Eigentlich war man im Bremer Bildungssenat gerade so richtig guter Dinge, schließlich hatte man zu Beginn des neuen Schuljahres ein Pflichtjahr für alle Kinder mit Sprachförderbedarf umgesetzt. Dann kam eine erneute Hiobsbotschaft.
In der Langzeitanalyse des Bildungsmonitors bescheinigten die Autoren des Instituts der Deutschen Wirtschaft nun eine dramatische Verschlechterung des Bildungsniveaus in Deutschland. Das Schlusslicht nach Brandenburg und Berlin: Bremen. Besonders stark gesunken sind die Ergebnisse von Kindern aus Haushalten mit Migrationshintergrund.
Kein Wunder, ätzte die Bremer Opposition. „Wir wissen genau, welche Stadtteile besonders benachteiligt sind“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der CDU, Yvonne Averwerser, „und es ist dort noch nicht gelungen, die Schulen und Kitas zu stärken, um die Sprachkompetenzen ausbauen zu können.“
Das Land Bremen weist mit rund 37 Prozent den höchsten Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund aller Bundesländer auf. In der Verteilung tun sich große Unterschiede auf. Der niedrigste Anteil von Einwohnern mit Migrationsgeschichte in einem Ortsteil liegt bei 13,5 Prozent und der höchste bei 67,9 Prozent – etwa im Bremer Stadtteil Gröpelingen. In den Kitas müssen sich dort die Erzieherinnen teilweise mit Gesten verständigen, damit die Kinder sie verstehen.
Die Studienautoren sind sich einig: Es fehlt an gezielter Förderung der Sprachkompetenz in den Kitas. „Wir brauchen eine Vorschulpflicht für alle, die nicht oder schlecht Deutsch sprechen“, forderte der Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft Thorsten Alsleben.
In Bremen gilt diese Kitapflicht nun seit diesem August. „Alle Kinder, bei denen ein Sprachförderbedarf festgestellt wurde, werden nun zwingend seitens der Behörde in der Kita angemeldet“, sagt der Sprecher des Bildungssenats Aygün Kilincsoy. In diesem Sommer seien durch die verpflichtenden Sprachtests im vergangenen Herbst 355 Kinder in Kitas aufgenommen worden, deren Eltern sie ohne die Verpflichtung Zuhause betreut hätten.
„Das sind ja häufig Eltern und Familien, die schwer zu erreichen sind, und bei denen viel Erklärungsarbeit nötig ist“, sagt Kilincsoy. Das an den Senat angegliederte Institut für Qualitätsentwicklung hatte bereits vor den Tests im vergangenen Oktober an den Haustüren der Familien geklingelt, die ihre viereinhalbjährigen Kinder bislang nicht in die Kita gegeben hatten.
Es werde ein Sprachtest folgen, an dem sie bitte teilnehmen sollten, wurden sie aufgefordert. Aber nicht alle Familien ließen sich überzeugen, andere gaben ihr Kind trotz eines attestierten Förderbedarfs nicht in die Kita. Ab dem Herbst nun soll das Jugendamt mithelfen nachzuhaken, wenn die Familien ihre Kinder trotz Sprachdefizite zu Hause betreuen wollen.
Solange es nicht genügend Kita-Plätze gibt, sollen die Kinder mit Sprachförderbedarf bevorzugt werden. Das Thema hat Priorität: Bei der Hälfte aller Vorschulkinder war im vergangenen Jahr der Bedarf einer Sprachförderung festgestellt worden. Alle Kinder mit Sprachdefiziten haben dieses Jahr einen Platz bekommen, 1330 andere Anmeldungen konnten nicht berücksichtigt werden. „Mit Sprachförderung in der Grundschule zu beginnen ist zu spät“, sagte Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD) WELT. „Wir müssen vom Bedarf der Kinder aus denken. Und wenn Förderbedarf festgestellt wird, dann muss es auch verbindlich sein, die von uns zur Verfügung gestellten Maßnahmen anzunehmen. Das liegt im Interesse der Kinder.“
Hamburg setzt auf frühere Schulpflicht
Dass das Konzept erfolgreich sein kann, zeigt das Nachbarland Hamburg. Zwei Jahre nach dem dramatischen Todesfall der siebenjährigen Jessica im Jahr 2005 – niemandem war aufgefallen, dass sie nicht zur Schule angemeldet worden war – wurden damals die Behörden untereinander vernetzt. Seitdem organisiert der Bildungssenat verpflichtende Sprachtests für alle viereinhalbjährigen Kinder; auch die, die bereits die Kita besuchen.
Wenn bei einem Kind ein Sprachförderbedarf festgestellt wird, gilt die Schulpflicht bereits ein Jahr eher. Die zuständige Grundschule nimmt dann entweder das Kind in die Vorschule auf, oder lässt sich nachweisen, dass es in der Kita angemeldet ist. Passiert das nicht, drohen Strafen. Für Kinder mit unterdurchschnittlichen Kenntnissen, die bereits eine Kita besuchen, wird ein Förderplan erstellt: Ergotherapeuten, Logopäden oder Sprachlernkräfte kommen vormittags in die Kita und trainieren die Kinder einzeln oder in kleinen Gruppen.
In der Folge dieser Maßnahmen arbeitete sich Hamburg im Länderranking des Bildungstrends in den vergangenen zehn Jahren von Platz 14 auf Platz sechs vor.
Auch Berlin will nun auf den Zug aufspringen. Ab dem kommenden Jahr sollen immerhin alle Kinder, die nicht zur Kita gehen, zu Sprachstandtests und ab 2025 dann zum Kita-Besuch verpflichtet werden. „In der letzten Instanz werden wir auch die Maßnahme der Bußgelder nicht scheuen“, sagte Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU).
Ob das reichen wird, um die auch in Berlin desaströsen Sprachkenntnisse der Grundschüler zu verbessern? Der neue Präsident des Deutschen Lehrerverbandes ist skeptisch. „Ich sehe einfach, dass die meisten Vorschulkinder bereits die Kita besuchen“, sagt Stefan Düll. „Eine zusätzliche Pflicht wird meines Erachtens nicht genug bewirken.“ Zu eklatant seien die Sprach- und Lerndefizite, die vielen Kindern einen gelingenden Schulstart unmöglich machten.
Eine Qualitätsoffensive in den Kitas müsse her – hervorgerufen vor allem durch mehr Personal. „Wir benötigen in den Kitas (wie auch in den Schulen) eine Versorgung von 130 Prozent, damit das Personal in Fortbildungen gehen kann oder bei Krankheit gut ersetzt wird, ohne dass der alltägliche Betrieb und damit die Förderung der Kinder leidet“, fordert Düll.
Seit vielen Jahren leitet er ein Gymnasium im Raum Augsburg. Die Zusammensetzung der Schüler habe sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. „In meiner Heimatstadt Augsburg sehe ich, dass die Grundschulkinder zu deutlich mehr als der Hälfte aus Familien mit Migrationshintergrund stammen“, sagt Düll. „Das Personal in Kitas muss darauf vorbereitet werden und wir müssen in Kitas deutlich aufstocken. Nur mit der frühkindlichen Bildung können wir das Sprachniveau in der Grundschule wieder anheben.“
In Bremen stehen momentan viele Kitas leer – es gibt nicht genug Erzieher. Um wieder mehr Gruppen eröffnen zu können, will der Senat nun Kita-Assistenten, also sozialpädagogische Assistenten oder Kindertagespfleger einstellen. Kinder mit Sprachförderbedarf sollen aber ausschließlich durch Fachpersonal betreut werden. Heißt es.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes wurde Bildungssenatorin Günther-Wünsch zunächst der SPD zugeordnet statt der CDU. Wir haben den Fehler korrigiert.