WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Reise
  3. Fernreisen
  4. Provinz Henan: China tickt anders – auch am Gelben Fluss

Fernreisen Provinz Henan

China tickt anders – auch am Gelben Fluss

Tradition und Fortschritt: In wohl kaum einem anderen Land prallen Geschichte, Moderne und Kultur so ungeniert aufeinander und werden derart inszeniert wie in China. Das wirkt oft verstörend.
Schwäne auf dem Schwanensee am Gelben Fluss in der chinesischen Provinz Henan Schwäne auf dem Schwanensee am Gelben Fluss in der chinesischen Provinz Henan
Schwäne auf dem Schwanensee am Gelben Fluss in der chinesischen Provinz Henan
Quelle: Getty Images/Sino Images

Es war die Mitreisende Andrea, die zum ersten Mal diesen Begriff erwähnte, den sie in einem chinesisch-deutschen Onlinewörterbuch gefunden hatte: „Jü Hui“ – was so viel heißt wie „Gemeinschaftssinn“ oder „Gruppengefühl“. Oder, ganz frei übersetzt auch: „Los, los, wir müssen weiter! Zum Vordermann aufschließen.“

Und er sollte sich als Motto dieser Reise herausstellen. Den Reiserhythmus betreffend, aber auch das bereiste Land selbst, das dem Fortschrittsglauben manche Facetten der eigenen Geschichte opfert. Das erste „Jü Hui“ also wurde an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo der Provinz Henan an der Autobahn zwischen Feng-Dings und Dings-Xhao ausgesprochen, weil zwei Mitglieder unserer Reisegruppe auf die Toilette mussten und den Laden aufhielten.

Immerhin wusste unser Reiseführer Herr Li noch zu verkünden, dass es an dieser Tankstelle eine „Fünf-Sterne-Toilette“ gebe, was bedeute, dass die verwöhnte Langnase in einer Kabine hocken könne, deren Tür zumindest vorhanden sei und sich im günstigsten Fall sogar schließen lasse. Dann aber ging es schon weiter.

Ohne Guide wären wir verloren

Herr Li, dessen hervorragende Deutschkenntnisse sich auf ein Studium in Heidelberg zurückführen lassen, arbeitet als Reiseführer für das staatliche Fremdenverkehrsbüro. Und er weiß, was in Henan los ist und wie alt und wichtig jede Sehenswürdigkeit ist. Ohne Guide wären ausländische Besucher in diesem unfassbar großen, weiten, heißen, überfüllten, lauten, wuseligen Land vermutlich verloren. Henan ist eine der bevölkerungsreichsten Provinzen Chinas, und sie wurde als erste besiedelt, hat Geschichte.

Quelle: Infografik Die Welt

Wer durchs Reich der Mitte reist, kann getrost all seine Vorstellungen zu Hause lassen, die er aus dem Fernsehen kennt. Denn die chinesische Wirklichkeit ist vermutlich erbarmungsloser, als Bruce Lee es jemals war. Interessanter aber auch.

Unsere Reise begann in Sanmenxia, einer kleineren Gemeinde am Huang He, dem Gelben Fluss, dessen Ufer vor Tausenden von Jahren von Menschen besiedelt wurden, weshalb Henan auch als „die Wiege der chinesischen Nation“ bezeichnet wird.

Der Staudamm in der nahen Drei-Tore-Schlucht, in den 50er- und 60er-Jahren ein Prestigeobjekt der Kommunistischen Partei, stellt das zeitliche Ende dieser Entwicklung dar. Dieses Bauwerk, noch immer eine der größten Talsperren der Welt, darf heute besichtigt werden, und Herr Li erzählt, dass der Speicherraum 35,4 Milliarden Kubikmeter Wasser fasst.

Der Staudamm in der Drei-Tore-Schlucht ist eine der größten Talsperren der Welt. Der Speicherraum fasst 35,4 Milliarden Kubikmeter Wasser
Der Staudamm in der Drei-Tore-Schlucht ist eine der größten Talsperren der Welt. Der Speicherraum fasst 35,4 Milliarden Kubikmeter Wasser
Quelle: picture alliance / dpa

Es war sogar mal auf knapp 70 Milliarden Kubikmeter angelegt, aber daraus wurde nichts, denn man fand rasch heraus, dass das Staubecken jedes Jahr umständlich gespült und so von mehreren Milliarden Tonnen Sediment befreit werden muss, die der Gelbe Fluss auf seinem langen Weg von der Quelle im Gebirgszug Bayankara in der westchinesischen Provinz Qinghai nach Henan transportiert. Das war ein peinlicher Planungsfehler.

Ein Ingenieur, der in den USA ausgebildete Huang Wanli, der dieses Szenario damals erkannte und anmahnte, wurde von Mao Tse-tung in einem Leitartikel der Parteizeitung der „Parteischädigung, der Förderung einer bourgeoisen Demokratie und Bewunderung fremder Kulturen“ beschuldigt. Die Partei hatte schließlich immer recht.

Anzeige

Und so könnte Herr Li erzählen, dass der Gelbe Fluss wegen der häufigen und verheerenden Überschwemmungen, die wegen des erhöhten Flussbettes im Unterlauf des Stroms auftreten, auch den traurigen Namen „Chinas Sorge“ trägt. Doch das tut er nicht.

Jedes Jahr muss das Staubecken umständlich gespült und so von mehreren Milliarden Tonnen Sediment befreit werden, die der Gelbe Fluss auf seinem Weg von der Quelle im Gebirgszug Bayankara nach Henan transportiert
Jedes Jahr muss das Staubecken umständlich gespült und so von mehreren Milliarden Tonnen Sediment befreit werden, die der Gelbe Fluss auf seinem Weg von der Quelle im Gebirgszug Ba...yankara nach Henan transportiert
Quelle: picture alliance / dpa

Statt die Neugier der Reisenden zu befriedigen, statt kritischer Töne lieber hopphopp wieder hinein in den Bus und rasch weiterfahren, denn außer diesem Industriedenkmal hat Sanmenxia auch ein Museum zu bieten, das über den Gräbern eines Fürstenstaates der Westlichen Zhou-Dynastie errichtet wurde, deren Führer sich hier vor etwa 2800 Jahren mit Pferdewagen, Pferden und Hunden bestatten ließen.

Bahntrassen, für die Dörfer weichen mussten

Die Grabbeigaben, die Wagenräder und die Skelette liegen noch genau so in ihren Gräbern, wie die Archäologen sie freilegt haben. Und während das chinesische Volk draußen bei gut 32 Grad im benachbarten Vergnügungspark wimmelt, treffen wir im herrlich kühlen Museum lediglich zwei weitere Touristenpärchen aus Baltimore in den USA sowie Gent in Belgien. „Chinesen gehen eben nicht gerne ins Museum“, sagt Herr Li.

Kleinere Gemeinde heißt in China übrigens: Zu der halben Million Einwohner im Stadtgebiet von Sanmenxia kommen noch einmal rund 1,8 Millionen Menschen in den umliegenden Verwaltungsgebieten dazu. Ein paar Zentimeter Entfernung von Peking auf der Landkarte bedeuten einen 90-Minuten-Flug in Richtung Westen und dann noch mal drei Stunden Busfahrt durch eine Landschaft, die flach ist und ziemlich unspektakulär – sieht man von den vielen verlassenen, platt gemachten Dörfern ab, die sich alle paar Kilometer an das vierspurige Band der Autobahn schmiegen.

Ein Hochgeschwindigkeitszug fährt über eine Brücke in Sanmenxia. Die Eisenbahn ist mit Abstand das wichtigste chinesische Verkehrsmittel
Ein Hochgeschwindigkeitszug fährt über eine Brücke in Sanmenxia. Die Eisenbahn ist mit Abstand das wichtigste chinesische Verkehrsmittel
Quelle: picture alliance / dpa

Aus ihren Ruinen ragen bereits die Betonstelzen für eine neue Trasse der Hochgeschwindigkeitszüge empor, denn die Eisenbahn ist mit Abstand das wichtigste chinesische Verkehrsmittel. Hinter den Stelzen erheben sich gewaltige Trabantenstädte – Hochhäuser mit 30 Etagen und mehr, die sich ebenfalls häufig noch im Bau befinden.

Das soll also der Fortschritt sein, wir blicken skeptisch drein, aber Herr Li erklärt, dass die Dorfbewohner in diesen Hochhäusern erstmals in ihrem Leben eigene Schlafzimmer, Küchen und Bäder besitzen würden und sich die Toilette nicht mehr mit mehreren Familien teilen müssten.

Künstliche Skulpturen und nur ein Original

Spätestens in diesem Moment begreifen wir, dass China anders tickt. In kaum einem anderen Land der Erde prallen Geschichte und Moderne so ungeniert aufeinander, werden alte Strukturen so gnadenlos niedergewalzt, werden Geschichte und Kultur aber auch so hemmungslos wie stolz inszeniert. Das wirkt häufig monströs, kitschig und banal, manchmal auch unfreiwillig komisch, aber auf jeden Fall immer wieder verstörend.

Anzeige

Würde beispielsweise die berühmte Eisenpagode aus dem elften Jahrhundert, die alle Überschwemmungen des Gelben Flusses bisher schadlos überstanden hat, nicht in der ehemaligen Kaiserstadt Kaifeng (heute eine bedeutungslose Stadt), sondern, sagen wir mal, in der alten deutschen Kaiserstadt Aachen stehen, dann bildete dieses einmalige historische Kleinod garantiert nicht den Mittelpunkt eines gigantischen „Scenic Parks“, der irgendwie alles an chinesischer Geschichte beinhaltet – nur keine Museumspädagogik. Doch genau so verfahren sie an Ort und Stelle.

Detail der Eisenpagode aus dem elften Jahrhundert in der ehemaligen Kaiserstadt Kaifeng
Detail der Eisenpagode aus dem elften Jahrhundert in der ehemaligen Kaiserstadt Kaifeng
Quelle: Getty Images/Lonely Planet Images

An künstlichen Bachläufen stehen Dutzende von Reihern aus Plastik (der Reiher ist das chinesische Symbol für den „richtigen Weg“), vereinzelt pinkeln lustig grinsende Kinderstatuetten mit nacktem Popo aus vermeintlichen Bronze-Schniedeln (tatsächlich handelt es sich ebenfalls um Kunststoff) in die Bäche; wobei das Plätschern von atonaler chinesischer Fahrstuhlmusik begleitet wird, denn die künstlichen Bäumchen entlang der blitzsauberen Parkwege beherbergen alle einen Lautsprecher.

Fast alle alten Gebäude, die auf dem Parkgelände oder im Stadtzentrum Kaifengs stehen – die Eisenpagode bildet da eine rühmliche Ausnahme –, sehen alt aus, doch sie zählen gerade mal 20 Jahre – die letzte Flut 1994 hinterließ große Zerstörungen.

Aber schon im nächsten Moment stehen wir in einem wunderhübschen Bonsai-Wäldchen, in dem die (natürlichen) Bäume – einige unter bewachsenen Pergolen, die mit farbenfrohen Lampions dekoriert sind – akkurat klein gehalten werden; so klein, dass ihre Äste keinen Lautsprecher tragen können. Zum Glück.

Sieht man immer seltener: eine Chinesin im Schlafanzug beim Einkaufen
Sieht man immer seltener: eine Chinesin im Schlafanzug beim Einkaufen
Quelle: picture-alliance/ dpa

Schlafanzug als Statussymbol

Und da sitzt dann auch schon der Bilderbuchchinese auf einer Holzbank: ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und langem, weißen Spitzbart, der regungslos in die Ferne schaut. Er ist zweifellos echt, aber er trägt merkwürdigerweise einen Schlafanzug aus dünnem Flanell, dabei ist es kurz vor Mittag, doch Herr Li klärt uns auf: „Früher waren Schlafanzüge etwas, was sich nur die Wohlhabenden leisten konnten – und die zeigten das dann auch gerne in der Öffentlichkeit.“

Die jüngeren Generationen ziehen inzwischen jedoch das Auto dem Pyjama als Prestigeobjekt vor. Und als wir am Nachmittag erneut zwei Stunden auf der rumpeligen Autobahn unterwegs nach Dengfeng zu den Shaolin-Mönchen sind, fällt uns auf, dass praktisch nur zwei Sorten Fahrzeuge in China zu existieren scheinen: Luxuslimousinen, mindestens jedoch obere Mittelklasse, und rote Lastwagen, die zumeist randvoll beladen sind mit Baumaterialien.

Dengfeng ist das Zentrum für chinesische Kampfkünste, vor allem für Kung-Fu, und als unser Bus am Trainingsgelände unterhalb des Shaolin-Klosters vorbeirollt, üben auf dem riesigen, gepflasterten Platz des Camps etwa 800 junge Männer und einige Frauen mit viel Gebrüll Tritte und Schläge gegen imaginäre Gegner.

Auf dem Trainingsgelände unterhalb des Shaolin-Klosters üben Hunderte junge Männer und einige Frauen mit viel Gebrüll Tritte und Schläge gegen imaginäre Gegner
Auf dem Trainingsgelände unterhalb des Shaolin-Klosters üben Hunderte junge Männer und einige Frauen mit viel Gebrüll Tritte und Schläge gegen imaginäre Gegner
Quelle: picture alliance / dpa

Etwa 100 jugendliche Kämpfer hängen in einem kegelförmigen Netzgerüst an einem Kran und studieren eine der akrobatischen Schwebe-Choreografien ein, mit denen die „Shaolin-Kämpfer“ im Jahre 2008 bei den Olympischen Sommerspielen in Peking die Welt begeisterten.

Als unser Mitreisender Nicolas das Spektakel mit ein paar Fotos ablichtet, kommt ein Trainer im Laufschritt auf ihn zu und windet ihm, ohne lange zu fackeln, die Kamera aus der Hand und löscht die Bilder. Widerspruch ist zwecklos und wäre wohl auch ziemlich ungesund.

Alle träumen von der großen Kung-Fu-Karriere

Etwa 15.000 Kung-Fu-Schüler leben und trainieren hier auf der Tagou-Akademie, der einzigen Schule, die der Abt des Shaolin-Klosters an diesem heiligen Ort zugelassen hat. Ungefähr 50 weitere solcher größerer und kleinerer Kampfsportschulen sind direkt in Dengfeng angesiedelt.

Und alle, die hierherkommen, sind vom Traum beseelt, vielleicht einmal die große Karriere zu machen beim Film – was nur die wenigsten schaffen. In einem Heftchen stehen die mahnenden Worte des Akademiegründers: „Handle nach hohen Idealen. Strebe nach Weisheit und trainiere den Körper. Fürchte niemals das Böse. Kämpfe stets für Gerechtigkeit.“

Etwa 15.000 Kung-Fu-Schüler leben und trainieren auf der Tagou-Akademie, der einzigen Schule, die der Abt des Shaolin-Klosters an diesem heiligen Ort zugelassen hat
Etwa 15.000 Kung-Fu-Schüler leben und trainieren auf der Tagou-Akademie, der einzigen Schule, die der Abt des Shaolin-Klosters an diesem heiligen Ort zugelassen hat
Quelle: picture alliance / dpa

Wer sich daran hält, kann zumindest mit einem Job bei der Armee oder einem privaten Sicherheitsdienst rechnen. Ein Schulabschluss ist in der Ausbildung enthalten. Umgerechnet rund 200 Euro kostet ein Kung-Fu-Internat pro Monat, viel Geld für eine chinesische Familie. Europäer und Amerikaner, die diesen Kampfsport erlernen wollen, müssen mit dem Dreifachen rechnen. Dafür sind sie von den chinesischen Mitschülern getrennt, auch beim Essen und Schlafen in den Mehrbettzimmern.

Doch das Training, sagt der 20-jährige Dong Bao, sei für alle gleich hart. Er will Kung-Fu-Lehrer werden, steht um fünf Uhr morgens auf, um dann praktisch ununterbrochen bis sieben Uhr abends zu lernen und zu trainieren. Dong Bao gilt als einer der Besten: Immerhin durfte er schon mal ins Ausland, um bei „Wetten, dass..?“ aufzutreten.

Auch in Dengfeng steht der Kampfkünstler abends auf der Bühne einer Freiluftarena, die in einen karstigen Berghang hineingehauen wurde, und ist Teil eines Sing- und Tanzspiels mit gut 250 Mitwirkenden, das von der Entstehung des Kung-Fu vor rund 1500 Jahren erzählt.

Zwei Stunden später sagt Herr Li in der Halle des Hotels: „Ich bitte Sie jetzt alle, sich rasch schlafen zu legen. Morgen ist wieder ein langer Tag!“ „Jü Hui“ kennt eben keine Pausen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema

Themen