirgendwo werde die Kommunismus-Debatte so beschränkt wie in Deutschland geführt. Lafontaine verweist auf das Beispiel Frankreichs:

"Mauer, Stacheldraht und Stalin"

Dort sei das K-Wort untrennbar mit der Résistance verbunden. Zu platt sei in Deutschland die Verkürzung des Kommunismus auf „Mauer, Stacheldraht und Stalin“, man solle lieber einmal der im Westen vergessenen kommunistischen Widerstandskämpfer gegen die Nazis gedenken.

Der 67-Jährige gesteht Antisemitismus in der Linken ein, allerdings nur als vereinzeltes Phänomen, um gleich wieder zurückzuschlagen: Den Aufarbeitungsbedarf habe die CDU, die viele einstige NS-Mitglieder aufgenommen habe, sowie die FDP mit ihrer Personalie Jürgen Möllemann.

SPD-Chef Sigmar Gabriel und den Verfassungsschutz nennt Lafontaine „verkappte Trotzkisten“, da sie versuchten, die Linke zu „unterwandern“. Selbst Guido Westerwelle stellt Lafontaine unter Trotzkismus-Verdacht: Schließlich befürworte dieser die Volksaufstände in den arabischen Ländern und damit die „permanente Revolution“. Das Publikum in Kreuzberg quietscht vor Vergnügen.

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Es wird an diesem Abend noch mehr atemberaubende Umdeutungen geben. Arbeitgeber mutieren bei Lafontaine zu „Arbeitnehmern“ – zu vampiresken Figuren, die ihre Angestellten skrupellos aussaugen. Auch der Begriff des Eigentums wird neu definiert: Falsch sei, dass er die „Enteignung“ der großen Unternehmer fordere, sagt Lafontaine:

"Keine demokratischen Verhältnisse"

„Ich möchte vielmehr verhindern, dass Frau Quandt und Frau Klatten immer weiter ihre Arbeitnehmer enteignen.“ Demokratisch solle der Systemwechsel vonstattengehen, sagt Lafontaine, die Diktatur des Proletariats habe sich als Irrtum erwiesen.

Seine ganz eigene Definition von Demokratie liefert er dabei gleich mit: Die müsse nicht formal, sondern vom Ergebnis her beurteilt werden. In einem Land mit Sozialabbau und Lohnkürzungen herrschten folglich „keine demokratischen Verhältnisse“, auch wenn dies unter einer mehrheitlich gewählten Regierung geschehe.

Grüne als die neuen Gegner

Politisch hat Lafontaine einen neuen Gegner ausgemacht. Die SPD hält er nach dem Abgang von Gerhard Schröder offenbar für überwunden, nun sind die Grünen dran. Eine „Mogelpackung“ seien diese, weil sie Kriege mit uranhaltiger Munition unterstützten. Auch seien sie nicht wahrhaft ökologisch, da sie Energiegroßprojekte befürworteten, statt auf dezentrale Lösungen zu setzen.

Immer wieder beschwört Lafontaine die „Haltelinien“, die Bedingungen, die die Linke für eine Regierungsbeteiligung stellen müsse: kein Sozialabbau, kein Personalabbau. Dass diese im neuen Programmentwurf der Linken bereits abgeschwächt wurden, sagte er nicht. Auch aus dem Publikum fragt niemand nach: Offenbar haben die meisten Anwesenden das Dokument nicht gelesen.

Vermisst das Wort "Liebe"

Lafontaine aber ist längst zu seinem eigenen Grundsatzprogramm geworden. Nur dass er – befreit von der Verantwortung, die er als Linke-Chef hatte – niemandem mehr Rechenschaft ablegen muss. Und er beschließt den Abend mit einer letzten Umdeutung. Er vermisse das Wort „Liebe“ im Parteiprogramm der Linken, sagt Lafontaine.

Dann zitiert er den evangelischen Theologen Paul Tillich, der im demokratischen Sozialismus einst „eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der Gesellschaft“ wähnte: „Da ist was dran.“ Das hätte den Besuchern des Evangelischen Kirchentags auch gefallen.

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