Es gibt Leute, die fälschlicherweise behaupten, Manuel Neuer habe am Samstag bei seinem Comeback nicht viel zu tun gehabt. In Wahrheit ist der Torwart des FC Bayern achtmal jubelnd in die Luft gesprungen, hat sich jedes Mal um die halbe Achse gedreht und nach der Landung die Faust rausgehauen – und dann war da auch noch diese mirakulöse Fußabwehr in der ersten Halbzeit.
Der Darmstädter Marvin Mehlem kam zum Schuss, unbehelligt, frei vor dem Tor. So ein Tor ist 7,32 Meter breit und 2,44 hoch, und normalerweise fragt man da als Schütze den Torwart: „Wohin hättest du ihn gern?“
Aber Manuel Neuer ist kein normaler Torwart. Für Mehlem wurde das Tor immer kleiner, und Neuer immer größer. Es war ein bisschen wie in jenem berühmten alten TV-Werbespot, in dem ein Elfmeterschütze, als er Olli Kahn vor sich im Kasten sieht, mitten im Anlauf kehrt macht und flüchtet. Mehlem hatte immerhin noch den Mut, zu schießen. Aber der Riese Neuer ist ihm in voller Breite und Höhe entgegengeflogen, sonst hätte Darmstadt im nächsten Moment 1:0 geführt und am Ende nicht 0:8 verloren.
Wenn die Fernsehbilder nicht täuschen, hat Neuer zur Abwehr des strammen Schusses sogar sein Schien- und Wadenbein eingesetzt, das er sich vor fast einem Jahr beim Skifahren gebrochen hatte. Kurz: Das Bein hält.
Wann rostet er durch?
Ist Neuer schon wieder der Alte? Jedenfalls hätte man die Bilder der Rettungstat musikalisch unterlegen können mit dem unvergesslichen Song „Er ist wieder da“ von Katja Ebstein. Er ist wieder da – dieser Titel begegnet einem immer wieder, wenn Comebacks besungen oder verfilmt werden müssen. Spontan zu erwähnen ist auch die Kinokomödie „Er ist wieder da“, in der Adolf Hitler 69 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wie aus dem Nichts plötzlich in Berlin wieder auftaucht und große Probleme hat, in der veränderten Welt wieder Fuß zu fassen. Er war einfach zu lange weg.
Jetzt ist Neuer wieder da, aber auch er war sehr lange weg. Das war jetzt sein erstes Spiel seit elf Monaten, und 37 ist er auch schon, also so langsam in einem Alter, in dem das Leben einem Fußballer den Prozess macht. Die gröbsten Zweifler halten ihn für ein Auslaufmodell, zählen seine unaufhörlichen Verletzungen auf, von der Schultereckgelenksprengung über den Mittelfuß bis zum Schien- und Wadenbein, und fragen frech: Wann ist er reif für Abwrackprämie, wann rostet er vollends durch, wann verliert er den Auspuff?
Weil bei den Diskussionen in den sozialen Netzen inzwischen keine Gefangenen mehr gemacht werden, muss Neuer sogar Dinge über sich lesen, die mit seiner Leistungsfähigkeit oder Klasse als Torwart gar nichts zu tun haben. Er habe, bemängelte beispielsweise übers Wochenende ein Torsten K. hier im WELT-Forum, „seine spielfreie Zeit genossen, seine Millionen gezählt und im Krankenbett breit grinsend sein eingegipstes Bein und seinen hochgestreckten Daumen gezeigt“.
Es gibt zwei Kategorien von Neuer-Skeptikern: Die einen gönnen ihm kein Comeback, und die anderen trauen es ihm nicht mehr zu – und denken an den tragischen Ausgang bei Axel Schulz.
Fast Weltmeister im Schwergewicht wäre der in der Blüte seines boxerischen Wirkens geworden, sein bester Kampf war der gegen George Foreman. Später hat er dann eine Pause gemacht und nur noch Dinge getan, die alle gesünder waren als das Boxen: Schulz wurde TV-Kommentator, warb auf seiner Baseballmütze für Korkenzieher, schrieb ein Buch über Nudelgerichte, spielte in einem „Tatort“ die Leiche und stöhnte angesichts jedes Boxrings: „Gott sei dank muss ick da nimmer rin.“ Doch dummerweise ging er dann doch wieder rin und wurde bei seinem Comeback fast erschlagen – jedenfalls hatte er sich zuvor als Leiche im „Tatort“ wohler gefühlt.
Bayern-Fans sind in der Causa Neuer gespalten
Auch Manuel Neuer hätte aufhören sollen, sagen jetzt viele. Sogar die Bayernfans waren zuletzt in Umfragen so gespalten wie seit 2011 nicht mehr, als in der Allianz-Arena massenhaft Zettel mit der Aufschrift „Koan Neuer!“ hochgehalten wurden. Der Ungeliebte ist damals dann trotzdem gekommen, und erst als er sich als „der mit Abstand beste Torwart der Welt“ (Franz Beckenbauer) entpuppte, kehrte Ruhe ein. Jetzt stellt sich die Frage, ob Neuer auch mit 37 nochmal der beste Torwart der Welt werden kann, und vielleicht sollten die Fans die Suche nach der richtigen Antwort diesmal gleich den Experten überlassen, am besten Sepp Maier, ihrer legendären „Katze von Anzing“. Schon letzte Woche hat der Exweltmeister prophezeit: „Wie Phönix aus der Asche wird Neuer aufsteigen, die ganzen Diskussionen um ihn werden wieder verstummen.“
Maier weiß es. Denn er war nicht Fan, sondern Torwart, und spürt: Wenn Neuer gesund ist, ist es egal, ob er auf dem Papier 37 ist, im Tor bleibt er immer 27, wie früher Dino Zoff oder Gianluigi Buffon, die ewig jungen Italiener. Er ist immer noch der perfekte Torwart. Er hält mit seinen Robinsonaden und seiner Strafraumbeherrschung hinten dicht, fängt in der Tiefe des Raumes notfalls köpfend die Konter des Gegners ab und kann das Spiel nach vorne beidfüßig virtuos eröffnen und zielgenaue Steilpässe schlagen. Und selbst wenn er künftig nur noch in acht von zehn Spielen so gut wie 2014 ist, wäre er immer noch ein Geschenk – damals wäre das DFB-Team ohne ihn nicht Weltmeister geworden, sondern im Achtelfinale gegen Algerien jämmerlich ausgeschieden und bei der Rückkehr in der Heimat mit Tomaten und fliegenden Südfrüchten aller Art empfangen worden – als „bester Libero seit Franz Beckenbauer“ ist Neuer vom damaligen Bundestorwarttrainer Andy Köpke gewürdigt worden.
Kane sieht Neuer als „einen der besten Torhüter der Geschichte“
Harry Kane sieht es heute noch so. Der Beute-Bayer aus London schätzt Neuer als „einen der besten Torhüter der Geschichte“, inklusive seiner Persönlichkeit und Ausstrahlung auf Mitspieler und Gegner. Bayerntrainer Thomas Tuchel hat mit drei präzisen Sätzen dieser Tage alles gesagt: „Was ich im Training wahrnehme, ist ein komplett neues Level an Torwartspiel. Manuel macht jeden Abwehrspieler und seine Torwartkollegen stärker. Das ist eine eigene Liga.“
Jedenfalls darf Neuer jetzt wieder als Erster aus dem Bayernbus steigen. Und ist wieder Kapitän. Und sogar zum Bundestrainer hat er schon wieder Kontakt. „Er hat mir“, erzählt der Rückkehrer, „vor dem Spiel Glück gewünscht“. Das ist mehr als eine höfliche Geste, das ist vorausschauende Strategie. Die beiden waren sich am Ende der gemeinsamen Bayernzeit wohl nicht mehr ganz grün, weil Nagelsmann auf die weitere Mitarbeit des Torwarttrainers und Neuer-Vertrauten Topalovic keinen gesteigerten Wert mehr legte. Aber jetzt ist Nagelsmann Bundestrainer – und Neuer womöglich bald wieder der beste deutsche Torwart.
Die Nachricht vom Glückwunsch muss am Samstag blitzschnell bis Barcelona durchgedrungen sein. Anders ist die unglückliche Figur jedenfalls nicht zu erklären, mit der Marc-Andre ter Stegen kurz danach im Tor der Katalanen den spanischen Klassiker gegen Real Madrid entschied – beim 1:2, schildert das Fachblatt „Kicker“, bekam er den Ball „durch die Hosenträger“ geschoben. Trotzdem sagt Neuer mit Blick aufs deutsche Tor über den Kollegen ter Stegen: „Ich denke, dass er aktuell die Nummer eins ist.“
Die Betonung liegt allerdings auf aktuell. Darüber hinaus ist nur eines sicher: Mit Manuel Neuer ist noch mal zu rechnen – falls er im Winter nicht wieder Ski fährt.