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Rudolphs Weg vom Weltmeister zum Knastbruder

Marco Rudolph vor der Justizvollzugsanstalt in Dissenchen, in der er bis Juli 95 Tage eisaß Marco Rudolph vor der Justizvollzugsanstalt in Dissenchen, in der er bis Juli 95 Tage eisaß
Marco Rudolph vor der Justizvollzugsanstalt in Dissenchen, in der er bis Juli 95 Tage eisaß
Quelle: Reto Klar
Marco Rudolph hätte der Nachfolger Henry Maskes werden sollen, doch dann ging vieles schief im Leben des Boxers. Nun musste ihn sein früherer Trainer aus dem Gefängnis holen. Doch sein Lebensmut wird vom sozialen Abstieg nicht erschüttert. Er ist überzeugt: "Ich komme aus dem Dreck wieder raus."

Als er aus dem Auto steigt, zieht er die Kapuze seines schwarzen Baumwollsweaters tief ins Gesicht. „Reiner Selbstschutz“, sagt Marco Rudolph. Er möchte nicht, dass ihn jemand erkennt. Mit großen Augen fixiert er die graue Betonwand, die sich wenige Schritte entfernt wie einst die Berliner Mauer unüberwindbar vor ihm auftürmt. Gut vier Meter ist das monströse Bauwerk hoch, Hunderte Meter lang. Zum ersten Mal ist Rudolph, 39, an den Ort zurückgekehrt, der seinem Achterbahnleben den vorläufigen Tiefpunkt versetzt hat.

Er steht vor der Justizvollzugsanstalt in Dissenchen, einer Gemeinde von Cottbus. „Hier kann keiner ausbrechen“, stellt Rudolph beeindruckt fest und sagt: Das habe er aber auch nicht vorgehabt, als er dort einsaß. Er, der frühere Boxstar, der mit Henry Maske in der DDR-Nationalstaffel stand, der nach der Wende Amateur-Weltmeister wurde und die olympische Silbermedaille gewann, der als Profi um den Weltmeistertitel kämpfte.

Die Zeiten, in denen er sich über seine Heimatstadt Cottbus hinaus Bewunderung erwarb, liegen lange zurück. Außer Erinnerungen ist dem einstigen Leichtgewichtler von seiner ruhmreichen Sportlaufbahn kaum etwas geblieben. Einige Pokale stehen noch in irgendwelchen Kneipen. Wo seine wertvollen Medaillen sind, wisse er nicht. Rudolph vermutet, „dass die meine Ex verscheuert hat“. Mit seiner ehemaligen Ehefrau hat er eine Tochter. Die Frau ließ sich 2005 von ihm scheiden. Sie war es auch, die ihn hinter Gitter gebracht hat. Schuld daran war er selbst.

Kein Unterhalt für Tochter Lara

Seit Jahren hatte der Boxer keinen Unterhalt für die heute 13-jährige Laura gezahlt. Über 3500 Euro standen aus. Die Polizei suchte Rudolph per Haftbefehl. Als ein Ordnungshüter ihn am 8. März dieses Jahres fand und fragte, ob er die Rückstände bezahlen wolle, verneinte er. Daraufhin ging es in einem fensterlosen Transporter direkt in die „Klinik“, wie Rudolph das Gefängnis in Dissenchen nennt. Endstation war die Einzelzelle 4232 auf der zweiten Etage im Block vier. „Was sollte ich machen“, entgegnet Rudolph achselzuckend. „Ich habe keine Arbeit, also auch kein Geld.“

Rudolph sieht sich selbst als Grenzgänger. Sein Leben spielt sich in Extremen ab, normal zu sein ist nicht sein Ding. Als 12-Jähriger wollte er sich das Leben nehmen, gibt er erstmals zu. Warum? Das bleibt sein Geheimnis. Angst vor dem Tod hatte er weder früher noch heute. Dass er als Teenager nicht frühzeitig auf die schiefe Bahn gerät, verdankt er der Aufnahme in die Sportschule. „Hätte ich das nicht geschafft, wäre ich als Punker geendet.“ Die letzten drei Worte wiederholt er noch einmal mit Nachdruck: „Als Punker geendet.“

Auf der Strasse abhängen fand er cool

Haare färben, abhängen auf der Straße, rebellieren, das fand er cool. Er hätte gern mal einen Joint geraucht oder sich eine Spritze gesetzt. „Vermutlich wäre ich dann aber nicht mehr von der Nadel losgekommen“, glaubt er.

Ungewöhnlich offen spricht Rudolph über seinen Lebensweg, der typisch ist für viele seiner Berufskollegen. Im Ring standen sie ihren Mann. In der sogenannten 13. Runde jedoch, also der ersten nach dem Karriereende, scheiterten sie dann in unschöner Regelmäßigkeit. Ihn habe die Selbstständigkeit in den Ruin getrieben, behauptet Rudolph. Damit kam er überhaupt nicht klar.

Als er im Juli 1995 ins Profilager des Hamburger Universum Boxstalls wechselt, verdient er monatlich 8000 Mark. Für eine Familie mit Kleinkind gutes Geld. Die Ausgaben aber übersteigen stets die Einnahmen. Als er im Frühjahr 1998 seinen einzigen WM-Kampf absolviert, bleiben von der sechsstelligen Börse nach allen Abzügen nur 12.000 Mark übrig. Das finanzielle Desaster nimmt seinen Lauf. Unbezahlte Rechnungen stapeln sich. Erst recht, als er nach der Niederlage im WM-Kampf mit dem Profiboxen aufhört. „Ich tat das, ohne zu wissen, was ich danach machen soll“, erzählt Rudolph reumütig. „Das war saudumm.“

Tingeltour durch Deutschland

Fortan tingelt er durch Deutschland, wohnt am Bodensee, in Gelsenkirchen, Augsburg, Berlin oder Cottbus. Er verdingt sich als Fleischer, montiert Sonnenkollektoren, jobbt als Fitnesstrainer oder Kneipier. Manchmal ist er arbeitslos. Der Führerschein wird ihm entzogen. Mittlerweile muss er auch noch für eine uneheliche Tochter zahlen. Der Schuldenberg wächst auf über 60.000 Euro. Da er keinen Ausweg sieht, meldet er im Mai vorigen Jahres private Insolvenz an.

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Der einst Umjubelte besitzt nichts mehr. Seine Turnschuhe haben Risse, die ausgewaschenen Jeans, das T-Shirt und den Pullover kann er nicht täglich wechseln. Die Barthaare sprießen wild. Derzeit wohnt er bei Kumpels. Morgen hat er beim Arbeitsamt den nächsten Termin. Der Hartz-IV-Empfänger hofft: „Vielleicht haben sie was. Ich möchte endlich wieder Geld verdienen.“ An ein Comeback als Boxer denkt er nicht.

"Ich komme aus dem Dreck wieder raus"

Rudolphs Lebensmut wird vom sozialen Abstieg nicht erschüttert. „Ich komme aus dem Dreck wieder raus, ohne Alkohol, ohne Drogen“, sagt er. Dabei könne er auf frühere Mitstreiter bauen. Zu ihnen zählt Ulli Wegner, 67. Als der Berliner Trainer hört, weshalb Rudolph einsitzt, bezahlt er spontan den offenen Unterhalt. Der Freigekaufte darf sechs Wochen früher die Haftanstalt verlassen. „Rudi ist kein schlechter Junge“, so Wegner. „Der hat im Knast nichts zu suchen.“

Wegner betreute Rudolph 1991 beim WM-Sieg gegen Oscar de la Hoya. Er sekundierte auch ein Jahr später, als Rudolph das olympische Finale in Barcelona gegen de la Hoya verlor. Für den „Golden Boy“ aus Los Angeles begann mit dem Olympiasieg der glamouröse Aufstieg zum reichsten Boxer der Geschichte. Als der millionenschwere Unternehmer von Rudolphs tiefen Fall erfährt, zeigt er Mitgefühl. „Es tut mir leid um Marco“, sagt de la Hoya, 36, und rät ihm: „Verliere nie den Glauben an dich selbst, dann schaffst du es nach oben.“

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